Geschrieben am 8. Dezember 2018 von für Litmag, News, Specials, Verlust-Special 2018, Verlust-Special DUE

Brigitte Helbling: „Why I Write“

Hippolyte Bayard Foto Getty Open Content

Sprachverlust 3 oder


„Why I Write“

 

Brigitte Helbling über Sprachverlust, Renitenz, Kulturwechsel, Englisch und „Hochdeutsch“ – und über die Lust des „writers“, Worte auf dem Papier herumzuschieben (Joan Didion).

 

Hin und wieder frage ich mich, ob ich auf Englisch schreiben sollte. Die potentielle Leserschaft wäre wesentlich größer, die schriftstellerische Konkurrenz allerdings auch. Und warum sollte ich mich nicht auf sie einlassen? Auf Englisch würde ich innovativ und mutig und unvergleichlich relevanter daherkommen als auf Deutsch, eine Sprache, die sich vor allem dazu eignet, Landschaften zu beschreiben. Und Innenräume. Und das wortreiche Hadern von Protagonisten.

Jedenfalls kam mir das lange so vor.

In der Eisenbahn lesen die meisten Menschen, wenn sie überhaupt lesen, Übersetzungen aus dem Englischen. Das gilt für die Gesamtheit der einsehbaren Lektüren von Menschen in der Öffentlichkeit. Manche lesen dann noch Hesse, Siddharta. Oder Das Glasperlenspiel.

Es überrascht nicht, dass Übersetzungen aus dem Englischen nach wie vor einen glatten Viertel der hiesigen Buchproduktion ausmachen.

Ich selbst habe eine Weile lang Romane aus dem Englischen übersetzt. Einer davon ist bis heute Kult[1], im eigentlichen Sinne des Wortes. Seit über 20 Jahren verbreitet sich seine Kunde im Flüsterraum des Leser*innen-Untergrunds, ohne dass er je in den Mainstream aufgestiegen wäre. Auf das englische Original stieß ich einst, weil ein Rezensent der New York Times geschrieben hatte, es handle sich um „trash for smart people“. Mich sprach das an. Wenn man sich schon die Mühe macht zu übersetzen, dann sollte man ausschließlich Bücher übersetzen, die einheimischen Autor*innen in 100 Jahren nicht eingefallen wären zu schreiben. Selbst der deutschsprachige Trash kam mir in dieser Zeit gestelzt und überambitioniert vor.

Lest und lernt, dachte ich auch.
Damit meinte ich aber vor allem mich.

Mein Plan war es nicht gewesen, Übersetzerin zu werden. Ich wollte in erster Linie mein Deutsch verbessern. Aus meinem Literaturstudium wusste ich, dass Schriftsteller*innen früher durch Übersetzen ihre Sprachkenntnisse erweitert hatten, und Deutsch war für mich eine Fremdsprache. Nicht nur, weil ich Schweizerin, sondern auch, weil ich in den USA aufgewachsen war. Als ich fünf Jahre alt war, zogen meine Eltern von der Schweiz an die amerikanische Ostküste. Englisch war meine erste Lese- und Schreibsprache. Und Englisch, vor allem aber Amerikanisch, bleibt die Sprache, die mich am meisten berührt. Mit Englisch, gerne auch aus der Musikanlage, kann man – konnte man – mich immer schon zu allem möglichen verführen.

Janis Joplin, eingegangen mit 27 Jahren an einem Übermaß an sex & drugs & rocknroll.
Singt Hymnen an die Freuden von sex & drugs & rocknroll.
Okay!
Das klingt nach einem Plan.
Wer geht schließlich mit 18 schon davon aus, irgendwann die 27 zu erreichen?

In den USA, erinnerte sich neulich meine Mutter, weigerte ich mich bald schon, Schweizerdeutsch zu sprechen. Beim Abendbrot redete ich Englisch, und wenn ich aufgefordert wurde, meinen Bericht in der Familiensprache fortzusetzen, zeigte ich mich verstockt. „Dann eben nicht“, soll ich gesagt haben.

Ich kenne dieses Kind nicht, von dem meine Mutter da erzählt. Ich ziehe vor ihm den Hut. Auf Fotos ist die kleine Widerstandskämpferin nicht zu finden, stattdessen ein schüchtern wirkendes blondes Mädchen, mit oder ohne Zöpfe, die Füße einwärts gedreht, den Kopf schiefgelegt und – „Lächeln!“ – lächelnd.

In dem Jahr, als ich elf wurde, kehrten wir in die Schweiz zurück. Wäre mir die englische Sprache das, was sie mir heute ist, wenn wir in den USA geblieben wären? Vor unserer Rückkehr war ich von Kopf bis Fuß eine Schweiz-Amerikanerin, a swiss american, und ich war auch ein writer, mit einer Ehrennennung in einem nationalen Schreibwettbewerb, wenngleich mir meine damaligen Schreibversuche allesamt misslungen vorkamen. Was hatte ich schon groß zu erzählen? Ich übte mich in Cowboy-Geschichten, mit Bleistift in ein liniertes Ringheft mit glänzend rotem Deckel geschrieben, Sonnenuntergänge über der Prärie, Kumpels hocken zusammen auf dem Dach einer Scheune, sperr mich nicht ein und so weiter. Selbst meine Eltern, schloss ich aus ihrem Desinteresse, fanden meine Bemühungen unerheblich.

Natürlich waren die Hymnen an die Freundschaft und das Leben als Junge – als Junge! – auf Englisch geschrieben, schließlich war ich ein writer in den USA, jedenfalls bis knapp vor meinem elften Geburtstag – und wie sollte das nun also weitergehen?

Es gibt den Begriff writer im Deutschen nicht, weder „Schriftsteller“ noch „Autor“ trifft ihn ganz, und „Schreiber“ klingt nach seinem Gegenteil, nämlich nach Bartleby, der ja lieber nicht wollte. Ein writer kann man sein, ohne je etwas veröffentlicht zu haben, vielleicht sogar, ohne je etwas veröffentlichen zu wollen. Was ist ein writer, fragt Joan Didion in ihrem Essay „Why I Write“[2]. Ihre Antwort: Jemand, die die aufregendsten Stunden ihres Leben damit zubringt, Worte auf dem Papier herumzuschieben.

Mit Sprache spielen, so übersetzte ich das für mich. Das will ein writer mehr als alles andere, und entsprechend richten sie oder er dann ihr weiteres Leben ein.

Und wer sagt denn, dass ein writer in der Sprache schreiben muss, die ihn am meisten berührt?

Eine andere Vorstellung. Was wäre gewesen, wenn ich – kleine Rebellin! – mich damals als Kind dagegen gewehrt hätte, dass Deutsch („Hochdeutsch“, wie die Deutschschweizer sagen, um klarzustellen, dass es nicht ihre Sprache ist) mein Englisch verdrängt? – Mein Kinderenglisch wäre mir erhalten geblieben, ich hätte es aufbewahrt in einem Schrein auf meinem Schreibtisch, ergänzt durch gelesenes Englisch, das Englisch der Filme, der Musik, des Austauschs mit den wenigen native speakern, die sich in meine Nähe verirrten…
Stehen blieben, rückwärts schauen…

Wäre das gegangen? (Nein, wäre es nicht.) Und hast du denn vergessen (nein, habe ich nicht) – was eben auch großartig war: dass damals eine Sprache dich als Kind – als Mensch – in den USA neu erfand, jenseits von Familie, Herkunft, „Muttersprache“; nur du und deine Worte, dein Lesen und Schreiben, dein Singsang-Reden in einem Ostküsten-Amerikanisch, das keiner in der Familie so beherrschte wie du?

Und war es nicht auch (ja, doch war mir das nicht klar) der Wunsch nach einer Wiederholung dieses Vorgangs, dieser Neuerfindung des Selbst in einer anderen Sprache, der dich viel später aus der Schweiz (und Herkunft, und Familie, und „Schweizerdeutsch“) nach Norddeutschland trieb – dorthin, wo (endlich wieder!) in einer einzigen Zunge gedacht, geträumt, geredet, gehört, gelesen – und geschrieben wurde?

Auf Deutsch schreibe ich von meiner Liebe zum Englischen, auf Deutsch denke ich darüber nach, warum ich kein english writer geworden bin. Auf Deutsch – Hochdeutsch! – umkreise ich den Verlust einer Sprache, die doch nur fünf Jahre lang mir, mir ganz allein gehörte. Fünf entscheidende Jahre – but still.
Auf Deutsch schreibe ich
„Ich“,
schreibe
„Ich“,
schreibe
„Ich“,
soviele „Ich“, die sich zu Wort melden, die lassen sich irgendwann nur schwer noch umtopfen, in eine nächste Sprache, eine nächste Kultur. Kaum ein „Schriftsteller“ floriert im Exil. Joan Didion wiederum ersetzt in ihrem Essay die Frage des „Why I write“ schon bald durch die weit langweiligere Frage des „How I write“. Der Anfang ihres Textes enthält aber im Grunde schon alles, was es zu dem Thema zu sagen gibt:

Of course I stole the title for this talk, from George Orwell. One reason I stole it was that I like the sound of the words: Why I Write. There you have three short unambiguous words that share a sound, and the sound they share is this:
I
I
I.

 

[1] Nämlich „Boy Wonder“ von James Robert Baker.

[2] Joan Didions Essay „Why I Write“ erschien 1976 in der New York Times Book Review. Der Text ist die Bearbeitung eines Vortrags an der University of California in Berkeley.

 

 

Brigitte Helbling ist CulturMag-Mitarbeiterin und Autorin und schreibt seit einigen Jahren eine ganze Menge für Theater. Ihre Zwingli Roadshow (mitkonzipiert / inszeniert von Niklaus Helbling) läuft seit Mitte September 2018 am Theater Kanton Zürich, seit November ist im Staatstheater Mainz ihre Bearbeitung von Pünktchen und Anton zu sehen. Ebenfalls in Mainz spielt noch bis Ende Jahr Musketiere! (mit Niklaus Helbling). 2018 erhielt sie von der Stadt Hamburg einen Förderpreis für Literatur. „Sprachverlust 3“ ist eine Überarbeitung des ursprünglichen Essays für das Verlust-Special, „Sprachverlust 2“.

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