
Caroline Elias: Es ist nicht ansteckend!
Die Frau kauert mit einem Dutzend Plastiktüten am südlichen Ende des Kottbusser Damms. Eisiger Wind pfeift. Sie sitzt auf dem Bürgersteig und hält einen dampfenden Kaffeepott in den Händen, den ihr ein Mann gereicht hat. Er versucht, trotz Rush hour mit ihr ins Gespräch zu kommen. Nach einem kurzen Wortwechsel wird sie laut, schimpft und schreit. Passanten bleiben stehen. Der Mann geht weiter, als wollte er nicht mit ihr in Verbindung gebracht werden. Dann kehrt er zurück, möchte das Gespräch fortsetzen. Sie aber pfeffert ihm den leeren Porzellanbecher vom Café nebenan an den Kopf. Sie verfehlt ihr Ziel. Scherben fliegen, sie lacht.
Anwohner kennen das verhuschte Gesicht dieser nicht mehr ganz jungen Obdachlosen. Sie sieht aus, als würde sie nur mit ihrem Großeinkauf auf das Auto warten, das sie abholt. Daher wird sie relativ oft angesprochen. An ihren guten Tagen sucht sie selbst Kontakt. „Gut, dass du schon eine Mütze aufhast“, sagt sie einmal zu mir, als ich im Frühherbst an ihr vorbeikomme. „Da können sie dich mit ihren Strahlen nicht erreichen. Die Moslems sind klug, da tragen alle Frauen was auf dem Kopf. Mit den Strahlen wollen sie uns fernsteuern. Das wissen nur wenige. Verrate mich nicht. Sag niemandem, dass ich es weiß!“
Ich nicke, schenke ihr Obst und ein belegtes Brötchen, was sie gerne annimmt. Dann eile ich weiter. Ich bin von der Situation überfordert.
Als der Winter 2018 Berlin zweistellige Minusgrade beschert, wollen viele Nachbarn ihr helfen. Ein Imbiss bietet seinen Gastraum als Aufenthaltsort an, der Wärmebus möchte sie in eine Notunterkunft bringen, das Café spendet Heißgetränke. Die Frau vom Kräuterladen berichtet, wer ihr noch alles Hilfe zuteil lassen wollte. Keiner hatte Erfolg damit. Die Frau will am Straßenrand bleiben. Wir stehen zu fünft im Verkaufsraum dieses Ladens, die Verkäuferin und vier Kunden. Unsere verstohlenen Blicke gehen raus zu der Person, die auch hier alle überfordert. Keiner von uns hat eine Sprache für das, was wir erleben. Einer sagt, dass auch Gestörte ein Recht hätten, über ihren Aufenthaltsort selbst zu entscheiden. Ich frage, ob das auch dann sein darf, wenn jemand infolge einer seelischen Erkrankung die Folgen nicht abschätzen kann. Und dann schweigen wir, finden keine Worte oder Antworten auf das, was wir erleben, kennen nicht einmal die richtigen Fragen.
Die Hilflosigkeit, die ich hier zum ersten Mal in meinem Leben kollektiv erlebt habe, ist die Hilflosigkeit, die wir sonst einzeln erfahren, wenn es um psychische Erkrankungen geht. Auch diese Sprachlosigkeit hat jeder schon mal erlebt, genauso wie falsche Töne. Ich höre mich in meinem Umfeld um. Nicht jeder direkt oder indirekt Betroffene möchte sich zu diesem Thema äußern, 20 Anfragen führten zu sechs längeren Gesprächen.
Pia* war Hochschullehrerin. Die Münchenerin nutzt derzeit ein Erbe, um ihren beruflichen Neustart mit 50 vorzubereiten. Sie sagt, dass die Psychose, an der sie etliche Jahre gelitten hat, heute hinter ihr läge, was sie mit hormonellen Veränderungen in Verbindung bringt. Sie kritisiert vor allem das fehlende Zuhören ihrer Mitmenschen: „Typisch sind rhetorische Fragen. Bevor ich meine krankheitsbedingt vergrößerten Anlaufschwierigkeiten überwunden habe, kommt bestenfalls ein wohlmeinendes ‚Das geht wieder vorbei!‘ Oder das andere Extrem: ‚Stell dich nicht so an!‘ Das habe ich von meiner Mutter oft gehört. Dazwischen liegen viele Nuancen. Was solche Äußerungen verbindet, ist eine Verweigerung, sich auf das Gegenüber wirklich einzulassen.“
Die Gesellschaft geht mit sichtbaren und vorübergehenden Krankheiten anders um als mit unsichtbaren Einschränkungen von unbekannter Dauer, weil sie Angst machen, weil sie kaum bekannt sind.
„Eine Mitschülerin war zur gleichen Zeit im Krankenhaus wie meine Schwester“, erzählt Tom*, Anfang 40, aus Köln, Produktionsleiter beim Film. „Sie hatte sich ein Bein gebrochen. Damals gab es noch echte, weiße Gipse. Sie bekam viel Besuch. Nach zwei Tagen war der Gips komplett bunt, kaum noch ein weißes Fleckchen zu sehen. Nach meiner Zwillingsschwester Julie*, die zur gleichen Zeit in der Psychiatrie lag, haben nur zwei Leute gefragt, ganz vorsichtig, wie mit vorgehaltener Hand. Einer davon war unser Lehrer, der musste von Berufs wegen fragen.“
Was Tom beschreibt, ist mehr als zwei Jahrzehnte her. Natürlich hat die Medizin seither große Fortschritte gemacht: Körperteile werden nicht mehr durch Gipsverbände stillgelegt, unter denen es juckt und sich Schmutz sammelt. Es gibt Kunststoffschienen mit Klettverschlüssen, die „Cast-Verbände“. Nur im Bereich der seelischen Erkrankungen hat sich auf den ersten Blick nichts verändert. „Melancholie“, „Alp auf der Seele“, „Traurigkeit“, „eine schwierige Episode“ – es gibt mehr Umschreibungen diffuser Zustände als wirkliche Neuerungen im Kampf gegen diese Volksleiden. Paradoxerweise zählen seelische Erkrankungen zu den letzten Tabus unserer vermeintlich so weit entwickelten Gesellschaft.
Familienangehörigen macht diese Sprachlosigkeit zu schaffen, die oft direkt in die Isolation führt. Jürgen*, Berliner Ingenieur im Ruhestand: „Mein Lebensgefährte hatte eine attestierte reaktive Depression nach Jobverlust und Umzug. Dass er manisch-depressiv war, hat sich erst Jahre später herausgestellt. Damals hatte ich ständig Angst um ihn. Ich war gerade mit dem Studium fertig, musste viel reisen für den ersten Job. Dann sind wir lehrbuchmäßig gescheitert. Ich habe mich immer mehr auf die Sorgen und Befindlichkeiten meines Partners eingelassen, versucht, es ihm recht zu machen, damit er wieder gesund wird. Unser soziales Umfeld bestand am Ende nur noch aus zwei Menschen, darunter war niemand, der uns vor diesen „Zuständen“ gekannt hatte, der ein Regulativ hätte sein können. Ich habe meine beruflichen Pflichten vernachlässigt. Irgendwann saßen wir beide zuhause rum, er mit seinem Leiden, ich auf Jobsuche. Wir waren längst in einer Koabhängigkeit gelandet, denn sein Verhalten entsprach genau dem, was ich von meiner neurotischen Mutter kannte, einer Kriegswitwe.“
In der Nachkriegszeit waren Wiederaufbau und Schuldverdrängung in beiden Deutschlands die zwei Seiten ein- und derselben Medaille. Fast so, als hätten die Nazis den Krieg gewonnen, wurden psychologische und psychotherapeutische Ansätze und Erkenntnisse der deutschsprachigen Fachleute nie wirklich Gemeingut. Sogar linke Intellektuelle versuchten, sich kalauernd aus dem Dilemma zu retten: „Psychoanalyse ist jene Geisteskrankheit, für deren Therapie sie sich hält.“ (Karl Kraus)
Andere deutschsprachige Länder kennen das Phänomen auch. Corinne*, Ende 30, Grundschullehrerin und derzeit Hausfrau, hat das in der Schweiz erlebt: „Mein Onkel Knut, der unverheiratete Bruder meiner Mutter, der unten im Haus wohnte, hatte immer wieder spontane Wutausbrüche. Dann riss er alle Sachen aus dem Schrank, schimpfte laut und rannte mit der Säge in den Wald. Später hörten wir ihn Holz hacken. Er hat richtig getobt. Von einer dieser Austobetouren ist er nicht mehr zurückgekommen. Der Förster fand ihn Tage später im Wald. Er hatte sich erhängt, er wurde gerade mal 53 Jahre alt. Förster und Waldarbeiter wurden zu Stillschweigen verdonnert, der Familie wegen, wir auch. In der besseren Gesellschaft des Städtchens durfte es sowas nicht geben. Ein Vierteljahrhundert später stehen wir am Grab eines Cousins, der auch mit Anfang 50 starb. Wir fingen an, durchzuzählen, und stellen fest, dass es über etliche Generationen hinweg mehr als die Hälfte der Männer ‚erwischt‘ hatte. Offiziell sind die Herren am Herzinfarkt gestorben, bei einem Autounfall oder an der Grippe. Ein befragte Genetiker hält es für sehr wahrscheinlich, dass diese Häufungen mit Inzestfällen im Heimatort zusammenhängen, die sich vor vielen Generationen ereignet haben, das säße auf dem Y-Chromosom. Als mein Schwager diese Nachricht überbringt, sitzen wir am Fenster und schauen raus auf die Kinder im Sandkasten: drei Mädchen und fünf Buben. Und ich habe mich für die Erleichterung geschämt, eine Tochter zu haben. Zweiter Gedanke: Ob ich jemals Oma werde? Erst dann hab ich mich in die anderen hineinversetzt.“ Später fasst Corinne zusammen: „Das ist jetzt einige Jahre her. Heute weiß ich, dass Empathie in unserer Sippe nicht gerade großgeschrieben wurde. Und das hängt alles zusammen.“
Zurück nach Deutschland. Die Endvierzigerin Svenja*, sie lebt mit Eseln im Berliner Umland, ist hochgradig empathisch, ist es schon immer gewesen, hypersensibel und hat deshalb Mühen, sich in einer Welt mit rauen Umgangsformen zurechtzufinden. Svenja arbeitet von zuhause aus als Lektorin, alle Abläufe erfolgen digital. Die Freundin von Freunden kennt mich nur über Facebook. Wir haben durch Chats und Telefon einen Grad der Verbundenheit erreicht, der mich jedes Mal aufs Neue überrascht. „Hochsensible und Depressive wie ich“, sagt sie eines Morgens um zwei, „können heute dank der Technik viel besser am Leben teilnehmen als den Jahrzehnten davor. Wir können uns allein durch unsere Arbeit beweisen und wir werden nicht ständig an der sozialen DIN-Latte gemessen.“ Wir telefonieren grundsätzlich nur spät in der Nacht, fünf- bis sechsmal im Jahr, meistens in Zeiten, in denen ich spät arbeite. Im Schutz einer gewissen Anonymität kann sie ihre Ängste vor den kleinsten Dingen formulieren, die sie selbst als irrational einstuft. Svenja: „Ich erinnere mich gut an die Zeit vor dem Internet, dem Beginn meines Andersseins. Es war, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Freunde haben sich abgewandt, denn ihnen fiel natürlich auf, dass mein Themenkreis außerhalb der Arbeit immer kleiner wurde, ja sich langsam zugezogen hat wie eine Schlinge. Das Internet hat sich später als Chance herausgestellt, weil ich mit Unterbrechungen weiterarbeiten konnte – und weil ich dort Menschen treffe, denen es ähnlich geht wie mir.“
Neben Selbsthilfe- und Newsgruppen der Betroffenen gibt es im Netz auch solche für Angehörige. Das Gesundheitssystem bietet seit seit längerem Begleitangebote für Familienangehörige an, nur kommt der Informationsaustausch darüber im hektischen Krankenhausalltag oft unter die Räder, wie mir wiederholt berichtet wird. Dabei ist Austausch auch hier das A und O. Sogar Fachleute vergessen oft, miteinander zu kommunizieren; eine Telefonkonferenz der bei der Leidenstour durch die Krankenhäuser und Praxen behandelnden Ärzte wird, Datenschutz oblige!, erst auf Anfragen der Patienten anberaumt und gehört nicht zum grundlegenden Repertoire der Diagnostik. Schon auf ein- und derselben Station ist die Kommunikation nicht ungehindert. Jochen*, Mitte 60, als Arzt lange in einem Leipziger Krankenhaus tätig: „Die Verwaltung nötigt uns aus Buchhaltungsgründen, mehr Zeit für die Dokumentation der Arbeit zu verbringen, als uns wir uns im Team über sie austauschen können. Der Zeitmangel geht auf Kosten der Kranken und ihres Umfelds.“
Das Tabu seelischer Erkrankungen hat viele Facetten, sogar diese, dass in Kreisen der Gesundheitsverwaltung die Arbeit mit ihnen unterschätzt wird. Das hat drastische Folgen. Viele der Kriegsflüchtlinge, die letzter Zeit zu uns gekommen sind, leiden unter posttraumatischen Belastungsstörungen. In den ersten Jahren wurde diesen Menschen Hilfe außerhalb einer stationären Betreuung systematisch verweigert (außer in Extremfällen bzw. nach langer Wartezeit). Ist das der späte Sadismus einer Gesellschaft, die davon ausgeht, dass die deutsche Bevölkerung ihre Traumata des Zweiten Weltkriegs ja auch alleine überwunden hätte?
Jeder Mensch erlebt im Laufe seines Lebens mindestens eine ernsthafte Episode seelischer Beeinträchtigung, ein Drittel aller Bundesdeutschen gilt als psychisch krank. Die medizinische Versorgung ist alles andere als ausreichend. Die Menge therapeutischer Angebote wächst indes stark an, allerdings unter Namen wie „Coaching“ oder „Lebensberatung“. Ein Tabu wird verdrängt, indem man Befindlichkeiten und die notwendigen Begleitungskonzepte einfach umbenennt.
Verdrängung wird oft nicht einmal mehr wahrgenommen. Zeitschriftencover wie das der Modezeitschrift „Hunger“ vom Mai 2018 zeigen auf die Knochen abgemagerte junge Frauen, eine Form der „Anorexiawerbung“, der manche Modestädte wie Paris immerhin schon eine Mindestzahl des Body-Mass-Index entgegensetzen. Andernorts schlägt Verdrängung um in andere Zustände voller Aggression. Der vorläufige Kulminationspunkt dieser Entwicklung, die geplante Kriminalisierung psychisch Kranker in Bayern, kann eigentlich nur in diese Richtung interpretiert werden.
Am Ende aller Gespräche höre ich regelmäßig Appelle die in die gleiche Richtung gehen. Zusammengefasst lauten sie: Schaut nicht weg, stellt Fragen, lasst uns aussprechen, bewertet nicht, stellt euch eurer Unsicherheit!
Bei meinen Recherchen habe ich keine Statistik darüber gefunden, wie hoch der Prozentsatz der seelisch Erkrankten unter den Menschen ist, die von Hartz IV-Ämtern mit Sanktionen belegt werden, die im schlimmsten Fall zu Wohnungsverlust führen. Wie werden Krankheiten grundsätzlich bei diesen Ämtern erfasst? Ich warte noch immer auf eine offizielle Stellungnahme der Behörde. Für das Ausgangsproblem, wie wir uns gegenüber der Frau vom Kottbusser Damm bei minus 10 Grad verhalten sollten, habe ich keine Antwort gefunden, nur noch mehr Fragen.
* Namen geändert
Caroline Elias, Berlin mit Zweitwohnsitz Paris, hat schon als Kind Wörter gesammelt wie andere Spielzeug. So kam sie über den Journalismus und die Zwischenstation Freie Hochschullehre zum Konferenzdolmetschen. Heute schreibt an ihrem 2. Kinderbuch und bloggt seit 2007 über Spracharbeit und Sprache unter dem Motto „Übersetzen ist Handwerk, Dolmetschen ist Mundwerk“.
http://dolmetscher-berlin.blogspot.fr
http://www.eureo.fr/de/dienstleister/caroline-elias
https://www.bdue-fachverlag.de/download/mdue/680 [PDF-Link zu Dolmetschen im Filmbereich]