Geschrieben am 1. August 2017 von für Litmag, News, SEXMAG, Specials

Christina Mohr: Growing up with Sex & Pop

Sherin - Christina MohrGrowing up with Sex & Pop

Das Kind, es ist siebeneinhalb, hat ein neues Lieblingslied: „Augenbling“ von Seeed musste auf einer Geburtstagsparty als Stopptanzmusik herhalten und läuft seitdem zuhause in heavy rotation. Der Text wird eifrig mitgesungen, wirft aber Fragen auf: Warum wird der Typ denn dick, Mama?, will das Kind wissen.

Es geht um folgende Zeile: „Du bist schön / ich geh der Sache auf den Grund / und dein Bauch wird rund.“ Ich antworte, „naja, der Sänger ist verliebt – und jetzt ist die Frau schwanger, sie kriegt ein Baby. Deshalb kaufen die Leute im Video auch ein Kinderfahrrad.“ Die Augen des eigenen Kindes werden ebenfalls kugelrund: „WAAAS? VERLIEBT? IGITT! HABEN DIE SEX GEMACHT??“ Der Schock der Erkenntnis sitzt tief und ich vergrößere ihn noch durch die Behauptung, dass ungefähr beinah fast alle Lieder im Radio von Liebe handeln. Und ähm, Sex. Darüber reden wir aber ein anderes Mal genauer, jetzt bitte Licht aus und schlafen!

Vielleicht habe ich ein bisschen übertrieben – andererseits bin ich mir sicher, dass selbst in „Autobahn“ von Kraftwerk eine erotische Botschaft versteckt ist.

Denn dass es im Pop häufig um das Eine geht, schwante mir schon früh – natürlich ohne konkrete Manifestation des sagenumwobenen, mysteriösen Einen.

Es muss Ende der Siebziger gewesen sein, als sich „Kiss You All Over“ vom One-Hit-Wonder Exile in meinen kindlichen Ohren festsetzte. „Kiss“ heißt Kuss, das wusste ich schon. Aber was bedeutete „all over“? Meine Mutter schlingerte ein wenig und sagte dann etwas Ähnliches wie ich kürzlich zu ihrem Enkel: „Der Sänger ist verliebt – und will seine Freundin eben überall küssen.“ Überall? Auch an den Armen? An den Beinen? Auch UNTEN? Meine Mutter wechselte das Thema, ich blieb dran, jedoch ohne sie weiter zu befragen. Die – zugegeben rätselhaften – Infos kamen nämlich wie von selbst, durch die Radio- und Fernsehwellen! Drastischer, dabei sprachlich ziemlich hässlich ging es in „Dschinghis Khan“, ebenfalls ein Hit meiner Kindertage, zu: „Er zeugte sieben Kinder in einer Nacht, hohohoho!“ – das war grob und hatte kaum etwas mit dem sanft-verführerischen „Kiss You All Over“ zu tun, schien mir aber doch thematisch verwandt zu sein.

Nun, da ich mit dem Pop-Virus infiziert war, überschlugen sich die Hör-Ereignisse: Mein damaliges Spektrum reichte von Dean Martins „The Birds and the Bees“ bis zu „Sex Machine“ von James Brown, und tja, damit war wohl alles klar – oder? Was eine Sexmaschine so zu tun hat außer eindrucksvoll zu schreien und zu tanzen, war noch enigmatisch. Irgendwas, das den Körper sehr beansprucht, offensichtlich.

Den Vögel-Song schlechthin, „Je t’aime (moi non plus)“ von Serge Gainsbourg und Jane Birkin lernte ich erst später kennen. Musikalisch fand ich das Stück nicht sehr aufregend, eigentlich total langweilig, und Birkins Gestöhne und Gehauche berührte mich eher peinlich. Dass es Musik gibt, die zum Liebemachen anregen soll, fand ich dagegen sehr interessant: Menschen meiner Generation und älter werden sich an den Film „10 – Die Traumfrau“ mit der bezopften Bo Derek erinnern. In diesem Film spielte der „Bolero“ von Maurice Ravel eine wesentliche Rolle – und enterte als erster Klassik-Hit meine unschuldige kleine Popwelt.

Okay, verstanden: did-di-di-diiiii, di-di-di-di-di-di-dit-di-di-diiii… beim Sex ging es also um Beharrlichkeit und Wiederholung, noch mal und noch mal und noch mal…ahhh!

Einige Sommer später war ich dann im Bilde, mit klassischer Musik kam ich Anfang der Achtziger allerdings höchstens in der Schule in Berührung. Marvin Gayes „Sexual Healing“ mitzusingen war ein gutes Training gegen Schamhaftigkeit – schließlich konnte man ja nichts dafür, dass das Wort Sex im Titel vorkam, hihi. Trotz oder wegen expliziter Lyrics landete Marvin Gaye ganz oben in den Charts, was dem für mich aus verschiedenen Gründen sehr wichtigen Album „20 schäumende Stimmungshits – ein Vollrausch in Stereo“ nicht vergönnt war. Auf diesem Sampler befanden sich verschiedene deutsche Punkbands, unter anderem die noch sehr jungen Die Ärzte mit „Zitroneneis“ und „Zum Bäcker“ und, ich bitte um Korrektur, denn hier verschwimmt meine Erinnerung, einem mit großer Dringlichkeit vorgetragenen Stück von der Panzerknacker AG (?) namens „Liebesrausch“, dessen Text so ging: „Baby willst du mich, mich und meinen Schwanz? Baby willst du mich, tanz den Ententanz“. Wie gesagt, ich erinnere mich nicht mehr genau, die Platte ist längst verschwunden, und das Internet beantwortet meine Textanfrage nur sehr erratisch: Ententanz, Frank Zander, Wenn wir alle Englein wären – vielen Dank auch.

Mit dem Wort Schwanz – wer auch immer es herausgrölte – wurde eine neue Stufe meiner Sex- und Pop-Initiationsrakete gezündet. Sex war trotz Omnipräsenz immer noch ein relativ abstrakter Begriff, Schwanz war real. Realer, als ich es aushalten konnte: Schwanz hätte ich mit vierzehn niemals laut ausgesprochen, Sex dagegen, pffh, wirst du etwa rot, du Baby?

Doch die achtziger Jahre ließen genanten keine Zeit zum Abkühlen: Höchstens meine Oma kapierte nicht, warum es in Frankie Goes to Hollywoods „Relax“ ständig plätschert und knallt, und als Billy Idol zu „Flesh for Fantasy“ sabbernd über die Bühne robbte, war es auch um die Fassung der bravsten Pfarrerstochter geschehen.

Billy Idol konnte ja leider nicht überall sein: Dass man Sex auch mit sich alleine haben konnte, war allen einsamen Jugendlichen bekannt; darüber zu singen, bedurfte noch mehr Mutes als „Ficken Bumsen Blasen“ („Hofgarten“ von den Toten Hosen) mitzusingen, vor allem, weil dabei garantiert größere Mengen Dosenbier mit von der Partie waren. Und auch, wenn es gerüchteweise heißt, dass Idols „Dancing with Myself“ von Masturbation handelt, brauchte es eine furchtlose Frau, um das Thema offen auf den Tisch resp. in die Hitparaden zu bringen: Cyndi Lauper leistete mit „She Bop“ mehr Aufklärungsarbeit als es die Biolehrer je vermochten – und gab ein plausibleres Role Model ab als ihre damalige Konkurrentin Madonna, die mit „Like a Virgin“ zwar die Fantasien von Lehrern und Schülern gleichermaßen bediente, sich aus der Lolita-Nummer aber erst Jahre später mit ihrem Buch „Sex“ und dem Album „Erotica“ befreien konnte. Zeitgleich mit Madonna und Cyndi Lauper versuchte sich auch die New Yorker Undergroundkünstlerin Cristina Monet als Superstar und scheiterte – bedauerlicherweise, aber ihre subtile Weise über Sex zu singen, traf wohl nicht den Nerv der Zeit. Persönlich fand ich Zeilen wie „my sheets are stained / so is my brain“ (aus „What’s a Girl to do?“) höchst spannend – weil man eben eine Sekunde darüber nachdenken musste, was gemeint ist.

Andere waren in den späten Achtzigern und frühen Neunzigern offener zugange, nicht zuletzt wegen AIDS und der schieren Notwendigkeit, Sex zu thematisieren: George Michael redete mit „I want your Sex“ nicht um den heißen Brei herum; Salt ‚n‘ Pepa rappten fröhlich, „Let’s talk about Sex“ – weil, „… it keeps comin‘ up anyhow!“

Auf Deutsch fiel solche Klarheit ungleich schwerer: Jochen Distelmeyer sang verzagt, „lass uns nicht von Sex reden / ich weiß gar nicht, wie das gehen soll“ – ein verkopfter Kontrast zu beispielsweise den Yeastie Girlz, die in „You Suck“ Gleichberechtigung im Bett forderten: „You say you want things to be even and you want things to be fair / but you’re afraid to get your teeth caught in my pubic hair“; und Supergitarristin Sylvia Juncosa forderte gar, „Lick my Pussy, Eddie van Halen“!

Blumfeld und die Yeastie Girlz waren so die musikalisch-/textlichen Pole, zwischen denen ich anno 1992 pendelte, und ähnlich kontrapunktisch ging es auch im echten Leben zu. Doch davon wollen wir hier nicht reden, ich weiß ja gar nicht, wie das gehen soll.

Mitte der Neunziger war ich zum Glück aus dem Gröbsten raus und konnte über Zotiges wie „I’m Horny“ von Mousse T. & Hot’n’Juice oder 20 Fingers‘ „Lick It“ huldvoll hinwegsehen – interessanterweise beides deutsche Produktionen, wie auch Mousse T’s arschbombenhafte Zusammenarbeit mit Tom Jones namens „Sex Bomb“, sozusagen die geschmacklose Gegenbewegung zu Blumfeld, die das Reden über Sex zum Ballermann-Thema degradierte.
Spannend wurde es für mich erst wieder mit Missy Elliott, die mit „One Minute Man“ männlichen Größenwahnsinn gnadenlos in den Staub trat. Peaches, ihre Schwester im Geiste, kehrte die Geschlechterrollen mit „Fatherfucker“ und „Fuck the Pain Away“ um und ebnete dem modernen Popfeminismus den Weg: Frauen mit Bärten und überhaupt viel Behaarung – dank Peaches kein Problem (mehr).

Also, ganz schön viel gelernt in den vergangenen vierzig Jahren, könnte man meinen. Aber wie erkläre ich dem Sohn, wer „Pussy Galore“ aus „Waste my Time“ von Seeed ist?

Christina Mohr


Christina Mohr
verdient Brötchen und Miete beim Campus Verlag in 
Frankfurt. Nach Feierabend rezensiert sie Platten und Bücher, gerne fürs culturmag, aber auch für andere Websites und
Magazine.

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