Das Bäckerinnen-Orakel
– Stefan Beuse berichtet von den Erhabenheiten und Fallstricken der Welt. Diesmal: Kindheit, das transparente Band am Anfang der Kassette.
Als das Kind Kind war, ging es, den Blick auf dem Boden, mit hängendem Kopf zur Schule, mochte sein Pausenbot nicht und trank Sunkist aus rauen Pappschachteln. Als das Kind Kind war, war es die Zeit der folgenden Fragen: Liebt mich Kerstin Zwirner oder tut sie es nicht? Warum bin ich hier und warum nicht bei ihr? Wie kann es sein, dass ich, der ich bin, bevor ich wurde, nicht war – und dass einmal ich, der ich bin, nicht mehr sein werde, der ich bin? Als das Kind Kind war, würgte es am Leberwurstbrot, wusste genau, dass es Kind war, weil es sonst seinen Teller nicht leer essen und um acht nicht ins Bett müsste, sondern fernsehen und Dinge tun dürfte, die es nicht sah, weil es im Bett lag. Als das Kind Kind war, spielte es Schicksal mit den Fugen zwischen Gehwegplatten. Jeder Schritt auf die Fugen war verboten. Wenn ich es schaffe, bis zur Ampel, dachte es: dann. Und weiter noch, zur Schule: dann. Und wenn die Ampel jetzt nicht grün wird und das Auto jetzt nicht anspringt, wenn die Glocke jetzt nicht läutet und das Käsebrot nicht Wurst ist, wenn die Kassette jetzt nicht losgeht: bis drei. Denn das Kind zählte immer bis drei.
Als das Kind Kind war, sah es das transparente Band am Anfang der Kassette und wusste genau, wie lang es war, denn es hatte seinen Zeigefinger in das gezahnte Loch der Kassette gesteckt und gedreht, hatte Zentimeter in Sekunden übersetzt und gemessen daran das Schicksal. Als das Kind Kind war, gab es mehr als fünf Freunde, waren Bibi und Tina und die mit dem Pferd und dem Affen. Als das Kind Kind war, war es verliebt in Annika von Tommi und Annika. Es dachte nicht nach, ob Kerstin Zwirner es wert war, weil alles wert war, und so ist es immer noch. Als das Kind Kind war, starb Kerstin nach zwei und drei Zehntel Sekunden.
Als das Kind Kinder hatte, hatten CDs kein Vorlaufband. Pippi Langstrumpf hieß Conni und war so brav, dass sie eine Schleife im Haar trug. Die Kinder lachten nicht, wenn das Lied von Conni umgedichtet wurde. Die Kinder sagten, sing nicht Scheiße, es heißt Schleife. Als das Kind plötzlich Kinder hatte, begriffen diese nichts von Subversion.
Als das Kind Kinder hatte, spielte es nicht mehr Schicksal mit Gehwegplatten oder dem Anfang von Märchenkassetten. Nur noch mit der Abfolge der Bäckerfrauen. Denn es gab vier Verkäuferinnen für die Schlange vor der Theke, und die Schlange wand sich bis draußen zur Ecke. Und das Kind sah: Eine der Bäckerfrauen war gold. Die anderen die leeren Kammern beim Russisch Roulette. Kriegst du die Gute, dachte das Kind, trifft dich das Licht, drehte die Trommel und zählte bis drei.
Die komplizierte Arithmetik von Bewegungsabläufen. Die Unwägbarkeit einer Kunde-Verkäufer-Zuordnung. Ach, und die Zeitung dazu, ist das Ihre? Croissants sind hinten, Moment, ich brauch ja noch Kuchen. Haben Sie’s nicht kleiner, und Luise, bist du in der Kasse? Backstuben-Ballett. Wer wollte einen Tanz berechnen? Und kleiner hab ich’s nie gehabt. Stehen, warten, lächeln. Am Ende hat jeder seine Brötchentüte. Gemischt. Die Weisheit eines populärwissenschaftlichen Sachbuchs. Das Bäckerinnen-Orakel. Dann trifft dich der Schlag. Die goldene Kugel ein Strahl aus Licht.
Als das Kind Kind war, war es um keinen Übergang verlegen. War die Welt ein Selbstbedienungsladen, aus dem jeder nahm, was ihm gefiel. Das Lächeln von Peter Handke. Als das Kind Kind war, warf es einen Stock als Lanze gegen den Baum. Und sie zittert da heute noch.
Stefan Beuse
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