
Dichtung im Freien
Glosse von Ludwig Fischer
Schriftsteller können bei jedem Wetter schreiben. Wer dichtet denn noch im Freien? Im geschädigten Wald etwa, unter einer halb entlaubten Buche sitzend, das zerknitterte Papier auf den Knien mit krakeligen Buchstaben versehend. Oder beim Gehen, auf den bunt markierten Spazierwegen durchs Ländliche, zwischen Getreideschlägen, denen man die versprühten Wuchshemmer ansieht. Wer ausschreitend dichten wollte, müsste ja zudem ein regelrecht lebendiges Gedächtnis sein eigen nennen. Nein, unter freien Himmel entsteht keine Literatur, von der zu reden sich lohnte. Mag sein, dass irgendein deutscher Autor, der vor der Unbill unserer gewendeten Republik in die milde Luft der Toscana entwichen ist, dort an einem abgenutzten Bauerntisch auf der Terrasse eine Zeile unter die andere fügt, den Blick immer wieder übers Tal auf die entfernten Weinberge hebend. Aber nur bei verlässlich trockenem, sanftwindigen Wetter, versteht sich. Solch eine Schreibstätte wäre, wie wir wissen, trotz allem noch die Ausnahme. Zu vernachlässigen für die Frage, wo unsere Schriftsteller schreiben.
Im Freien jedenfalls nicht. Wer noch die Buchstaben mit dem Schreibwerkzeug zwischen den Fingerspitzen aufs Papier formt, vielleicht gar nach Altvätersitte aus Tintenlinien die Buchstaben bindet, dem müsste ja jeder Regenschauer zu einer Bedrohung des Werks heranwehen. Jeder Windstoß brächte die Inspiration durcheinander, weil der Autor die losen Blätter oder die Seiten des Schreibhefts festhalten muss. Ungetrübte Sonnenhelle hätte für manch einen, dessen Texte sehr langsam und lange wachsen, auch ihre abträglichen Folgen: Das Papier würde vergilben zwischen den Arbeitsschüben – es soll vor nicht langer Zeit einen gegeben haben, der fand erst nach vielen Jahren die zweite Strophe zu einem begonnenen Gedicht. Wie hätte sich dessen Manuskriptsblatt ausgenommen, wäre außer Haus zu schreiben die Regel gewesen.
Und dann erst der Winter, in unseren Breiten! Da hocken sie, mit Pelzen und Decken beschichtet, vor dem Weiß des Papiers, das sich deutlich als helleres Viereck von dem angeschmutzt niedergesunkenen Schnee abhöbe. Kugelschreiber und Filzstift stünden nicht mehr zu Gebot, sie sind für Linienführung bei schärferem Frost nicht konstruiert. Und alle Dichter müssten sich kurz fassen, weil bei der Kälte nur wenige Wörter auf einmal mit dem Bleistift hingeschrieben werden könnten, dann kröchen die erstarrenden Finger wieder zwischen die aufwärmenden Stoffschichten.
Fürchterliche Vorstellungen. Aber unsere Schriftsteller können bei jedem Wetter schreiben. Ein trockenes Zimmer, sommers wie winters temperiert, Tisch und Stuhl sind das mindeste an Produktionsmitteln, von Papier und Schreibgerät abgesehen. Ob es draußen hagelt oder blitzt, Stein und Bein friert oder vor feuchter Hitze trieft, ob Nebel das Fenster zur Mattscheibe macht oder die finsterste Nacht das Haus umstellt – dichten kann immer, wer dichten kann. Auf Phantasiekraft, Erzählvermögen, Formulierkunst mögen die Schriftstellerinnen und Schriftsteller angewiesen sein, auf Tages- und Jahreszeiten, Wind und Wetter sind sie es nicht.
Warum sollten sie auch, könnte da einer fragen. Wir leben doch nicht mehr in der Steinzeit, und selbst damals krochen sie in Höhlen und malten dort bei Feuerschein Figuren auf die Wände. Wer verschwendet denn einen Gedanken darauf, regenfestes Papier herzustellen, damit die Autoren, im Freien fabulierend, nicht beim ersten Tropfen schon mit ihren Einfällen die Flucht ergreifen müssen.
So habe ich auch gedacht, bis ich jetzt die Prospekte der neuen, wasserdichten und wetterfesten Tablets, Smartphones, ja Laptops ins Haus geschickt bekam. Dünne, leichte, schlagsichere Geräte, mit denen man überall auch außerhalb der vier Wände seine Texte aus den Zeichen aufrufen kann. Batteriegetriebene kleine Wunderwerke, die zumindest in den gemäßigten Zonen jeden Verfasser ganz und gar unabhängig vom festen, warmen, trockenen Arbeitsplatz machen.
Welche Aussichten! Schriftsteller können nun vor Ort ihre Wortarbeit tun, wenn im neuen Roman die Obdachlosen zu literarischen Figuren avancieren oder wenn der Gestank aus den Schloten der Chemiewerke authentisch in den Text eingehen soll. Und bald wird man gar nicht mehr schreiben müssen, man kann dann die Texte den hörenden, schreibkundigen Geräten einfach diktieren. Und an den Verschaltungen der Künstlichen Intelligenz wird gearbeitet, bald muss man nur noch denken, was ungefähr man dichten möchte, und schon haben es die Apparate ausformuliert –
Was für eine Literatur werden wir bekommen: Lyrik, von der Zerstörung der Regenwälder inspiriert, entsteht mitten im Dschungel, von der Rinde der edlen Bäume abgelesen. Belletristik, aus Trauer über die Industrialisierung der Antarktis geboren, nimmt die Härte des Eises unmittelbar in sich auf. Kein Winkel der Welt ist mehr vor den schriftstellernden Frauen und Männern sicher, die bei jedem Wetter schreiben, im Freien.
Ludwig Fischer

- Ludwig Fischer, geboren in Leipzig, aufgewachsen in Oldenburg (Oldb), Studien- und Berufsjahre in Tübingen, Basel, Zürich, Stockholm, Berlin. Lehrte als Ordentlicher Professor von 1978 bis 2004 Literaturwissenschaft und Medienkultur an der Universität Hamburg, veröffentlichte zahlreiche Bücher und Aufsätze zur deutschen Literatur, zu Film und Fernsehen, zum Naturverständnis, zur Kultur- und Regionalgeschichte. Gedichte, Essays, Kurzgeschichten in Anthologien, Jahrbüchern, Zeitschriften. Mehrere Lyrikbände, zuletzt ‚Folgelandschaften’ (2015). Bei Matthes & Seitz Berlin ‚Brennnesseln. Ein Portrait’ (2017) und ‚Natur im Sinn. Naturwahrnehmung und Literatur’ (2019) – hier nebenan von Alf Mayer besprochen..