Geschrieben am 26. Juli 2011 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Dzevad Karahasan: Der Mut zur Skepsis

Der Mut zur Skepsis

– Dzevad Karahasan über Literatur und Journalismus in Zeiten des Krieges.

Vorbemerkung: Vor zwanzig Jahren, am 26. Juli 1991, wurde Egon Scotland, Korrespondent der „Süddeutschen Zeitung“, in Kroatien von vermutlich serbischen Milizionären ermordet. Der Tod des 42-jährigen deutschen Journalisten im damals gerade beginnenden „Jugoslawien-Krieg“ war Anlass zur Gründung der deutschen Sektion von „Reporter ohne Grenzen“ (ROG) sowie des Vereins „Journalisten helfen Journalisten“ (JhJ). Beide Organisationen  wiederum sind Mitglieder eines inzwischen weltweit agierenden Netzwerks „Journalists in distresss“, das sich der Hilfe für Journalistinnen und Journalisten in Krisengebieten ( wie aktuell etwa dem Osten Afrikas, dem Iran, Nordafrika oder Belarus ) widmet. In diesem journalistischem ‚Global Network’ sind Journalisten von der ‚New York Times’, über die BBC bis hin zur ‚Mittelbayerischen Zeitung’ organisiert.

Der bosnische Schriftsteller Dzevad Karahasan gehörte während der Kriege in den neunziger Jahren zu den von JhJ unterstützten Journalisten und Intellektuellen. Als Dank dafür hielt Karahasan 2008 zum 15-jährigen Bestehen des Vereins eine Rede im Bayerischen Landtag. Karahasan erinnert hier nicht nur an den erschossenen Journalisten Egon Scotland, sondern auch an die Zeit der Belagerung von Sarajewo, die er unmittelbar miterlebt hat.

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„Der Anlass für Gründung des Vereins, so erzählte man mir, sei der Tod von Egon Scotland gewesen. In Stunde des Ablebens trug Kollege Scotland in seiner Brusttasche ein Gedicht, in dem es hieß, dass auch in Krieg nur Menschen sterben, die jemanden Ehe­mann oder Bruder, Vater oder Sohn sind … So ein Gedicht trug Egon Scotland in seiner Tasche. Ich möchte mit meiner Rede dieser Tatsache Rechnung zu tragen.

Unwirklichkeit ist die ausgeprägteste, wenn nicht die einzige Eigenschaft der Hölle, behauptete Emanuel Swedenborg.  Wer in der Hölle aufwacht, erkennt sein irdisches Zimmer wieder samt allen vertrauten Gegenständen seiner ehemals nächsten Umgebung: Sein Tisch ist da, seine Brille und sein Füllfederhalter darauf. Daneben steht sein Sofa und auf kleinem Tisch vor dem Sofa, liegt das von ihm gelesene Buch. Erst nach und nach merkt er, dass diese Gegenstände keine Schwere und keine beständige Form, keine Wärme und keinen greifbaren Körper mehr haben. Nach und nach bemerkt er, dass auch er nichts von all dem mehr hat: Alles sieht nur aus, wie einst im Leben auf Erden, aber dieses Aussehen bleibt die einzige Eigenschaft dieser Welt und ihrer Bestandteile. Wenn er seine Brille aufzuheben versucht, verschwindet sie, wenn er seine Stirn berühren will, verschwindet seine Hand oder seine Stirn samt Kopf. Als ob die Hölle aus reinen Ideen und Begriffen bestünde, aus Sachen also die man verstehen, aber nicht begreifen kann.

Gedanken über swedenbrogsche Hölle gingen mir stets durch den Kopf während des Krieges in meinem Land Bosnien, denn ich fühlte mich in die reine Unwirklichkeit einer Hölle versetzt. Bereits vor dem Ausbruch des Krieges war im öffentlichen Diskurs bei uns vor allem über Nationen und Religionsgemeinschaften die Rede. Einzelne Personen und Einzelschicksale schien es aber überhaupt nicht zu geben.  Im Krieg wurde aber dieses Verschwinden des Einzelnen und Konkreten im all­gemeinen Konstrukt noch radikaler und deutlicher. Und dann fing der Westen an, Bosnien zu ähneln: Die westlichen Politiker und Medien haben mit einer geradezu erschreckenden Geschwindigkeit die Rhetorik unserer Führer übernommen: Der Krieg in Bosnien ist Anfang April 1992 ausgebrochen, und schon im Mai 1992 war in der öffentlichen Wahr­nehmung auch im Westen, also in Medien, in den Äußerungen politischer Autoritäten, in öffent­lichen Diskussionen fast aus­schließlich von Serben, Kroaten und Muslimen/Bosniaken die Rede. Im öffentlichen Diskurs über Bosnien gab es keine einzelne Menschen mehr, keine Bürger und Namen, keine Körper und Einzelschicksale – und dabei starben in Bosnien, wie überall wo gestorben wird, nur einzelne Menschen. Denn damit man sterben kann, muss man einen lebendigen Körper und ein Gesicht haben, dazu muss man eine Mutter und einen Vater wenigstens gehabt haben. Ein lebendiger Mensch, einer der sterben kann, kombiniert also Zu­gehörigkeit (Mutter und Vater) und Ein­maligkeit (Körper und Gesicht). Wir in Bosnien wurden aber in der Wahr­nehmung der anderen hart­näckig auf reine Zuge­hörigkeit redu­ziert bzw. in das Abstrakte ver­trieben.

In diesen Tagen dachte ich stets an Sweden­borg, aber ich fand keinen Gesprächs­partner, dem ich meine Gedanken dazu mit­teilen könnte: Leute, die mit mir zusammen in Sarajevo gelitten haben, wussten auch ohne mich, dass wir Menschen wirklich und einzeln sind, solange man uns um­bringen kann, und die anderen, die nicht mit uns gelitten haben, die wollten sowieso nur meine Zuge­hörigkeit wahr­nehmen. So blieb mir nur mein Körper als Argument gegen die Hölle, als Beweis dass ich doch wirklich bin. Und gerade dieser Körper war von allen Seiten und vielfältig gefährdet durch Granaten und Scharf­schützen, Hunger und Kälte, Wasser­mangel und Ermüdung, so dass ich aus guten und ganz offen­sichtlichen Gründen an den Argumenten zweifeln musste, die mir meine Wirklich­keit beweisen sollten.

So verschwand ich immer mehr in der öffentlichen Wahr­nehmung, die mich und meine Welt in ein Bild ver­wandelte, das nur durch totale Verein­fachung ermöglicht wurde. Ich verstehe ja, dass man einen wirklichen Stand der Dinge vereinfachen muss, wenn man ihn beurteilen und sich seines Urteils sicher sein will. Aber die Vereinfachung, die an uns durch­geführt wurde, ging in die absolut falsche Richtung: Sie verall­gemeinerte, statt zu kon­kretisieren, sie entfernte den Beobachter und Bericht­erstatter von einzelnen Menschen  und ihren Schick­salen, statt sie ihm näher zu bringen. Denn in einzelnem Menschen ist die Mensch­heit schon vorhanden, in der Mensch­heit fließt aber kein warmes Blut, sie hat weder ein Gesicht noch einen schweren Körper, der Durst leiden oder Sehn­sucht spüren könnte. Was im wirklichen Leben einer Gesell­schaft von sich geht, kann man viel besser und präziser anhand eines konkreten Menschen­schicksals be­greifen und mit­teilen, als anhand eines abstrakten Kon­struktes, das auf Verall­gemeinerungen zählt und zielt.

Die am weitesten verbreitete Deutung der Erei­gnisse in Bosnien besagt, dass dort ein ethnisch-religiöser Krieg statt­gefunden hätte, und dass Sarajevo drei­einhalb Jahre von Serben belagert und beschossen wurde. Diese Deutung gründet auf der Verein­fachung, die das unmittel­bar Gegebene also das Wirkliche einer Verall­gemeinerung, einem Begriff oder einem Konstrukt unter­ordnet. Auf dieser Verein­fachung gründete bekannt­lich auch ein Groß­teil der Bericht­erstattung aus dem bosnischen Krieg und gerade die Bericht­erstattung hat das Bild eines ethnisch-religiösen Kriegs so weit ver­breitet. Ich ziehe eine Verein­fachung vor, die in ent­gegen­gesetzte Richtung ginge, eine Verein­fachung also die sich auf das unmittel­bar Gegebene, auf das Konkrete fokussiert. So eine Berichterstattung würde etwa auch über meine nächste Nach­barin Petrojka berichten, gerade weil sie das schon entstandene Bild des Krieges und der Ereignisse in Frage stellt. Petrojka kam Anfang der sechziger Jahre aus der serbischen Stadt Cacak nach Sarajevo und blieb dort bis heute, auch während des Krieges. Denn sie hat in Sarajevo ihr Zuhause, ihren Ehe­mann, die Grab­stätte ihres Sohnes. Das alles verlässt man nicht, wenn man weiter leben will. Ich kenne dutzende Serben die, wie Petrojka, während der Zeit des Krieges in Sarajevo aus­geharrt haben, und mehrere Dutzend sind mir vom Hören­sagen bekannt. Bis Ende des Jahres 1992 lebten in Sarajevo sicherlich 50000 Serben, die sehr wohl in ihrer Stadt leben wollten. Eine Bericht­erstattung, die sich auf diese und ähnliche Fälle kon­zentrierte und Krieg durch Prisma dieser Fälle betrachtete, würde offen­sichtlich ein ganz anderes Bild und eine ganz andere Deutung des Krieges formu­lieren: In diesem Bilde wäre der bosnische Krieg eine ultra­konservative Revolution, die die Gesell­schaft weit­gehend re­feudali­sieren will.
Es versteht sich von selbst, dass auch dieses Bild der Zeit 1992–1995 in Bosnien eine Verein­fachung wäre, denn der Krieg in Bosnien hatte zweifels­ohne auch Elemente einer ethnisch-religiösen Aus­einander­setzung. Aber diese Verein­fachung stünde dem alltäglichem Leben unserer Gesell­schaft jener Zeit viel näher als jene, die durch Verall­gemeinerungen entstanden ist, und sie würde viel mehr den  konkreten wirklichen Menschen gerecht. Sie würde ihr Leben schildern und nicht es einem Konstrukt an­passen wollen.

Das erklärt den zweiten wesent­lichen Unter­schied zwischen den beiden Formen  der Bericht­erstattung.  Ein Journalist, der über einzelne konkrete Menschen und Ereignisse schreibt, wäre sich seines Urteils und seines Wissens weniger sicher als sein Kollege, der mit Allgemein­begriffen operiert. Denn sicheres Wissen gibt es nur in Abstraktem, das sicherste ist das mathematische Wissen, weil es in der Mathematik weder Leben noch Wirklich­keit gibt und geben kann. In der körper­haften Wirklich­keit sind Urteile immer mit etwas Skepsis verbunden, weniger klar und scharf als es die Urteile sind, die im Zusammen­hang mit einem konstruierten Modell fallen … Literatur und Journalismus bzw. die mir nahe stehende Form des Journa­lismus for­mu­lieren und ver­mitteln das Wissen über konkrete Menschen in ihren all­täglichen Leben und Schick­salen. Insofern stellen Literatur und eine Form von Journa­lismus, eine Alter­native zum mathe­matischen Denken dar. Sie sind keine Konkurrenz,  sondern eine Alter­native, denn literarisches und journa­listisches Wissen sind einfach anders als das mathematische oder ideologische, beinahe gänzlich anders. Um ihrer Aufgabe gerecht zu werden, brauchen Literatur und Journa­lismus Mut zur Skepsis, zum Fragen, zur Unsicher­heit, denn wo  es keine Unsicher­heit gibt, herrscht reine Not­wendig­keit und gibt es dem zufolge keine Frei­heit. Literatur und Journa­lismus pflegen Skepsis und das Fragen als Alter­native zu wissen­schaftlichem und ideologischem Wissen, die für sich absolute Sicher­heit beanspruchen. Literatur und Journalismus bieten noch Fragen an, in  einem Zeitalter in dem es nur noch Ant­worten, und zwar offensichtlich nur noch endgültige Antworten gibt.

Im November 1993 habe ich Gelegenheit gehabt, meine Meinung zur „westlichen Wahr­nehmung“ Bosniens skeptisch zu überprüfen und gründlich zu relativieren. Ich kam als Stipendiat des Kultur­amtes der Stadt München nach Feldafing und lernte einige Journa­listen in München kennen. Keiner von ihnen entsprach meinem Bild vom „westlichen Journalisten“, einem Bild, das aufgrund meiner Er­fahrungen mit zahl­reichen Jour­nalisten in Sarajevo entstanden ist. Keiner von den Münchener Journa­listen, die ich damals kennen gelernt habe, hat Interesse für meine Zugehörigkeiten an Tag gelegt, keiner hat je nach Verall­gemeinerungen ge­griffen und ideologischen Bilder zu kons­truieren versucht, keiner von ihnen hat Objektivität mit Neutralität oder gar mit Gleichgültigkeit gleichgesetzt. Sie alle fühlten sich von meiner krank­haften Liebe zu Tschechov und Büchner mehr an­gesprochen als von meiner Herkunft, und ein jeder von ihnen hat mehr Interesse für meine mehr schlecht als recht funktionierende Schreib­maschine gezeigt als für komplizierte „Zugehörig­keiten­struktur“ meiner Familie. Ein jeder hatte sehr wohl eigene Vor­stellungen vom Krieg in Bosnien, alle sprachen darüber lange und leiden­schaftlich, aber ein jeder, so wie auch ich, hatte in seinen Bei­trägen zu den Gesprächen viel mehr Fragen als Antworten formuliert …“

Dzevad Karahasan