Die gute Zeichnung
– Neulich im Netz stellte sie sich für mich wieder einmal, die Frage: »Was ist eine gute Zeichnung?!« Ein Essay von Hanspeter Ludwig.
Nicht Malerei, sondern die reine Zeichnung meine ich. Jene künstlerische Form, die gern als Illustration in Büchern auftaucht oder eben in Comics, dem Medium, das mich immer noch am meisten berührt. Irgendwo dort in den meinungsheischenden Weiten der weltweiten Spinnwebe las ich eine Reihe von Lobeshymnen zu den Comics von Serpieri, die – meiner Meinung nach völlig zu Unrecht – deren hohe Qualität feierten. Mir fiel dabei wieder eine Bemerkung meiner Schwester ein. Sie hatte sich in einem Gespräch vor einiger Zeit völlig „talentlos“ genannt, und das bloss, weil die Illustrationen zu ihren eigenen Geschichten praktisch ausschließlich ein Hobby und Privatvergnügen sind. Natürlich sind die Zeichnungen meiner Schwester weit von der technischen Perfektion eines Serpieri entfernt, aber dennoch sprühen manche davon einen Charme aus, der vielen technisch perfekten Zeichnern fehlt. Mir wurde mit einem Mal klar, dass ich Zeichnungen einer ungelernten Hobbyzeichnerin denen eines seit Jahren geübten Comiczeichners vorziehe. Dass sie mit mir verwandt ist, spielt in diesem Fall keine Rolle. Für mich war das extrem verwirrend.
Beim Versuch, dem Grund meiner Verwirrung nachzugehen, gelangte ich schließlich zu einem allgemeineren Phänomen, eines, das periodisch in der Kunst und Illustration an Bedeutung zu- bzw. abnimmt: Die Gewichtung der technischen Qualität.
„Die »gute Zeichnung« musste in den 1980ern für mich und viele meiner Zeichnerkollegen sauber ausgeführt, möglichst detailreich und natürlich perfekt getuscht sein.“
Ich bin ja nun eindeutig Kind der 1980er. Damals waren Zeichner wie Moebius (mit großem Abstand) oder Yves Challand, Daniel Torres und Floc’h meine Vorbilder. Deren Vorbilder wiederum, E.P. Jacobs oder Hergé, Franquin und Co. galten (teilweise schon seit Generationen) als prägend, waren schon damals um ihre zeichnerische Perfektion beneidete Künstler und erlebten in den 80er Jahren eine Rennaissance durch die Entstehung der »Nouvelle Ligne Claire«. Die »gute Zeichnung« musste damals, für mich und viele meiner Zeichnerkollegen, sauber ausgeführt, möglichst detailreich und natürlich perfekt getuscht sein. Zeichner wie Moebius oder Challand schafften es darüber hinaus bei praktisch allen ihren Arbeiten, zusätzlich auch noch Bildkompositionen zu erzeugen, die nicht mehr zu verbessern gewesen wären. Die 1980er waren im Rückblick betrachtet sehr stilwillig. Sieht man von einigen am Punklayout der ganz frühen Jahre des Jahrzehnts orientierten Zeichner ab, entwickelte sich vieles in eine zwar klassische, aber genau genommen doch recht kalte Richtung. Die Linie wurde so makellos, dass man sie höchstens maschinell noch sauberer hätte hinbekommen können, jedes Arrangement war im Vorhinein perfekt austariert, kein Strich saß an der falschen Stelle. Daraus ergab sich für mich als Anfänger in etwa dasselbe Problem, das 13–16-jährige Mädchen heute haben, wenn sie »Germanys Next Topmodel« schauen: Ich wurde meinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht! Konnte ich gar nicht, weil das Bewunderte so absolut vollkommen erschien. Alle diese Helden waren seit Jahren durch viel Arbeit gestählte Comiczeichner, ich dagegen – Anfang der 1980er – noch ein hoffnungsfrohes Talent. Mir fehlte es schlicht an Fingerfertigkeit für diesen klaren und stark reduzierten, aber extrem sauberen Stil. Die andere Seite des damals aktuellen Stilspektrums waren dann Zeichner wie Richard Corben oder Boris Valejo oder später auch Luis Rojo. Hier ging es um Fotorealismus oder überhöhten Fantasy-Realismus und damit eben auch wieder um höchste technische Vollendung.
Ich wurde also in einer Zeit Zeichner, in der die große Götze »Zeichentechnik« hieß. Dass jedoch gerade der naturalistische Stil im Prinzip vor allem viel Übung braucht und eigentlich gar kein Talent, wissen die wenigsten Nicht-Zeichner. Tatsächlich ist Naturalismus leichter zu erlernen, als die starke Vereinfachung, die ich in meiner eigenen Arbeit anstrebe, ganz zu schweigen von der kunstvoll hingekrakelten Zeichnung – auch, wenn der Gedanke zunächst befremdlich wirkt.
(Jedem, der daran zweifelt gebe ich eine kleine Aufgabe: Zeichnet einfach mal den Kopf von Tintin (Tim) und seht, wie schwierig es ist, zwei Striche, zwei Kleckse und zwei Kringel zu einem Gesicht zu formen, das der Version von Hergé gleicht!)
„Spawn war vor allem Dekor. Zugeballert, düsterbunt und auf Effekte angelegt – schließlich musste damals jede neue Computertechnik in der Druckvorstufe ausprobiert werden.“
Erste Zweifel am Dogma der technisch guten Zeichnung kamen mir in den frühen 1990er Jahren, als ich zum ersten Mal »Spawn« in die Finger bekam, und das setzte sich bei den Comics von Simon Bisley fort. Beide, Todd McFarlane und Simon Bisley, sind ganz hervorragende Zeichner, haben allerdings vom Erzählen einer Geschichte überhaupt keine Ahnung. Spawn war vor allem Dekor. Zugeballert, düsterbunt und auf Effekte angelegt – schließlich musste damals jede neue Computertechnik in der Druckvorstufe ausprobiert werden. Simon Bisleys naturalistische Fantasy-Werke sind ganz großartig gezeichnet, aber auch er ist kein Geschichtenerzähler, und so reihte sich einfach ein Bild ans nächste, ohne, dass über das Layout, Paneling oder eine filmische »Schnittechnik« Spannung erzeugt wurde. Spätestens mit »Lobo« wird diese Schwäche überdeutlich. Das Paneling ist zerstört, die Zeichnungen sind zwar krakelig, strotzen aber vom Stolz des Zeichners auf seine Kunstfertigkeit, mit der er durchaus angibt. Über lange Strecken sehen die »Lobo«-Comics von Simon Bisley aus wie Auszüge aus seinem Skizzenbuch, ein Eindruck, der sich zur Gewissheit verfestigt, sobald man tatsächliche Seiten aus einem dieser Skizzenbücher gesehen hat. Wären bei »Lobo« nicht die anarchistischen, fast schon subversiven Inhalte, wäre der Comic ein kompletter Ausfall geworden, zumindest in der Bisley-Periode. Dennoch habe ich ihn damals geliebt und gesammelt und Bisley über einen langen Zeitraum bewundert. Gerade bei Lobo zeigt sich aber, wie schwierig es ist, beim Comic nur einen Bestandteil des Gesamtwerkes in den Fokus zu nehmen, also hier die Zeichnung.
Als ich vor einigen Jahren, nach einer langen Pause, wieder ernsthaft anfing Comics zu lesen, stellte ich einen enormen Sprung in weiten Teilen der Comiclandschaft in Europa fest: Die »Ligne Claire« oder auch die »Nouvelle Ligne Claire« hatte sich inzwischen totgelaufen. Die seit den 1990er Jahren durch Computercolorierung immer ausgefuchsteren Zeichnungen waren Standard geworden, und irgendwann wurde das Storytelling über die mit »Eye-Candy«, Details und Dekor, zugekleisterten Seiten fast ungenießbar. Diese Überästhetisierung oder noch besser Übergewichtung der reinen Technik erzeugte ab Mitte der 1990er eine Gegenbewegung. Der Begriff »Graphic Novel« wurde etabliert. Auf einmal war die Geschichte wieder wichtiger als das Dekor. Und Zeichner wie David B., Lewis Trondeim oder Guy Delisle, überhaupt die ganze Gilde der »l’Association«, waren und sind Meister der Krakelzeichnung.
„Früher habe ich Zeichnerinnen wie Julie Doucet allenfalls für ihre Geschichten und Einfälle geschätzt, als Zeichnerin habe ich sie verachtet.“
Genau die Krakelzeichnung ist es aber nun, die mich umtreibt. Früher habe ich Zeichnerinnen wie Julie Doucet allenfalls für ihre Geschichten und Einfälle geschätzt, als Zeichnerin habe ich sie verachtet. Ihre Zeichnungen wirkten auf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Die Seiten vollgestopft, totgestrichelt und komplett überladen, der Stil irgendwo zwischen frühem »Fritz-the-Cat« Robert Crumb und Peter Bagge – aber irgendetwas war schon damals an den Zeichnungen, dass ich mir »Wahre Haushaltscomics« eben doch kaufen musste. Tatsächlich lag Anfang der 1990er Jahre auch in Deutschland etwas in der Luft: Das großartige »KrmKrm« von Markuss Golschinski oder auch das nicht weniger gute »Artige Zeiten« von Minou Zaribaf und Andreas Michalke zeigten einen Weg auf, die sowohl eine Leidenschaft für die »gute Zeichnung« mit dem Willen zum Ausdruck verbanden. Inzwischen ertappe ich mich dabei, wie ich Zeichner mit noch viel kruderem Strich, wie etwa Sfar (der sich nicht einmal mehr damit aufhält seine Figuren wiedererkennbar zu zeichnen und jedes Panel (scheinbar!) nach Lust und Laune anlegt, ohne sich irgendwelche Gedanken über die Gesamtgestaltung zu machen) großartig finde und entdecke, dass ich immer mehr Lust auf wilden Strich und das Skizzenhafte habe.

David B.: Die Heilige Krankheit
Ich selbst werde sicher nie ein rein expressionistischer Zeichner werden, dazu mag ich die klare Linie nach wie vor zu sehr. Dennoch reizt mich inzwischen eine erwachsenere Ästhetik, die allerdings in ihrer Erscheinungform tatsächlich eher kindlich aussieht. Den Widerspruch in dieser Aussage muss ich versuchen zu erklären. Auf den ersten Blick wirken die Arbeiten der hier gepriesenen Zeichner oft wie Kinderzeichnungen, verlangen vom Leser aber ein Einlassen auf die Zeichnung, das für Erwachsene durchaus mit Anstrengung verbunden ist. Wichtig ist vor allem, dass die Form zum Inhalt passt. Liest man z.B. »Die heilige Krankheit« von David B., wähnt man sich zuerst in einem finsteren Universum reinster Depression. Ganz falsch ist das nicht, denn es geht um die schwere Epilepsie des Bruders von David B. In grobem, expressionistischem Stil stellt der Autor hier das Leben seiner Familie über die letzten 40 Jahre dar. Wobei es eigentlich nicht stimmt, wenn man bei dem Werk von einem Stil spricht, vielmehr erzählt er seine Geschichte in unterschiedlichen Stilnuancen, immer mit viel schwarz und oft mit reichlich Dekor im Bild, aber die holzschnittartige Zeichnung unterstützt die Ernsthaftigkeit der Erzählung vortrefflich. Dabei ist David B. an jeder Stelle der Bücher seine formale Schulung anzumerken. Er will diesen groben Strich und die holzschnittartige Wirkung. Ohne diese dunklen, schweren und auch kompliziert zu dechiffrierenden Zeichnungen hätte das Buch nie eine solche Wirkung erzielt. Gerade bei David B. blitzt eben immer wieder seine technische Meisterschaft durch: Der könnte, wenn es ihm darum ginge, perfekte Zeichnungen, nach Qualitätsmaßstäben, wie sie mir – und vermutlich auch ihm – in den 1980er Jahren eingetrichtert wurden, abliefern, er will das aber nicht.
Dafür gelingt David B. etwas, das der weiter oben erwähnte Simon Bisley m.E. nicht geschafft hat: Zeichnungen und Storytelling kooperieren, überlagern sich nicht gegenseitig. Während also »Lobo« ohne Bisley gar kein Problem wäre und war (Keith Giffen hatte die Serie vorher betreut und teilweise auch später weitergeführt, aber selbst völlig andere Zeichner hätten bei »Lobo« gepasst) würde »Die heilige Krankheit« nicht funktionieren, wenn die Zeichnungen beispielsweise im Stile eines Yves Challand daher kämen. Vermutlich würde gerade das zerstört, was diesen Comic zu einem Meisterwerk macht: die überzeugende Ernsthaftigkeit. Der Stil steht also im Dienste der Erzählung, nicht umgekehrt.
„Was aber bleibt, wenn auch eine Krakelzeichnung eine »gute Zeichnung« sein kann?“

Pablo Picasso: Pan
Und hier kommen wir zum Ursprung meiner Geschichte zurück, denn etliche der inzwischen dem groben Strich verfallenen Zeichner entstammen meiner Generation und waren genau wie ich Fans der perfekten Technik. Tatsächlich sind auch einige der Zeichner, die ich als »Nouvelle Ligne Claire« Helden kennengelernt habe, inzwischen von diesem Stil abgerückt. Man sieht immer noch ihre Herkunft, aber sie legen einfach keinen Wert mehr auf die technische Perfektion, bzw. haben gelernt, dass diese kalte Perfektion nicht das Maß aller Dinge ist.
Was aber bleibt, wenn auch eine Krakelzeichnung eine »gute Zeichnung« sein kann? Vor allem aber, wie ist dann eine schlechte Zeichnung von einer guten zu unterscheiden? Eine mögliche Antwort wäre: Eine Krakelzeichnung, die von jemandem kommt, der eine klassische akademische Ausbildung genossen hat, ist eine gute Zeichnung.
Das ist mir zu einfach.
Nicht von der Hand zu weisen ist, dass Wissen um Technik und Gestaltung wirklich gut zu gebrauchen ist. Picasso wäre ein gutes Beispiel dafür: Bei aller Verfremdung finden sich bei ihm die klassischen Proportionen, die Regeln des »Goldenen Schnitts«, und in seinen Zeichnungen, bzw. druckgrafischen Arbeiten, auch eine hohe Kunstfertigkeit in der Pinselführung. Cy Twombly, A.R. Penck oder die Maler des Informel scheinen da formalgestalterisch zunächst nicht auf demselben Niveau zu sein, dennoch sind deren Werke ohne jeden Zweifel Kunst.
Im Comicbereich ist Manu Larcenet für dieses Phänomen symptomatisch (ganz zu schweigen von dem bereits mehrfach genannten Zeichner David B.). Larcenets Strich ist nervös und krakelig, seine Figuren wirken oft unbedarft, aber jedes einzelne Panel beweist, dass sich dieser Künstler mit Gestaltung auskennt. Es gibt keine Füllbilder bei ihm, die Seiten funktionieren aus der Erzählung heraus und als Gesamtwerk gleichermaßen, und man sieht deutlich, dass auch er wie einer der eingangs erwähnten Zeichner mit klarer Linie zeichnen könnte. Er will aber nicht. Tatsächlich ist Larcenet ein hervorragendes Beispiel dafür, dass die gern in diesem Zusammenhang genommene Erklärung, die Geschichte, die transportiert werden solle, sei wichtiger als die Zeichnungen, nicht greift.
„Würde dieselbe Geschichte in einer naturalistischen oder klar ästhetisierten Version gezeichnet, hätte sie nicht annähernd dieselbe Wirkung.“
Bei Larcenet unterstützt der krakelige, oft eigentlich eher niedliche Stil die Ernsthaftigkeit seiner Stories absolut treffend, wobei gerade aus der Gegensätzlichkeit Funny-Stil vs. ernsthafte Geschichten die Spannung gezogen wird. Würde dieselbe Geschichte in einer naturalistischen oder klar ästhetisierten Version gezeichnet, hätte sie nicht annähernd dieselbe Wirkung, eben weil der Stil zunächst auf die falsche Fährte führt und man niedliche, lustige Erzählungen erwartet. Ich möchte das anhand eines Beispiels darstellen: In »Der alltägliche Kampf« erfährt der Protagonist, dass der nette alte Herr, mit dem er sich kurz vorher angefreundet hatte, ein Kriegsverbrecher des Algerien-Krieges ist! Als wäre es nicht schon anstrengend genug, in einem Comic, dessen Zeichnungen jeder lustigen Bildergeschichte seit den 1930er Jahren zur Ehre gereicht hätten, eine ernste Auseinandersetzung mit Schuld und Sühne zu lesen, entdeckt Marco, der Held der Geschichte, seine ermordete Katze, direkt nachdem er den alten Mann zur Rede gestellt hat (nein, es war nicht der Kriegsverbrecher, also: selbst lesen!). Das zu lesen ist wie ein Schlag in die Magengrube. Der harmlose, ja putzige Stil transportiert eine Geschichte, die durch den Gegensatz zwischen Stil und Inhalt kaum noch auszuhalten ist! Ich bekam beim Lesen jedenfalls einen mitteldicken Klos im Hals. Larcenet ist aber nicht nur ein genialer Erzähler, der den Stil zum Mittel der Erzählung macht, er beherrscht es mit wenigen Strichen eine unglaublich dichte Atmosphäre in seinen Bildern zu schaffen, die mitunter an Künstler wie Jaques Tardi oder Hugo Pratt erinnert, stilistisch aber Welten entfernt ist.
Ganz so augenfällig ist diese Ambivalenz zwischen Geschichte und Zeichnung z.B. bei Guy Delisle nicht. Dennoch wird seine Trilogie über das Leben als Gatte einer für »Ärzte ohne Grenzen« arbeitenden Frau durch die Verbindung von sehr ernstem Grundtenor – dem Aufenthalt in abgeschotteten Diktaturen – mit sympathisch cartoonigen Zeichnungen und einem kritischen, satirischen Blick zu mehr als nur einem netten Cartoon. Wenn er über die Absurditäten in Pjöngjang, Jerusalem oder Birma berichtet, konterkariert sein freundlicher, stark reduzierter Stil oft genug das ernste Setting – die Zeichnung dient eben nicht mehr nur der bloßen Darstellung der Geschichte.
Die ganze Diskussion ist, wie bereits erwähnt, keine neue, sie fand schon vor über hundertfünfzig Jahren statt, und sie taucht jedesmal wieder im kollektiven Bewußtsein auf, wenn sich in der Kunst ein Stilwechsel anbahnt. Als die Fotografie erfunden wurde und es keine Notwendigkeit mehr gab, naturalistische Gemälde zu schaffen, weil das mit der Fotografie deutlich schneller und auch besser ging, war die Kunst auf einmal frei, neue Welten, Stile und Auffassungen von Gestaltung (oder dem bewußten Verzicht darauf) zu entwickeln. So entstanden aus dem Impressionismus der Expressionismus und die heute klassische Moderne. Eine ähnliche Entwicklung scheint mir im Comic der vergangenen 20 Jahre stattgefunden zu haben: Eine Generation, die mit der Überästhetisierung und den strengen Stilvorgaben der ersten Hälfte des 20. Jahrunderts aufgewachsen war, entdeckte, dass man Comics auch anders und oft erheblich besser erzählen kann, als mit technisch perfekten, geleckten Zeichnungen. Und eine Handvoll Zeichner nahm sich dann die Freiheit, alle etablierten Stile zu ignorieren, um völlig eigenständige Erzählweisen zu entwickeln.
Was eine »gute Zeichnung« ist, kann ich noch immer nicht endgültig sagen. Für mich ist die reine Zeichentechnik jedenfalls kein Maßstab mehr – und seit das so ist, entdecke ich Welten. So hat der Satz von Moebius, der nach wie vor zu meinen meistbewunderten Zeichnern gehört, für mich inzwischen eine Bedeutung gewonnen, die ich früher nicht verstanden habe. Moebius nämlich meinte: »Es gibt keine schlechte Zeichnung, es gibt nur unterschiedliche Universen.«
Hanspeter Ludwig
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