Apokalypsen der Moderne am Ende der Welt
oder: „Neues aus Büttenwarder“– Lokale Beispiele mit globalem Modellcharakter. Essay und Satire, von Markus Pohlmeyer.
I Mentalitätsgeographisches
Es war einmal eine Gemeinschaft, gelegen im fernen Norden Deutschland, regiert von einem korrupten und intriganten Bürgermeister (Mitglied einer nicht näher genannten Volkspartei) – durchaus mit einem Hang zum Nepotismus; die Untertanen, pardon: die demokratisch mündigen Bürger, sind meistens verarmte Bauern; darunter ein Stallknecht und ein Gastwirt. Kuno, der Knecht, bewegt sich auf dem Bildungsniveau eines Grundschülers, und Shorty, der Wirt, ist ein mehrfaches Scheidungsopfer. Bildung wird hier konsequent demokratisch gedacht: Dummheit für alle! Die Landwirtschaft liegt am Boden. Die Infrastruktur ruiniert, ruiniert die Ökonomie. Man lebt wie auf einer einsamen Insel; schon die Versuche, beispielsweise das nächste Dorf zu erreichen, haben sich in der Vergangenheit bisweilen als unlösbare Aufgabe erwiesen. Alkohol bleibt die letzte Hoffnung: als Höhepunkt des kulturellen Lebens und als soziales Band, das alle eint, und als treuer Trost in der Krise. Jede noch so sinnreiche wie unsinnige Anstrengung, den Nennwert zu steigern (Nennwert ist ein leitmotivischer terminus technicus der Dorfbewohner und steht für Reichtum und Erfolg – das magische Wort für Hoffnung schlechthin), scheiterte über die Jahre grandios und unerbittlich.
Diese Dystopie (nein, hier wird nicht etwa auf eine Diktatur im fernen Osten angespielt) scheint lange Zeit die Real-Utopie gewisser Politiker/innen (Die Farbe der Partei spielt dabei keine Rolle!) für Schleswig-Holstein gewesen zu sein, in dem unsere Geschichte spielt. Diese Dystopie wurde dann auch vielfältig und ide(ologi)enreich umgesetzt in einem Gestus der Moderneverweigerung. Wozu brauche denn beispielsweise eine Stadt, in welcher der Autor einige Zeit leben musste, Anbindung an die Bahn? Wenn man das doch alles mit Kutschen oder Fuhrwerken regeln könne, so ein Gerücht, so die Erklärung, warum diese Stadt heute noch so isoliert sei. (Die Hölle scheint ja auch nicht so heiß zu sein, wie man von ihr sagt.)

Gasthof unter den Linden in Grönwohld (Foto: DKey85/Wikimedia Commons)
II Angriff der Flachbildschirme
Doch nun endlich zu unserer Geschichte, einer Episode mit dem Titel „Apparillo“ aus der Serie „Neues aus Büttenwarder“. Eines Tages gewinnt die Nr. 1 unter den einheimischen Bauern, Kurt Brakelmann, einen Flachbildschirm. Gut, denn sein alter Fernseher – mit nur einem verwackelten Programm – steht kurz davor, sich ins mediale Nirwana zu transformieren.
Adsche, Brakelmanns langjähriger Freund und Weggefährte, versucht, die Techno-Kauderwelsch-Bedienungsanleitung zu dechiffrieren und kommt zu dem Schluss, da seien „wohl auch vertrauliche Nachrichten vom Geheimdienst dabei“. Brakelmann fühlt sein soziales Prestige durch das neue Gerät ungemein gesteigert: Er spiele jetzt in einer anderen Klasse usw., und verletzt damit Adsche zutiefst, der verbittert zur Kenntnis nehmen muss, dass die Gespräche mit ihm eben nur als Überbrückung zwischen dem alten Fernseher und dem neuen dienten. Brakelmann diagnostiziert: Auch habe der Mangel an Programmen bei ihm zu einer Unausgeglichenheit geführt. (Der Flachbildschirm als Therapeut und als Medium der Erlösung!)
Eine ironische Brechung scheint allein schon dadurch gegeben, dass das hypermoderne Gerät im Stall aufgestellt wird, umgeben von Hühnern und Enten. Doch der Einbruch der Moderne eskaliert: Die Sprachprogrammierung des Flachbildschirms erweist sich als kompliziert, so sei der Name Brakelmann dem System unbekannt. Unser Landwirt wollte doch nur fernsehen, scheitert aber an der Inbetriebnahme, legt sich schlafen … und wird unvermittelt um 3 Uhr vom Weckdienst des neuen Gerätes aus dem Schlaf gerissen. Brakelmann beweist seine Medienkompetenz: Stecker raus!
Am Morgen danach versucht ein sichtlich gequälter Brakelmann, in der heimischen Gaststätte, dem Dorfkrug (unter Leitung des mehrfachen Scheidungsopfers Shorty), bei den Eingeborenen wieder Anschluss zu finden. Das müsse er tun, denn sonst fehle ihm „der soziale Kontakt zur Wirklichkeit.“ Es folgt eine grandiose Szene! Er bemerkt, dass Kuno, der Stallknecht, schon seit einer halben Stunde nur eine Seite seines heißgeliebten Killerkralle-Comics, einer Mischung aus Fantasy und Science-Fiction, anschaue, jedoch ohne umzublättern. Kuno: „Mein Heft wartet auf mich! Wenn ich nichʾ mitkommʾ, dann läuft das nichʾ weiter. Das bleibt stehen. Ich darf nur nichʾ umblättern.“ Was hier zunächst wie blanker Irrsinn wirkt, entpuppt sich als ein starkes Plädoyer für Entschleunigung und als ein heimliches Loblied auf das Lesen von Comics und Büchern, welche die charmante Eigenschaft besitzen, auf uns Leser und Leserinnen zu warten.
Brakelmann dagegen wird von seinem Flachbildschirm dominiert, getrieben, sozial entmündigt: denn plötzlich, mitten im Gespräch, vibriert der leuchtende Gürtel um seine Hüfte, den er auf Befehl des Fernsehers hat anziehen müssen; er bekommt nämlich Stromschläge, um ja nicht seine Lieblingssendung zu verpassen, und muss sofort nach Hause gehen. Brakelmann beweist wiederum seine Medienkompetenz: Stecker raus! Und den Gürtel mit einem Messer abgeschnitten und … endlich schlafen. Wieder um 3 Uhr geweckt. Ein Schrei! Brakelmann am Rande des Wahnsinns, denn der Fernseher verfügt über Solarbatterien!! Die Stimme des Fernsehers befiehlt nun die pantomimische Eingabe der gewünschten Weckzeit!!! Die Arme sollen dabei als Minuten- und Stundenanzeiger dienen!! Brakelmann vollführt willenlos die entsprechenden Bewegungen! Es sei aber zu bedenken, mahnt das Gerät, dass die Uhrzeit auch seitenverkehrt dargestellt werden müsse, „damit garantiert ist, dass Sie das Weckprogramm auch in arabischen Ländern nutzen können.“
Brakelmann rutscht in einen durch Medien überwachten, quasi-totalitären, anonymen Mini- Überwachungsstaat ab: Es geht hier aber keinesfalls um Ideologie, sondern nur noch um Ökonomie. Die Dialoge sind diskontinuierlich, weil Mensch und Maschine aneinander vorbeireden. Die Maschine spult nur ihre Programmierung ab und Brakelmann wird dahingehend absorbiert bzw. exkludiert.
Und nun folgt auf den dramatischen Höhepunkt eine Szene, die mit einer entsprechenden Sequenz in Stanley Kubricks Film-Meisterwerk „2001 – Odyssee im Weltraum“ Ähnlichkeiten aufweist. Brakelmann zerlegt Stück für Stück das Gerät, während in „2001“ ein Besatzungsmitglied Stück für Stück den das Raumschiff Discovery steuernden Supercomputer HAL abschalten muss. In beiden Fällen üben die künstlichen Geschöpfe eine totale Kontrolle über den Menschen aus. In „2001“ mordet HAL die Astronauten; in „Büttenwarder“ wird Brakelmann sozial isoliert, mutiert zum Getriebenen, wird sich selbst entfremdet. Der vermeintliche Prestige-Gewinn erweist sich als Horror und Unsinn. Der Flachbildschirm auf dem Bauernhof regiert dunkel, schwarz, wie eine drohende Gottheit der Finsternis (und imitiert so den schwarzen Monolithen aus „2001“). Der Mensch scheint diesem Dämon ausgeliefert bis zum erlösenden, befreienden Akt der (im wahrsten Sinne des Wortes) Bilderzerstörung. Die Destruktion des allmächtigen Computers und des tyrannischen Flachbildschirms erscheint als der einzige Ausweg, den Schöpfer vor seinen eigenen Schöpfungen zu bewahren.
Adsche hat Gott sei Dank den alten Fernseher gerettet, und bei einem guten Köm, das ist die einheimische Alkoholspezialität, wird der Sieg gefeiert. Als Tablett zum Servieren des Schnapses dient ein Fragment des zerstörten Flachbildschirms. Es wird der Ein-Programm-zwei-Männer-Abend geplant. Die Rückkehr zum Dialog. Die scheinbar revolutionäre Medienwende endete in einer Minikatastrophe.
III Ein akustischer Hieronymus Bosch
Die Ungleichzeitigkeit der Moderne läuft in der letzten Folge dieser Staffel mit dem Titel „Stau“ vollends aus dem Ruder. Die desaströse Straßensituation in Schleswig Holstein (Das ist Realismus pur!) führt dazu, dass für drei Tage eine Ferienverkehrsumleitung durch Büttenwarder führt. Absurdes Theater: Wer nach Südfrankreich oder in die Toskana will, muss jetzt durch Büttenwarder. Daran sei auch die halblegale Korruption des Bürgermeisters schuld; angeblich folge er, so seine Rechtfertigung, nur einer Dienstanweisung aus Berlin.
Aber man nutzt die Gunst der Stunde. Durch eine geschickt inszenierte Blockade leitet Brakelmann den Verkehr um, über sein Grundstück, und kassiert an einem Schlagbaum für eine vermeintliche Abkürzung. (Europas Grenzen werden wieder um des Nennwertes willen geschlossen.) Die Euros fließen bald in Strömen. Kuno hat sogar ein jugendliches Flötenspieltrio (zur Völkerverständigung) engagiert und am Straßenrand aufgestellt, inspiriert von der Lektüre seines letzten Killerkralle-Comics. Da würden nämlich Frauen (im Titel: Mänaden) für die Völkerverständigung kämpfen, mit Flötenspiel. (Mit Mänade wird hier ein bacchantisches Motiv eingeführt. Kuno hat aber mehr einen Blick für das sexy Design der Damen. Das passiert, wenn man Latein und Griechisch in der Schule streicht. Anmerkung des Autors.).
Der Autolärm nimmt zu. Brakelmann und Adsche können nicht mehr schlafen. Darum zieht Brakelmann die Trockenhaube seiner Mutter an. Adsche organisiert den Plattenspieler aus dem Altenheim seines Onkels, der sich mit seinen 105 Jahren immer noch im Unklaren befindet, wer denn den letzten Krieg gewonnen hat. Aber er habe für Adsche noch eine schöne Platte aus dem Krieg. Brakelmanns Küche wird nun zum Schauplatz eines grandiosen Surrealismus: er, unter der summenden Trockenhaube seiner Mutter; Kuno mit Köm (wieder ein bacchantisches Motiv!) und den drei Flöte spielenden Kindern, in nie endender Repetitionsschleife: „Country roads, take me home“; im Hintergrund der Autolärm – und dann … legt Adsche die Platte seines Onkels auf, zu hören: Maschinengewehre, Sirenen, Bomben. Bomben, Flugzeuglärm, Sirenen, Autolärm, Trockenhaube, Flöten, Maschinengewehre, Flöten, Sirenen, Trockenhaube, Flöten, Sirenen, Country roads. Sirenebombcountryflötautomaschinetrockenhaubegewehr…
Die Mänaden des Wahnsinns! Alle Dynamik kommt zum Erliegen; die Akteure versteinen, eingefrorene Standbilder, während all der Lärm von Autos, Maschinengewehren und Sirenen, der Trockenhaube und der Flöten sich überlagern – zu einer Symphonie des Grauens. (Dem Autor kamen vor Lachen existentialistische Tränen.) Ein akustischer Hieronymus Bosch in der Welt von Dick und Doof. Die Ankunft der Moderne versinkt in Lärm und Krach.
IV Abschied von der Demokratie?
Doch die Sache ist komplizierter: „Büttenwarder“ wird eben nicht nur dystopisch, sondern auch idyllisch dargestellt. Moderneverweigerung führt zu Stillstand und produziert die Ewiggestrigen; mag sein. Der Einbruch der Moderne aber kommt wie ein Dieb, sie nimmt nämlich: Ruhe, Freundschaft und die Schönheit der Natur. Brakelmann stellt gegenüber Kuno fest, dass sie alle nur drauf zahlen würden. Der vermeintliche Gewinn, der Euro-Geldberg auf dem Küchentisch, wird zwar immer gewaltiger, schlägt aber letztlich um in einen Verlust: man hört sich und die anderen nicht mehr. Die scheinbar revolutionäre Verkehrswende eskaliert in einer Minikatastrophe. Und die Klänge des 20. Jahrhunderts sind omnipräsent: von den grauenhaften Todessirenen des Krieges bis zum ohrenbetäubenden Krach des Verkehrs. Die Country roads sind verstopft und zerstören die Natur. Es gibt keine Fluchtmöglichkeit mehr, denn Lärm ist überall. Die Völkerverständigung versinkt in babylonischer Absurdität.
Verkehr und moderne Medien schaffen ungeahnte Mobilität und Globalität. („Büttenwarder“ ist ein Dorf und gleichzeitig, allegorisch, die Welt.) Aber da gibt es im Gefolge auch eine rasante Beschleunigung: in den Stau und Stress hinein. Und vor lauter Kommunikation und ungeahnter Unterhaltungsmöglichkeiten verstummt man. Darum verwandelt sich „Büttenwarder“ zum Schluss auch in eine Gegen-Utopie: Brakelmann kappt heroisch die Drähte und damit den Kontakt zur Moderne – und genießt auf seinem verfallenden Hof mit Adsche einen Köm. Das können wir anderen nicht, wir können die Drähte nicht kappen, wir wären ‚nachhaltig‘ verloren in der (Post)Moderne. Denn an diesen Drähten hängt mittlerweile unser Leben. Brakelmann gelingt ein Akt der Freiheit – nach dem medialen und finanziellen Sündenfall. Aber lokal und global versteckt sich hinter all dem politisch korrekten Hochglanzbroschürengelaber um Medien, Verkehr und meinetwegen auch Bildung nur der Kampf von Interessen(gruppen), die archaische Schlange in den Gestalten von Gier, Macht, Hybris, Nepotismus und Korruption. Also unter der Sonne und in „Büttenwarder“ nichts Neues. Ironie bleiben und Satire als Gesten des Einspruchs, vielleicht die letzten Rückzugsgebiete von Demokratie in einer Gesellschaft, die Bildung totalökonomisiert und sich so davon verabschiedet, um den konsumwilligen, medienbewussten, rundum überwachten Kunden zu züchten.
PS. In diesem Text wäre man auch als Mann zu lesen. „Büttenwarder“ funktioniert so gut wie ohne Frauen. Ein Wunder, dass noch keine Genderbeauftragte … Aber das bedeutete einen anderen Aufsatz.
Markus Pohlmeyer
Filmzitate aus: Neues aus Büttenwarder. Folge 48 bis 55. ARD-Video, © 2013-2014 NDR.
Nachweis der (leicht veränderten) Erstveröffentlichung: Markus Pohlmeyer: l’ebbrezza della modernità. Critica semiseria sull’ apocalisse del moderno alla fine del mondo: esempi locali, caratteristiche globali, in: Il Regno – Attualità 20/2014, 727-728.
Markus Pohlmeyer lehrt an der Universität Flensburg (Schwerpunkte: Religionsphilosophie; Theologie und Science Fiction).