Partizipation in der Literaturproduktion
– Partizipation und Literatur – schließen sich diese beiden Begriffe nicht aus? Sind das Schreiben und das Lesen von Büchern nicht notwendigerweise einsame Vorgänge? Oder geht es auch anders? Hanna Hesse betrachtet ein paar Beispiele für partizipatorische Literaturproduktion.
Der Autor schreibt, der Kritiker empfiehlt oder verreißt, der Leser rezipiert. Ein gut und gern zwei Jahrhunderte alter Dreischritt, der heute nichts von seiner Gültigkeit verloren hat. Auch im 21. Jahrhundert besetzen viele Poeten in Spitzwegscher Manier ihre abgeschiedenen Dachstuben, um Gedanken zu Papier zu bringen, selbst wenn der Gänsekiel heute durch die Tastatur des Laptops ersetzt wurde. „Für mich war meine Literatur stets das, was sie auch bleiben wird: ein langes inneres Tagebuch, ein ununterbrochener Dialog mit mir selbst“, beschreibt der rumänische Autor Mircea Cărtărescu seinen Schaffensprozess in seiner Dankesrede, die er anlässlich der Preisverleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung 2015 hielt. Und er fügt mahnend hinzu: „Die Schriftsteller, die die Grubenblüten des inneren Lebens ans Tageslicht befördern, die im Geist des menschlich Wahren schreiben, die den Verlockungen der Buchindustrie widerstehen, riskieren im Zwielicht und randständig zu bleiben.“ Nüchtern betrachtet bedeuten seine Worte nichts anderes als: Schreiben heißt, sich zu kasteien! Es geht um den Inhalt, der sich nur in Form intensiver gedanklicher Beschäftigung mit dem Ich und der Welt entwickeln kann. Cărtărescu hat Recht. Schreiben ist einsam, und der eigentliche Prozess des Aufs-Papier-Bringens wird immer einsam bleiben. Doch zugleich eröffnet die Sphäre des Digitalen der Literatur neue Möglichkeiten, diesen im Kern Einzelarbeit bleibenden Schreibprozess zu reflektieren, umzudeuten, zu erweitern – auch wenn dies nicht notwendigerweise zugunsten der literarischen Qualität geschieht.
Partizipation als Selbstbespiegelung: Social Reading
Vor allem aufgrund digitaler Vernetzungsmöglichkeiten sind Autor und Leser näher aneinander gerückt. Der Leser ist mündig geworden und taucht heutzutage als passionierter Blogger oder Mitglied einer digitalen Lesegemeinschaft auf – Social Reading ist in aller Munde. Was die neuen, netzbetriebenen Literaturzirkel von ihren „analogen“ Vorgängern unterscheidet, ist eine oftmals symbiotische Beziehung zwischen Produzent/Autor und Konsument/Leser, insbesondere dort, wo es um Genreliteratur geht (und Genreliteratur dominiert bis dato auf so gut wie allen Social-Reading-Plattformen – auch denen, die angetreten sind, eine Bühne für literarisch anspruchsvolle Bücher zu bieten).
Die Autoren wissen in diesem auflagenstarken und viel umkämpften Marktsegment um die Macht des Lesers bzw. insbesondere der Leserin. Sie stellen sich dem Publikum, indem sie beispielsweise auf Deutschlands größter, zum Holtzbrinck-Konzern gehörender Social-Reading-Plattform LovelyBooks an sogenannten Leserunden teilnehmen. Wer diese Leserunden verfolgt, erkennt schnell die Gesetze des Marktes, die kaum überraschen. Das oberste Credo lautet immer: Schreibe so genrekonform wie möglich. Besonders effizient sind diejenigen Autoren, die sich dem Reihenprinzip verschrieben haben und auf diese Weise von Band zu Band immer präziser den Wünschen der Leserschaft entsprechen können. Prototypisch sei hier die Autorin Carmen Lobato in der Diskussion über ihren historischen Roman Die Stadt der schweigenden Berge zitiert: „Dieses eine Mal stehe ich mit einem Roman in einer Leserunde, während der zweite Teil (ich schreib ja sonst keine) hier auf meinem Schreibtisch liegt. Da hilft mir jeder Hinweis von euch unter Umständen ganz konkret, mein Buch besser zu machen! (Und wenn es recht ist, würde ich an ein paar Stellen auch gern ein paar ganz konkrete Fragen stellen.)“ Die Leserunde als Kundenbefragung in Echtzeit also: Wie können wir das Produkt verbessern?
Verbessern kann man es, das legen die Antworten der User nahe, indem man das Identifikationspotential der Figuren erhöht. Wenn eine Leserin bekennt: „Von den ersten Seiten an war ich mittendrin in der Geschichte und Amarna war mir sofort sympathisch. Teilweise fragte ich mich sogar, ob ich nicht aus Versehen als Hauptperson in das Buch gerutscht sei … begeisterte Studentin? Liebt gutes Essen? Angst vor der Dunkelheit? Das bin doch ich!“, so ist das genau im Sinne der Autorin: „Ist das schön, zu hören, dass meine Amarna (die ich ganz fürchterlich gern mag, wie ich gestehen muss – obwohl ich sonst mit meinen Frauenfiguren oft Probleme habe) da draußen ‚live‘ herumläuft.“ Genreliteratur, insbesondere historische Romane oder Liebesromane, lebten schon immer von ihrem identifikatorischen Potential, doch durch die direkte Mitsprache der Lesergemeinschaft lässt sich dieses Prinzip noch potenzieren. Der Autor kann den Leser beim Schreiben nicht nur mitdenken, sondern bei Bedarf – er ist nur einen Klick entfernt – in direkten Kontakt mit ihm treten. Nicht zuletzt bestimmt dieses Verhältnis von Autor und Leser einen Großteil der Selfpublishing-Welt, die ebenfalls fast ausschließlich die Genreliteratur bedient. Selbstverlegen bedeutet in der Regel Selbstoptimierung des Geschriebenen im Hinblick auf die Wünsche der Leser.
Partizipation als Neudefinition des Autorbegriffs: die „Versionierung“ des Schreibens
Doch auch abseits des Genres ermuntern die Veränderungen des Leser-Autor-Verhältnisses Autorinnen und Autoren zum Experimentieren mit und Reflektieren über neue Formen der Produktion und Rezeption von Literatur. Als ein solches Experimentierfeld lässt sich Dirk von Gehlens Projekt Eine neue Version ist verfügbar – Update. Wie die Digitalisierung Kunst und Kultur verändert verstehen. Kultur im Zeitalter der Digitalisierung als Software zu verstehen, lautete der Ausgangsgedanke des Social-Media-Beauftragten der Süddeutschen Zeitung und Redaktionsleiters von jetzt.de. „Ich glaube […], dass digitalisierte Inhalte einer Art Klimawandel unterzogen werden und durch die neuen klimatischen Bedingungen eine Veränderung ihres Aggregatzustands erleben. Sie werden flüssig, sie werden zu Software. Um also zu verstehen, wie man mit digitalisierten Inhalten umgehen kann, muss man diesen Klimawandel verstehen. Man muss Kultur weniger als Produkt, sondern als Prozess denken, indem nicht einzig ein robustes Werkstück, sondern die Entstehungsversionen eine Rolle spielen.“ Diesen Gedanken der „Verflüssigung“ von Kultur und der damit verbundenen Aufwertung der Produktionsstufen versuchte von Gehlen umzusetzen, indem er per Crowdfunding Geld für ein Buchprojekt sammelte, dessen Entstehungsprozess diejenigen Leser bzw. Projektteilnehmer, die sich registriert hatten, von Beginn an begleiten konnten. 350 Leserinnen und Leser erhielten nach dem Startschuss vom Autor über Monate hinweg regelmäßige Updates, in denen der Schreibprozess dokumentiert und neue Kapitel vorgestellt wurden.
Was aber bedeutete das nun für das partizipative Moment? Durch die Offenlegung des Entstehungsprozesses änderte sich die Rolle der Leser. Zwar waren sie, anders als bei den LovelyBooks-Leserunden, vornehmlich stumme Teilnehmer, die sehr viel mehr als in den digitalen Lesekreisen dem traditionellen Rezipienten im ursprünglichen Sinne des Wortes entsprachen; dennoch veränderte ihre Präsenz die Schreibhaltung des Autors nachhaltig. „Man fühlt sich unfrisiert und ungeschminkt. Es werden Ergebnisse (salon-)öffentlich, die nicht druckbar sind. Genau darin liegt aber eben der Unterschied zum analogen Schreiben: Es wird versioniert, bevor Inhalte in klassischer Form veröffentlicht werden.“ Führt man den Gedanken weiter und abstrahiert vom reinen Gefühl der Schutzlosigkeit, von dem von Gehlen hier schreibt, ließe sich behaupten: Der Autor wird angreifbarer. Die Offenlegung des Entstehungsprozesses und die Sichtbarmachung des Versionellen in unserem digitalen Zeitalter bedeutet möglicherweise, dass das Originalgenie endgültig der Vergangenheit angehört: „Im Digitalen […] sind unsere Texte nicht abgeschlossen und unveränderlich fertig. Im Digitalen stehen wir in einem andauernden Gespräch. Texte sind keine festgeschriebenen Dokumente, sie werden verbreitet und weitergenutzt, sie regen zum Dialog an, und wir können (und müssen) sie überarbeiten, fortschreiben und diskutieren.“ Partizipation als letzter Sargnagel für den Geniebegriff?
Partizipation als Spielwiese des Autors: gemeinsames Schreiben
Das Versionelle sichtbar machen wollte auch eine Gruppe von Schriftstellern, die sich Anfang dieses Jahres auf dem Blog Hundertvierzehn des S. Fischer-Verlages traf, um gemeinsam an einem „Erzählexperiment“ zu arbeiten. Im Verlauf von drei Wochen schrieben neun Autorinnen und Autoren an dem „Mosaik-Roman“ Zwei Mädchen im Krieg. Pro Woche entstanden drei Texte, die öffentlich sichtbar bearbeitet und von den anderen kommentiert werden konnten. Eine Weiterentwicklung des Kollektivromans, in der nunmehr parallel denn hintereinander weg geschrieben wurde. Der Autor, Journalist und Regisseur Thomas von Steinaecker hatte dazu aufgerufen, sich gemeinsam in einen solchen, von ihm als digitales Labor bezeichneten öffentlichen Schreibprozess zu begeben. Im geteilten Schreiben über ein politisch aktuelles Thema – vorgegeben war einzig, dass sich der Text um die wahre Geschichte zweier Wiener Mädchen drehen sollte, die sich in Syrien dem IS angeschlossen hatten – sollte die Frage nach dem gesellschaftspolitischen Beitrag der Literatur, des Schriftstellers debattiert werden: „Warum eigentlich diese Angst vor der gesellschaftspolitischen Macht von Kunst?“ Die Verknüpfung zweier Diskursfelder, dem des öffentlichen Schreibens und dem des politischen Schreibens, erfolgte zwar zu Lasten der literarischen Qualität einiger Texte, in denen sich die Unsicherheit ihrer Urheber teilweise deutlich spiegelt. Zugleich jedoch entspann sich eine äußert lesenswerte Diskussion zwischen den Autorinnen und Autoren in der Kommentarspalte. Hier wurde weniger kommentiert denn auf einer Metaebene über Thema und Produktionsbedingungen reflektiert. Praktische Fragen wie etwa die nach der handwerklichen Ebene des Schreibens („Auffallend und interessant ist ja, dass ihr alle […] in einem mündlichen Modus schreibt […]. Wie geht ihr da vor? Ich stelle an mir selbst fest, dass diese ausgestellte Sprechsprache immer wie in Anführungszeichen wirkt und ihr Gemachtsein ausstellt.“, Thomas von Steinaecker) wurden nur am Rande gestellt. Stattdessen entwickelte sich die Kommentarfunktion vor allem zu einem „Scratchbook einer angehenden Realismusfunktion“ (Kathrin Röggla), in dem die Frage nach dem Wie und Warum der fiktionalen Darstellung politisch aktueller Inhalte diskutiert wurde.
Doch auch die zweite Ebene, das partizipative Schreiben, wurde zum Reflektionsgegenstand: „Werde ich – denn jeder der Schreibenden hat wohl Zugriff auf meinen Text – gleich durchgestrichen, überschrieben, umgeschrieben“, fragt bzw. kommentiert Kathrin Röggla gleich zu Beginn. Und sie hinterfragt die – um das Begriffsraster Dirk von Gehlens noch einmal aufzugreifen – Vorstellung von Kultur als Software: „Ist Material schon Stoff?“ Röggla kommt in ihren Kommentaren der Kernfrage nach der neuen Urheberschaft im Rahmen einer virtuellen Gleichzeitigkeit am nächsten, sicherlich auch, weil sie als einzige nur mehr als Kommentatorin und nicht als Autorin auftritt und damit am wenigsten exponiert ist. Wie also kann man als Teil eines Schriftsteller-Kollektivs eine eigene authentische Stimme behalten? Eine Antwort findet sie nicht. Und müsste man daran anknüpfend nicht die Frage stellen, ob es überhaupt sinnvoll ist, beim gemeinsamen Schreiben die eigene Stimme noch als Leitmedium zu verstehen? Hätten, denkt man das Experiment konsequent zu Ende, nicht die Autornamen in Text und Kommentar gar nicht erst genannt werden sollen?
Für einen solchen Schritt war die Idee der eigenen Autorschaft in dem Experiment womöglich (noch) zu präsent. Vor allem Jan Brandt, auch er einer der Autoren des Projektes, trennt deutlich zwischen Schreib- und Kommentarebene. Er erfüllt den „Auftrag, jeden Tag etwas zu produzieren und in einer Woche live vor aller Augen einen Text zu schreiben“ mit Unbehagen, hat man den Eindruck, und hält dementsprechend an den gängigen Produktionsstufen des Schreibprozesses fest: „Da fehlt natürlich der Abstand, die Reflexion, das ist nicht mehr als ein erster Entwurf, mit allen Stärken und Schwächen des unmittelbaren Schreibens.“ Die partizipierende Öffentlichkeit, nicht zuletzt das während des Experiments sich formierende Medienecho, empfindet er als „von außen herangetragene Irritationen und Störungen, die ich, da ich sonst ganz für mich schreibe und den Text erst herausgebe, wenn er fertig ist, erst sehr spät, erst nach Abschluss der Arbeit zu spüren bekomme.“ Diese Irritationen finden bei ihm dementsprechend keinen Eingang in das Geschriebene, was sich bei einigen der Autoren anders verhält. Spannend wird es dann, wenn sich Kommentar und Text verbinden und eine tatsächlich neue Form der schriftstellerischen Produktion entsteht, auch wenn sich in ihr primär das „Phänomen des Scheiterns“ zeigen sollte, wie Fridolin Schley in einem Kommentar bemerkt, das am deutlichsten wird „bei unseren fast zwangsläufig oft aneinander vorbei geführten Kommentar-Gesprächen, die dann wiederum in die neuen Texte einfließen und dort treffend ironisch auf die Schippe genommen werden.“
Zusammenfassung
Partizipation und Literatur – also doch kein Widerspruch? Qualitativ hochwertige Literatur mit inhaltlich-literarischem wie stilistischem Anspruch wird immer den Entstehungsraum brauchen, den ein Autor wie Cărtărescu ihr einräumt. Aber der Literaturbegriff hat im letzten Jahrzehnt eine deutliche Erweiterung erfahren – und einen neuen Typus an Autorinnen und Autoren hervorgebracht, der mit den Chancen und Grenzen neuer Technologien experimentiert. Das digitale Experimentierfeld für Autoren, Leser und nicht zuletzt Verlage ist weit und seine Möglichkeiten sind noch lange nicht ausgereizt. Wasting Time on the Internet heißt beispielsweise ein neuer Uncreative Writing-Kurs (mehr dazu hier), den der Konzeptpoet Kenneth Goldsmith an der US-amerikanischen University of Pennsylvania anbietet. Man darf sehr gespannt sein! Über den Tod des Autors ist ausreichend diskutiert worden. Über den äußerst lebendigen Leser noch zu wenig.
Hanna Hesse
Hanna Hesse bloggt auf rosinenpicker@goethe.de über die Buch- und Medienwelt.