Alles wird gut, wenn man weiß, wo der Wodka ist.
Alfonso Cuaróns intimes Kammerspiel in der endlosen Weite des Weltraums ist der Abräumer der Oscarverleihung 2014. Christopher Werth hat es sich angesehen.
Wie gut Country-Songs im Weltraum funktionieren, hat schon John Carpenter in seinem ersten Spielfilm „Dark Star“ gezeigt. Aus dem üblichen Kitsch-Kontext gelöst, erzählt das Erdverbundene, Sehnsuchtsvolle der Musik ganz einfach die Einsamkeit eines Menschen in den unendlichen Weiten des Weltraums.
Während in „Gravity“ der Astronaut Matt Kowalski (George Clooney) noch glaubt, seinen letzten Weltraumspaziergang zu machen und er elegant mit seinem Jet Pack Rucksack um das Hubble-Weltraumteleskop kurvt, legt er für alle „Angels Are Hard to Find“ von Hank Williams Jr. auf. Die im Song beschriebene Erfahrung hat er natürlich in mehrfacher Hinsicht selbst gemacht. Er genießt die fantastische Aussicht auf die Erde und erzählt nicht ohne Selbstironie der übrigen Crew und der Mission Control in Housten (Stimme: Ed Harris), wie er mal wochenlang sehnsüchtig jeden Morgen aus dem All seiner Frau in Texas Kusshände zugeworfen hat, während sie sich tausende Kilometer weiter unten mit einem Anwalt vergnügte. Ein lässiger, abgeklärter Cowboy auf seiner leider letzten Mission. Ganz Gentleman hilft er locker plaudernd der nervösen Wissenschaftlerin Ryan Stone (Sandra Bullock) bei ihrer Reparatur am Teleskop – lässig fängt er eine Schraube, die ihr bei der Arbeit entschwebt und gibt sie zurück. Die kleine Szene deutet schon an, was für ein Typ er ist. Der Weltraum ist sein Element, sein Revier. Er ist mit sich im Reinen, identisch mit sich und seinem Job. Er bewegt sich hier so selbstverständlich und sicher wie – nun ja, ein Cowboy auf seinem Pferd.
Das absolute Gegenteil zu ihm ist Dr. Ryan Stone, die Heldin des Films. Sie hat mit der lebensfeindlichen Welt zu kämpfen. Die nervöse, hochintelligente Wissenschaftlerin, die den Unfalltod ihrer Tochter noch lange nicht überwunden hat, war früher Ärztin und ist mit der neuen Situation komplett überfordert. Erstes Mal im All, erster Außeneinsatz. Schon beim kleinsten Problem zickt sie die die Bodenstation an. Dann passiert auch noch das Schlimmstmögliche: Alarm, die Operation muss abgebrochen werden, weil unkontrollierbar herumfliegender Weltraumschrott eine Kettenreaktion ausgelöst hat und einen Satelliten nach dem anderen zerstört.
Ein Wahnsinniger Trip beginnt. Ein Trip, in dem die beiden gegensätzlichen Figuren in einem Spannungsfeld aus Anziehung und Abstoßung aneinandergekettet werden und zusammen ums Überleben kämpfen müssen.
Zuerst war Angelina Jolie für die Rolle der Dr. Ryan Stone im Gespräch. Es folgten angeblich Naomi Watts, Marion Cotillard, Carey Mulligan, Scarlett Johansson, Sienna Miller, Abbie Cornish, Rebecca Hall, Olivia Wilde, Blake Lively und Natalie Portman. Im Nachhinein ist Sandra Bullock genau die richtige Wahl gewesen. Ein Star, aber einer, mit dem man sich identifizieren kann. Wer sollte sonst diese antiheroische Unsicherheit, Fragilität und nervöse Intelligenz spielen können? Ein Mensch im Spannungsfeld zwischen Himmel und Erde. Auf einer Reise zwischen Leben und Tod.
Ryan überlebt schließlich nur mit Glück. Sie hat einen ganz besonderen Schutzengel – und die sind zwar bekanntlich schwer zu finden, aber wissen in Form von George Clooney dafür ganz genau, wo z.B. in der Raumstation ISS der Wodka versteckt ist. Mit ihrem Schutzengel, der sich für sie opfert, findet sie den Willen, trotz dem Unfalltod ihrer Tochter nicht aufzugeben, sich aus dem Anziehungsfeld des Todes wieder in das Kraftfeld des Lebens zu begeben und zu kämpfen.
Noch nie war der Weltraum so betörend schön, der Zustand der Schwerelosigkeit in langen Einstellungen so verblüffend echt. Der Soundtrack im Spannungsfeld von absoluter Stille und Lärm mixt Lagen von Störgeräuschen, Stimmenfetzen, elektronische Musik und Orchesterelemente zu einer spannungsgeladenen Soundcollage.
Von der Idee zum fertigen Film hat es Jahre gedauert, ganz einfach, weil die Technik noch nicht so weit war. Es wurden Erfindungen gemacht, Technologien neu kombiniert. Sandra Bullock musste schließlich monatelang täglich in eine besondere Box klettern, in der die Illusion des Schwebens erzeugt wurde, indem sich das Licht um sie herum bewegte und sie dabei von minutiös programmierten Kameras auf präzisen Industrierobotern, die sonst zu Herstellung von Autos benutzt werden, gefilmt wurde. Der Rest wurde digital ergänzt.
„Gravity“ ist eine einfache, intime Geschichte über das Loslassen. Aber so erzählt, wie man es im Kino bisher weder gesehen noch gehört hat. Der Erfolg lässt sich vielleicht auch damit erklären, dass der Film die Zuschauer wieder zurück zum Ursprung der Faszination des Mediums Kinos führt. Zum Staunen über die Magie der Bilder.
Christopher Werth
Gravity. UK/USA 2013. Regie: Alfonso Cuaron. Schauspieler: Sandra Bullock, George Clooney, Ed Harris (nur Stimme). Musik: Steven Price. Kamera: Emmanuel Lubezki. Schnitt: Alfonso Cuarón, Mark Sanger. Set Design: Andy Nicholson. Art Direction: Mark Scruton. Ton: Skip Lievsay, Niv Adiri, Christopher Benstead und Chris Munro. Tonschnitt: Glenn Freemantle. Visuelle Effekte: Tim Webber, Chris Lawrence, Dave Shirk und Neil Corbould. Stills: Warner, Quelle.
Einen Weltraumspaziergang kann man hier unternehmen.