Banalität als Kunstform?
– Streetphotographie ist, je nach Betrachtungswinkel, entweder ein klassisches Genre oder mittlerweile völlig zu Tode geritten. Von David Kregenow.
Davon ausgehend, dass beides zutreffend ist, kann man zumindest konstatieren, dass die Aufnahmen des alltäglichen Straßenlebens, im Laufe der Zeit eine Evolution erlebten, die vom perfekten Moment à la Cartier-Bresson, Elliott Erwitt oder Robert Doisneau, über explizit soziale Blickwinkel führte, wie sie Walker Evans und Robert Frank einnahmen, um schließlich bei den amerikanischen Vertretern der New Color Photography – allen voran Garry Winogrand – zu landen, die dem Leben in Schnappschussmanier zu Leibe rückten.
Wenn man diese Entwicklung bis hin zur Gegenwart überblickt, wird deutlich, dass sich mehrere grundlegende Zutaten geändert haben müssen, die die Bildqualität ausmachen. Betrachtet man zum Beispiel die Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Doisneau, Cartier-Bresson etc., so fällt nicht nur auf, dass die Bilder von einer zentralen Figur oder Situation bestimmt werden, sondern ebenfalls, dass Hintergrund, Bildausschnitt und Komposition bewusst einbezogen, zur Gesamtwirkung des Bildes beitragen.
Was dann seit den sechziger Jahren auf der anderen Seite des Atlantiks entstand, unterschied sich nicht nur durch die farbliche Dominanz der Produkte von Kodak, sondern auch durch einen scheinbar unbekümmerten Blick aus Augenhöhe, der, von Ausnahmen abgesehen, alles gleichermaßen beliebig ablichtete, was vor der Linse auftauchte, und sich weder um Bildkomposition, noch um technische Belange zu kümmern schien.
Optimistisch gesehen war dies der Beginn der Demokratisierung der Photographie, pessimistisch formuliert war es der Anfang vom Ende und der Unterschied zu den Bildern, die in der Folge von Millionen von Hobbyfotografen zwischen Rimini und Rhode Island aufgenommen wurden, verblasste bis zur Unkenntlichkeit.
In der Folgezeit verschwand die Streetphotographie mehr und mehr aus dem Blickfeld und während ein Großteil jener Bilder zurecht in Kartons auf Dachböden und in Schrankwänden verstaubte, wurden andere in die luftigen Höhen von Ikonen emporgeschrieben und dem musealen Kanon einverleibt – der Schnappschuss war zur Kunstform geworden.
Wie kann man sich also heutzutage diesem Genre noch nähern, ohne sich in Redundanzen zu verlieren? Paul Graham versucht es auf konzeptionellem Wege, indem er den einen, vermeintlich speziellen Moment ignoriert und sich stattdessen – scheinbar willkürlich – darauf konzentriert, jeweils zwei, mitunter drei Aufnahmen hintereinander zu setzen, die sich nur durch einen Sekundenbruchteil, eine leichte Veränderung des Blickwinkels oder der Tiefenschärfe voneinander unterscheiden. Dies führt zu bildlichen Kombinationen, die den Fluss der Zeit und die menschliche Wahrnehmung visualisieren und durch die Gegensätzlichkeiten der vermeintlichen „Gleichzeitigkeit“ überraschen sollen.
Folglich sieht man auf den Bildern das, was Paul Graham als die Narration des täglichen Lebens bezeichnet und die darin besteht, dass Figuren auftauchen und verschwinden, Autos in ein Bild hinein- und aus dem nächsten herausfahren, die unterschiedlichsten Personen eine Kreuzung überqueren, zwei verschiedene Kuriere ein Gebäude verlassen oder ein Mann, über eine Sequenz von drei Aufnahmen, einen Zug aus einer Zigarette nimmt.
All dies ist völlig alltäglich und entspricht dem, was jederzeit von jedem in einem urbanen Umfeld wahrgenommen werden kann. Allerdings handelt es sich hier nicht um Illustrationen in einer Fachpublikation zum Thema Wahrnehmung, sondern um Bilder, die mit dem Etikett Kunst versehen werden.
Paul Graham geht es genau um diese Wahrnehmung, ihre Selektivität und die Flüchtigkeit der sogenannten Gegenwart, die immer nur einen Ausschnitt aus vielen möglichen Blickwinkeln darstellt. Ein spannender konzeptioneller Ansatz, dessen Umsetzung letztendlich an zwei grundlegenden Punkten scheitert. Einerseits bildet auch eine Sequenz von mehreren Aufnahmen immer nur einen subjektiven Ausschnitt und somit einen fraktalen Eindruck von Gegenwart ab. Zumal, wenn diese nur in jeweils einer Blickrichtung festgehalten wird.
Der zweite Punkt ist jedoch gravierender, weil es hier um die Umsetzung des gedanklichen Gerüsts geht, um das Medium Fotografie. Nach dem, was Paul Graham über seine Arbeit erzählt, hat er es sich nicht leicht gemacht. Über mehrere Jahre durchstreifte er New York mit einer digitalen Mittelformatkamera und fotografierte dabei freihand ca. 45.000 Aufnahmen, aus denen er die hier versammelten herausfilterte. Beim Betrachten fällt einem zunächst auf, dass sie wie willkürliche Standbilder aus einem Film erscheinen – ein Medium, dessen Einsatz Paul Graham ablehnte, um sich nicht dessen narrativen Prämissen unterzuordnen. Sieht man genauer hin, fällt die offensichtliche Beliebigkeit des Blickwinkels auf, die anscheinend unmotivierten Bildausschnitte, die Verweigerung gegenüber jeglichen kompositorischen Erwägungen, die häufig ungünstigen Lichtverhältnisse und – was sich auf Nachfragen bestätigt – der Verzicht auf Nachbearbeitung, was besonders darin zum Ausdruck kommt, dass fast alle Aufnahmen unausgerichtet nach rechts kippen.
In der Hinsicht betritt Paul Graham tatsächlich weitgehend Neuland in der professionellen Fotografie: das Medium Fotografie, das das entscheidende Werkzeug zur visuellen Umsetzung der kreativen Gedanken des Fotografierenden ist, wird hier vollständig marginalisiert und quasi obsolet und gleichzeitig negiert der Fotograf jegliche Individualität und verschwindet seinerseits hinter der Kamera, deren Anforderungen und Möglichkeiten er ignoriert. Aus diesem doppelten Minus von Gedanken und Umsetzung ergibt sich in diesem Fall kein Plus, nicht einmal ein geschickt getarnter Litotes, sondern einzig die ungute Gewissheit dabei zuzusehen, wie hier die Fotografie nachhaltig in eine Abwärtsspirale geschickt wird, während sich parallel dazu, Kritik und Kunstmarkt zu immer neuen Elogen aufschwingen, was ein trauriger Beleg dafür zu sein scheint, dass Denkansätze wichtiger sind, als das, was aus ihnen folgt.
Wer sich selber einen Eindruck schaffen will, dem bietet Mack Books eine aufwändig gestaltete Publikation an, die Paul Grahams Sequenzierung in ein adäquates Layout übersetzt (Beispiele hier). Mit zahlreichen einfachen und doppelten Gatefolds, leeren Seiten, die als Pausenzeichen in der Syntax der bildlichen Erzählung dienen und der von Mack gewohnt hohen Druck- und Verarbeitungsqualität ist hier ein Buch erschienen, das einen fast vergessen lassen könnte, dass es, auch bei Fotobüchern, um den Inhalt geht.
David Kregenow
Paul Graham: The Present. Steidl / Mack 2012. 24,5 x 30,5cm. 114 Seiten. 55,00 Euro. Fotos anschauen können Sie hier.
Zur Homepage von David Kregenow geht es hier.