Bevor alle Namen verschwinden, ist es schön am Nebelort
In ihrem Romandebüt „Ben“, das 2010 im feinen kookbooks-Verlag das Licht der Welt erblickte, erzählte Annika Scheffel auf sehr unkonventionelle Weise von einem Paar, dessen Schicksale auf seltsame, magische Weise miteinander verwoben sind, von zwei Menschen, die von höheren Mächten als dem eigenen Willen füreinander bestimmt sind. Held des Romans ist Benvolio Antonio Olivio Julio Toto Meo Ho, der auf dem Weg zu seiner großen Liebe märchenhafte Abenteuer bestehen muss und hierbei nach und nach die ihm von seinen Eltern gegebenen Namen ablegt. In ihrem neuesten Roman ist es ein namenloser junger Mann, der von einer Frau gerettet werden muss, die ihm einen Namen und eine Geschichte gibt.
„Ben“ war ein mutiges, verspieltes Debüt voller Witz, Anspielungen und Zahlenmagie, das Möglichkeiten des Erzählens auslotete. Annika Scheffels zweiter Roman „Bevor alles verschwindet“, mit dem sie zur Suhrkamp-Autorin wurde, kam auf den ersten Blick konventioneller erzählt daher. Doch auch, wenn die Geschichte eines Dorfes, das einem großen Staudamm-Projekt weichen muss, weniger kapriziöse Volten schlägt als „Ben“, lauert hinter so manchem Satz ein doppelter Boden. Anlehnungen an den Magischen Realismus, ein Sinn für skurrile Bilder und bittere Komik lassen den ausweglosen Kampf einer Dorfgemeinschaft gegen „die Verantwortlichen“ besonders tragisch wirken. Alternativ zur drohenden Überflutung des Tales kann sich der Leser auch gigantische Braunkohlebagger denken, die die kleine Welt der Dorfbewohner zum Verschwinden bringen.
In ihrem aktuellen Roman erzählt Annika Scheffel wieder verrätselter, geheimnisvoller. Und es geht diesmal um das Ende der Welt, wie wir sie kennen: Weil die Erde immer unwirtlicher wird, die Atmosphäre vergiftet ist und die Sonne sich nur noch selten eine Schneise durch den Smog bahnt, sollen zwei „Auserwählte“ die Reise zu einem fernen Planeten machen, um dort den Grundstein für eine neue menschliche Zivilisation zu legen. Die Auswahl erfolgt mittels einer Art Castingshow, die für manchen der Bewerber tödlich endet. Mit nur 16 Jahren hat sich Irma für diese Show beworben und tatsächlich alle Tests bestanden. Der männliche Auserwählte ist ein geheimnisvoller Mann ohne Vergangenheit. Er sei an einem der letzten Sonnentage vom Meer an Land gespült worden, lautet seine Legende – das Publikum hat ihm den Namen „Sam“ verliehen. Nach zehnjähriger Vorbereitungszeit auf das große Projekt soll es endlich losgehen ins All, da bietet sich für Sam die Gelegenheit zur Flucht. Irma, die ihn zunächst zurückhalten will, schließt sich ihm an. Mit Hilfe einer unlesbaren Karte will Sam eine geheimnisumwobene Insel finden, wo er sich Antworten auf die Frage nach seiner Herkunft erhofft. Bei ihrer Reise durch unwirtliche Landstriche und ausgestorben wirkende Städte wissen die beiden nie, wem sie vertrauen können – und vor allem nicht, wer sie beobachtet. Ihnen auf den Fersen sind die „Masken“, Mitarbeiter der Produktionsfirma, die durch schwarze, an Pestmasken erinnernde Vogelmasken anonym und unmenschlich bleiben.
Eine Verfilmung durch Terry Gilliam wäre denkbar
Gehört diese „Flucht“ möglicherweise mit zur Inszenierung der Show? Was sich in der inhaltlichen Zusammenfassung wie ein weiter gesponnener Mix aus „Das Millionenspiel“ und „Running Man“ beziehungsweise für die Jüngeren „The Hunger Games“ anhört, durchbricht in seiner Erzählform die Konventionen des Science Fiction-Genres. Scheffel erzählt nicht chronologisch-stringent, belässt vieles in Andeutungen, gibt der Phantasie des Lesers Futter: Anhand von Briefen, die Irmas Eltern, Freunde und anonyme Fans schreiben, gibt sie diesem zunächst nur Puzzleteile an die Hand, mit denen er sich das Szenario auf der nicht allzu fernen Welt und die Fernsehshow Stück für Stück zusammensetzen kann. Aus Nebensätzen in diesen Briefen erfährt man, welche Lebensmittel mittlerweile Mangelware sind, wie sich gesellschaftliche Schwerpunkte verlagert haben. Mit Beginn der Flucht streut die Autorin Rückblicke in Irmas früheres Leben ein, zieht aber trotzdem das erzählerische Tempo rasant an. Die Handlung nimmt mehrfach unglaubliche Wendungen und selbst den Protagonisten wird klar, dass hinter all dem ein großer Plan stehen muss. Annika Scheffel lässt die Grenzen zwischen (virtueller?) Realität und Traum verschwimmen. Eine Verfilmung des Romans durch Terry Gilliam wäre denkbar, ja drängt sich nahezu auf, spätestens wenn die Raumfähre, die die Auserwählten zu einem fernen Planeten bringen soll, einem Segelschiff nachempfunden ist. In Irmas und Sams Welt ist die Sonne weitestgehend verschwunden, Tage, an denen sie sich blicken lässt, werden zu Feiertagen. Dass der Roman ausgerechnet in dem Jahr erscheint, in dem zumindest in Deutschland fehlende Sonne das geringste Problem war, ist eine Ironie der Zeit – doch die Tatsache, dass wir auf einen Klimakollaps zusteuern und mehr Geld in die Raumfahrt als in die Klimarettung auf der Erde investieren, lässt Annika Scheffels Dystopie möglicher erscheinen, als es einem als Leser lieb sein kann. Irma und Sam stellt sich letztlich die Frage, ob ihre Zukunft im All oder doch auf der Erde liegt. Die Figur des abgeschottet unter Laborbedingungen aufgewachsenen Sam ermöglicht dabei einen kindlich-naiven Entdeckerblick auf die Welt. Während Irma fast nur Grautöne und Zerfall wahrnimmt, geht Sam mit weit aufgerissenen, leuchtenden Augen staunend durch diese für ihn neue Welt. Regen! Tränen! Schokolade! Die Sonne! Das Meer! Der Hund! – In dieser Begeisterung für die sich am Abgrund befindende Welt versteckt sich der unausgesprochene Appell, den Blick für das Schöne zu schärfen, sich einzusetzen für die kleinen Dinge, die selbst das Leben in einer grauen Welt nicht nur erträglich, sondern lebenswert machen.
So ergeben sich durchaus Parallelen zu Annika Scheffels wunderbarem Kinderbuch „Nelli und der Nebelort“ (zur CM-Besprechung). Hier bedarf es der Phantasie und des Entdeckergeistes der Kinder, um den Nebel zu lichten, den die Erwachsenen um sich herum errichtet haben. Aber während Nelli und ihre Freunde kinderbuchgerecht die Welt retten, ist Irma und Sam ein weniger tröstliches Ende beschieden.
Frank Schorneck
Annika Scheffel: Hier ist es schön. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 389 Seiten, 22 Euro.Verlagsinformationen. Ihre Internetseite hier.
Frank Schorneck ist Rezensent und Literaturveranstalter (u.a. „Macondo – Die Lust am Lesen“) sowie Vorleser. Mit seinen Kollegen von der www.whiskylesung.de widmet er sich dem Wechselspiel von Alkohol und Literatur. Seine Texte bei CulturMag.