Geschrieben am 9. November 2011 von für Litmag

Greil Marcus: When That Rough God Goes Riding. Über Van Morrison

Auf der Suche nach dem verlorenen ‚yarragh‘

– Es ist möglich, dass George Ivan Morrison „über die vollste und ausdrucksstärkste Stimme der Popmusik seit Elvis Presley verfügt“, schreibt Greil Marcus in der Einleitung seines dem als Van Morrison bekannten Sänger gewidmeten Buches. Dieses Lob wäre noch zu ergänzen: Neben Bob Dylan und Neil Young darf man Van Morrison wohl als den nicht bloß ausdauerndsten, sondern schlichtweg besessensten Solokünstler seiner Generation bezeichnen. Von Joe Paul Kroll

Nun hat Bob Dylan keine noch so beiläufige Äußerung von sich gegeben, die nicht von einer hungrigen Interpretenschar zerpflückt worden wäre, und kein Rückzug aus der Öffentlichkeit hat dies je verhindern können. Neil Young wiederum ist stets zugänglich geblieben, dem Anschein nach ein ehrlicher Arbeiter im Weinberg der Americana, der uns auch im sechsten Jahrzehnt seines Schaffens noch ein vertrauter Begleiter ist.

Hingegen von Van Morrison weiß man eigentlich nichts – keine Motorradunfälle, keine politischen Einmischungen, keine aktenkundigen Exzesse, nichts also, was zwischen den Mann und seine Musik treten könnte und so wiederum zwischen diese und den Hörer. Das ist ein großes Glück.

Und doch trägt sich der Hörer mit der Frage, die auch Greil Marcus stellt: Was macht Van Morrison so außergewöhnlich? Ihn, der schon in seiner Jugend über weitaus weniger Star-Appeal verfügte als inferiore Sänger; ihn, der statt Unmittelbarkeit Distanz kommunizierte? „Was ihm an Glamour fehlte, machte er durch Fremdartigkeit wett …“ – „Ain’t nothing but a stranger in this world“, sang Morrison im Titelstück von „Astral Weeks“, und doch wurde aus dieser Fremdheit nie ein Zorn gegen die Welt oder ihren Schöpfer, und nie erschien sie als existentialistische Pose. Diese Fremdheit ermöglichte ihm vielmehr eine unbedingte Hingabe an seine Kunst, eine Nähe zu seinem Gott, die auch dem Ungläubigen sofort einleuchtet.

So ist es eben kein Widerspruch, wenn Morrison in der Öffentlichkeit erscheint als ein „schlecht gelaunter, sich selbst widersprechender Einzelgänger, dessen Werke von der Freiheit handeln“. Bleibt aber das Rätsel der Musik selbst. Marcus ist nicht angetreten, eine Biografie Van Morrisons zu schreiben, auch ist sein Buch keine umfassende Werkschau. Es besteht aus kurzen Essays von zwei bis zwanzig Seiten, die eine Platte, einen Song, einen Augenblick im Konzert zum Anlass nehmen, darüber oder dann doch über etwas anderes nachzusinnen. Denn, so Marcus, „wie ich sie höre, enthält Van Morrisons Musik eine Geschichte – eine Geschichte, die sich aus Fragmenten zusammensetzt“.

Van Morrison (2007)

Ekstatische Ausnahmemomente

Marcus’ fragmentarische Arbeitsweise spiegelt also, wie er das Gesamtwerk Morrisons begreift, und nach eigenem Bekunden dient sie ihm, das Verhältnis von Morrisons schwachen zu seinen starken Augenblicken zu vermessen, es zu kartieren, diese Augenblicke also als gleichzeitig zu betrachten. Diese Methode macht auch ein historisches Narrativ überflüssig, bestreitet gar dessen Nützlichkeit: Es ist hier kein Geist, der sich wandelnd der Erfüllung entgegenstrebt, sondern eine Vision, die immer schon da ist, deren Erfüllung in jedem Augenblick potentiell möglich ist, ohne dass Morrison diesen Augenblick erzwingen könnte: „Von Anfang an ist da eine Suche, ein Streben nach dem Moment, in dem das magische Wort, das Riff, die Note oder der Akkord gefunden wird und sich alles verwandelt.“

Dieser ekstatische Moment – „when that rough god goes riding“, sozusagen – ist es, auf den bei Morrison alles ankommt. Eher noch ist er mit einer plötzlichen erblickten Konstellation der Gestirne zu vergleichen als mit dem Ergebnis systematischer Arbeit, ganz zu schweigen von einer vermeintlichen Entwicklung in der Gesamtheit des Werkes. So wenig, wie diesen Augenblicken mit Worten beizukommen ist, so treffend beschreibt Marcus den Weg Morrisons als „Suche nach dem ‚yarragh‘ – nach den Brüchen, wenn Wirkungen scheinbar keine Ursache haben, […] wenn das, was in einem Song passiert, die Grenzen des konventionell Sagbaren überschreitet“. Es liegt in der Natur der Sache, dass man diese Stellen nicht nach allgemeingültigen Regeln katalogisieren kann, wie es auch in der Natur der Sache liegt, dass jeder Fan andere Stellen nennen wird. Doch mit der Gabe Morrisons, alles in ein „yarragh“ zu legen, in einen Ortsnamen, in eine Silbe oder gar einfach in die Stille dazwischen, hat Marcus das erfasst, was Morrison außergewöhnlich macht. Dass Marcus’ Deutungen ihrerseits das Mysterium dieser Stellen eher umkreisen, als dass sie es aufzulösen versuchten, folgt daraus.

Während diese Umkreisungen den Reichtum ihres Gegenstandes nicht recht erklären, aber doch beleuchten können, lässt Marcus eine ganze Schaffensperiode im Dunkeln. Es geht um die Alben der Jahre 1980 bis 1996, die er auf wenigen Seiten abkanzelt. Marcus fällt hierzu nicht viel mehr ein als ein Vergleich mit Bob Dylans ähnlich langer Flaute; er konstatiert darüber hinaus einen introspektiven Turn und begnügt sich sonst damit, einige Vorboten der Krise aus den 70er Jahren zusammenzutragen. Vielleicht kommen wir mit Robert Christgau der Sache näher, dem zu „Avalon Sunset“ (1989), einem für diese Periode repräsentativen und kommerziell relativ erfolgreichen Album, folgendes einfiel: „Er, der schon vor langer Zeit seine Seele an seine Muse verkaufte, ist nun lebenslang deren Sklave, und auch wenn er nicht aufhört, diverse Götter mit der Bitte um Lockerung seiner Ketten zu belästigen, können sie ihm nicht mehr bieten als ab und zu mal ein Quäntchen mehr Inspiration …“

Den Zeitraum von 1980 bis 1996 als werkhistorisch konsequente Einheit zu betrachten, sollte sich jedoch nach Marcus’ eigener Lesart verbieten. Denn diese lebt gerade vom Verzicht, Morrisons Schaffen zu periodisieren. Um bei Marcus’ topographischer Metaphorik zu bleiben, ist die lange kreative Flaute eher als große Leere auf der Landkarte, als Wüste mit seltenen Oasen zu verstehen, oder, mit Christgau, als Zeitraum, in dem die Muse so unerklärlich ausblieb, wie sie sich 1997 zu „The Healing Game“ wieder herabließ, dessen erstes Stück der Namensgeber des vorliegenden Buches ist.

In der Tat liegt ein weiteres Rätsel Morrisons in der Diskrepanz zwischen den sporadischen, unzweifelhaften Musenküssen und solidem Handwerk. Jene sind nun in Wahrheit nicht ganz so dünn gesät, wie es die Gewichtung von Marcus’ Buch vermuten ließe, das sich auf einige Glanz- und gelegentliche Tiefpunkte konzentriert. Müßig, über Fragen der Auswahl zu streiten: Wenn Marcus zu „His Band and the Street Choir“ nichts einfällt, sollte das nicht den Wert dessen mindern, was er zu „Astral Weeks“ oder „Saint Dominic’s Preview“ zu sagen hat, um vom Frühwerk mit der Band Them nicht zu schweigen. Morrison ist nicht als erratisches Genie mißzuverstehen: Was die Einheitlichkeit seines Schaffens ausmacht, ist eben eine Suche, die bisweilen in die Irre läuft, aber doch beharrlich nach einer höchsten musikalischen und emotionalen Erfüllung greift, nach einer Transzendenz, die Morrison immer wieder erreicht.

Autor Greil Marcus (© Thierry Arditti, Paris)

Marcus © Thierry Arditti, Paris

Die Macht, Unerlebtes zu evozieren

Greil Marcus gelingt es, Van Morrisons Musik in vielfältige Beziehungen einzubetten, ob zu Autoren wie Raymond Chandler und Thomas De Quincey oder zu Filmen wie „Taxi Driver“ und „Breakfast on Pluto“. Und Marcus wäre nicht Marcus, wenn er nicht Spuren aufzeigte, die bis an die Grenzen der Überlieferung führen, zu Traditionen volkstümlicher Musik, die nur in verrauschten Aufnahmen oder als dunkle Ahnungen noch existieren. Und doch ist der Duktus dieses Buches ein anderer als der etwa von „Invisible Republic“, Marcus’ erschöpfender Monographie über die „Basement Tapes“. Die Form der kurzen Essays erlaubt dem Autor eher, seine unmittelbare Bewegung durch die Musik zu verzeichnen, ohne diese in eine größere Erzählung einbetten zu müssen.

Vielleicht die schönsten Stellen des Buches sind diejenigen, wo Marcus die Wehmut beschreibt, die Morrisons Musik durchzieht und von dieser wiederum erzeugt wird.

„Nostalgie zieht einen runter wie Treibsand, und sie hatte Van Morrison stets fest im Griff.“ Oder: „Das ist reinste Nostalgie, wenn Dinge, die man getan, gesehen oder gehört hat, das Leben als solches ersetzen, das eben, wie es tatsächlich ist, mit seinen wahren Belastungen, Kämpfen, Widersprüchen, Fehlschlägen und Enttäuschungen.“ Dem wäre hinzuzufügen: Dinge auch, die man nicht getan, gesehen oder gehört hat, sondern nur erahnt. Es ist diese Macht, Unerlebtes zu evozieren, die Morrisons Musik der Zeit enthebt.

Das Album, in dem diese Macht ihren vollendeten Ausdruck findet, ist für viele Hörer wohl immer „Astral Weeks“ gewesen, eine Platte, an der durch das Gewicht der Gefühle, die sie hervorrief oder ausdrückte, Morrison lange Zeit schwer zu tragen hatte. Mit „Astral Weeks“, so Marcus, habe sich Morrison der Zeitgenossenschaft verweigert, noch indem er in der ihm eigenen Sprache auf 1968 antwortete und davon etwas aufbewahrte und weitergab, das die üblichen Phrasen zu diesem Jahr verschweigen: „Das Leben kann viel intensiver gelebt werden – mit sehr viel mehr Angst, Entsetzen und Begehren, als man sich je vorgestellt hat.“

Nichts kann diese Erkenntnis ersetzen. Man kann an ihr wachsen oder verzweifeln, man muss sie vielleicht sogar verdrängen, um nicht an ihr zu zerbrechen. Greil Marcus nimmt dem Leser nichts von der Unmittelbarkeit dieser Begegnung, er kann auch nichts hinzufügen. Er hat das Rätselhafte an Van Morrison nicht aufgelöst, sondern bloß benannt. Es bedarf keiner Anleitung, Van Morrison zu verstehen, aber zu verdeutlichen, was wir an ihm haben, ist auch keine geringe Leistung.

Joe Paul Kroll

Greil Marcus: When That Rough God Goes Riding. Über Van Morrison. Aus dem Englischen von Conny Lösch. Kiepenheuer & Witsch 2011. 220 Seiten. 8,99 Euro. Eine Leseprobe finden Sie hier.
Die Übersetzung wurde an zwei Stellen geändert anhand der Originalausgabe: When That Rough God Goes Riding. Listening to Van Morrison. PublicAffairs 2010. 198 Seiten. $ 22,95.

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