Geschrieben am 11. Januar 2012 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Ham.Lit-Spezial (1): Jan Brandt

Ungeheure Bandbreite von Themen und Personen

– Am 2.2.12 steigt in Hamburg das Literaturfestival „Ham.Lit“, die dritte „Lange Nacht junger deutschsprachiger Literatur und Musik“– präsentiert u. a. von CULTurMAG. Das „Uebel & Gefährlich“ wird für eine Nacht wieder zur literarischen Flaniermeile: 15 Autorinnen und Autoren lesen parallel auf drei Bühnen, dazu gibt es zwei Konzerte. Vom Roman über Lyrik und Erzählung bis zu experimenteller Prosa und zurück – der Abend verspricht einen spannenden Einblick in die junge Literaturszene. Wir stellen Ihnen in den kommenden Wochen einige der Mitwirkenden vor. Heute: Jan Brandt (Das gesamte, auch in diesem Jahr wieder großartige Lineup finden Sie hier).

Mit seinem voluminösen Debüt „Gegen die Welt“ ist Jan Brandt ohne Zweifel der Shooting-Star des vergangenen deutschen Bücherjahres. Die Kritiker überschlugen sich: „Buch der Bücher“ (Spiegel), „Grandios“ (1Live), „Ein Debüt, das aufs Ganze geht“ (Börsenblatt). Selbst die altehrwürdige FAZ schäumt mit: „Jan Brandt hat mit diesem gewaltigen Roman viel gewagt und (praktisch) alles gewonnen.“ Und fast aus dem Stand gewonnen hätte Jan Brandt auch noch den „Deutschen Buchpreis“, wurde dann aber auf der Zielgeraden noch vom historisch durchwirkten Eugen Ruge abgefangen.

Worum geht es nun in diesem Buch? Jan Brandt führt uns in die ostfriesische Pampa und liefert ein schräges naturalistisches Sittengemälde mit einem Schuss Science-Fiction und bedrohlichen Verschwörungstheorien. Brandt lässt seinen Roman in einem fiktiven Ort namens „Jericho“ spielen, ein dank dem Tourismus aufstrebendes Dorf nahe der Nordsee-Küste. Hier wächst in den Siebzigern, als noch die Tiefflieger über das platte Land donnern, Daniel Kuper auf. Der Spross einer alteingesessenen Drogisten-Dynastie ist ein schmächtiger, zurückhaltender und etwas unbeholfener Typ mit viel Fantasie und einer Vorliebe für Perry Rhodan-Romane. Eines Tages wird er schwer verletzt inmitten eines Kornkreises aufgefunden und erlangt bundesweit Berühmtheit als der von Außerirdischen entführte und wieder freigelassene Junge aus Ostfriesland. Später, als ein rechtsgerichteter Bauunternehmer sich aufmacht Bürgermeister von Jericho zu werden, tauchen überall im Dorf nachts gespenstisch leuchtende Hakenkreuze auf und es beginnt eine Hexenjagd auf den vermeintlich verantwortlichen Daniel Kuper.

In der Zwischenzeit spielt sich der ganz normale Alltagswahnsinn in dem kleinen Dorf mit seinen von schmucken Vorgärten und Lebensbaum-Hecken gesäumten Einfamilien- und neuen Reihenhäusern im „Komponistenviertel“ ab: blitzblank geputzte Opel Rekords, Bundesliga aus dem Autoradio, Grillfeste, Seitensprünge, Gottesdienste und ein Wettbüro im Gemeindehaus. Den Sound zum Leben in Jericho liefert das monotone Rauschen und Rattern der endlos gen Norden und Süden am Dorf vorbeiziehenden Güterzüge. Mit viel Alkohol, Drogen, frisierten Mopeds und Rockmusik rebellieren die pubertierenden Jungs im Dorf gegen diese enge Welt mit ihrem ewig gleichen Trott, während 1989 am fernen Horizont fast unbemerkt die Mauer fällt. Resignierend muss Daniel, der sich immer tiefer in seinem stummen Aufbegehren verstrickt, feststellen: „Das Dorf war überall. Er müsste schon sehr weit laufen, sehr weit fahren, um zu entkommen.“

Mit viel Authentizität schildert der 1970 in ostfriesischen Leer geborene und aufgewachsene Jan Brandt diesen ganz normalen und selbst durchlebten Provinzwahnsinn. Doch wie er in einem Interview ausführt, ging es ihm bei dieser Geschichte „um den Wahnsinn des Erwachsenwerdens und den gleichzeitigen Untergang eines Dorfes, weniger darum, über mich selbst zu schreiben. Vielmehr wollte ich den dramatischen Wandel sichtbar machen, der sich in den vergangenen 30 Jahren auf dem Land vollzogen hat. Innerhalb einer Generation sind jahrhundertealte Strukturen verschwunden: Bauern haben ihre Höfe aufgegeben, Einzelhändler ihre Geschäfte; die, die einst selbstständig tätig waren, sind jetzt Angestellte; und die Dörfer mit ihren ganzen Neubaugebieten sind zu Vororten verkommen, zu Schlafstätten für Pendler und haben ihre Funktion verloren, Gemeinschaft zu stiften.“

Ein besonderes Faible entwickelt Jan Brandt in seinem Roman für den Drogeristen Kuiper – denn die Drogerie war, wie er erläutert, „bis in die 90er-Jahre hinein eine Art protestantischer Beichtstuhl. Nirgendwo sonst kam das Wesen eines Dorfes – die soziale Kontrolle – besser zum Ausdruck als dort. Die Leute kauften beim Drogisten die intimsten Dinge und gaben so nebenbei viel von ihrem Privatleben preis.“

Für seinen beispiellosen Prosastil hat Jan Brandt selber den Begriff des „Manischen Realismus“ geprägt, der für eine „Totalität der Darstellung“ stehen soll. In Abgrenzung vom Magischen Realismus eines Gabriel García Márquez vermischen sich, so Brandt, im Manischen Realismus „Realität und Fantasie mit einer außerordentlichen Gewalt […], mit der unerklärlichen Brutalität, die jederzeit über die Welt hereinbrechen kann“.

Im Fortgang des Romangeschehens halten so schließlich auch Tod, Wahnsinn und Paranoia Einzug unter Jerichos Jugend: Daniel Kuiper wird vom Pastor verflucht, der gemobbte Peter Peters stirbt auf den Bahngleisen, Rainer bei einem Autounfall. Onno inszeniert einen bizarren Abgang auf einem Rockkonzert und der geniale Mathematiker Stefan sucht besessen nach der Weltformel und versinkt in einer das Buch rahmenden Verschwörungstheorie.

Jan Brandt fährt in seinem Roman eine ungeheure Bandbreite von Themen und Personen auf und vermisst das alltägliche Leben in der Provinz bis in das kleinste Detail. Es geht dabei um Freundschaft, Mobbing, Verrat und auch um eine stille, überraschende Liebe. Formal ist „Gegen die Welt“  eine anarchisch ausufernde Romanlandschaft mit verschiedensten Erzählsträngen, Subgeschichten, Perspektiven und Textsorten, die, wie Jan Brandt erzählt, auf eine lange Entstehungsgeschichte zurückgeht: „Vor zehn Jahren habe ich begonnen, Kurzgeschichten und Erzählungen zu schreiben, die in einem kleinen, damals noch namenlosen ostfriesischen Dorf spielen. Irgendwann habe ich daraus einen Roman entwickelt, aber das war nicht ‚Gegen die Welt‘. Dann, vor fünf Jahren, tauchte Daniel Kuper auf: ein äußerst fantasiebegabter, aber sportlich untauglicher Junge; ein erst neugieriges, aber schüchternes Kind, das sich allmählich zu einem Rebell entwickelt. Erst sollte es eine Novelle werden, dann, als die Geschichte immer länger wurde, musste ich alles dafür aufgeben: den ersten Roman, an dem ich immer noch parallel schrieb, meine journalistischen Nebenjobs, meine Freizeit, meine Freunde.“

Und sein ambitioniertes Romanprojekt führte Jan Brandt an Grenzen: Im September 2009 lieferte er sich mit „Kopfschmerzen, Halluzinationen, Augenzittern und Sprachstörungen in die neurologische Abteilung des Unfall-Krankenhauses Berlin ein“.  Die Anamnese lautete: „Zeitweise habe er das Gefühl, die Umwelt ziehe sehr langsam an ihm vorbei, ein Gefühl von Stillstand. Verstärkte Belastungen beim Bemühen, ein erstes Buch als Verfasser zu einem bestimmten Termin abzuschließen.“  Doch nach der Entlassung „war der Knoten in meinem Kopf geplatzt“ und „Gegen die Welt“ erblickte das Licht der Welt.

Auch der nächste Roman von Jan Brandt soll, wie er verrät, wieder in Jericho spielen, aber keine Fortsetzung von „Gegen die Welt“ sein: „Er handelt von Auswanderern und wird ähnlich umfangreich werden, vielleicht sogar umfangreicher. Und es wird mich wieder einige Jahre und Nerven kosten, ihn zu schreiben.“

Karsten Herrmann

Jan Brandt liest am 2.2. um 19:30 Uhr auf der „Langen Nacht junger deutschsprachiger Literatur und Musik“, der dritten „HAM.LIT“ in Hamburg.

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