
„Haie sind liebenswert“
Ein Textauszug aus Herman Melvilles erst nach 150 Jahren ins Deutsche übersetztem Roman

Sein 200. Geburtstag war jetzt am 1. August 2019 zu feiern. 150 Jahre brauchte es, ehe Herman Melvilles kühner „Moby Dick“-Vorläufer „Mardi und eine Reise dorthin“ eine Übertragungs ins Deutsche fand: 1977 bei der kleinen Hamburger Achilla-Presse. Rainer G. Schmidts mit dem Paul-Celan-Preis ausgezeichnete Übersetzung liegt nun sorgfältig durchgesehen und neu kommentiert als ein Jubiläumsband im Manesse Verlag wieder vor. In der Tradition der klassischen Irrfahrten führt eine wilde Reise den von einem Walfänger desertierten Seemann Taji rund um den Globus, steuert in die Menschheitsgeschichte und ins moderne Ich – ein Vorstoß in die Moderne, Schreiben als „Schlafwandeln des Geistes“. Und Stück klassisches Nature Writing. „Eine geniale Fata Morgana“ nannte Klaus Modick den Roman. Wir präsentieren Ihnen Kapitel Zwölf. – „Moby Dick“ gibt es multimedial als „Big Read“ bei der University of Plymouth, vorgelesen von Tilda Swinton, David Attenborough, Stephen Fry, John Waters, Benedict Cumberbatch and 130 Anderen.


XIII. Von den Knorpelfischen und anderen ungeschlachten Horden, welche die südlichen Meere heimsuchen
Auf unserer einsamen Reise gab es von Zeit zu Zeit Schauspiele, die Abwechslung brachten; insbesondere dann, wenn das Sternbild Fische am Aufsteigen war.
In den grenzenlosen Prärien von Arkansas soll es sich trefflich botanisieren lassen; den Studenten der Ichthyologie übergebe ich einem offenen Boot und den Meeresöden des Pazifiks. Welch seltsame Ungeheuer sind an unserer Seite, wenn unser Schiff dahingleitet. Sonst wo sah man nicht dergleichen. Und in den Büchern der Naturwissenschaftler sind sie nirgends zu finden.

Obwohl man Amerika entdeckt hat, sind die Cathays[78] der Tiefen unbekannt. Wer auch immer den Pazifik überquert, der hätte schon Grund, Buffon[79] Lektionen zu erteilen. Die Seeschlange ist kein Fabelwesen; doch im Meer ist sie nicht mehr als ein Regenwurm. Da gibt es mehr Wunder, als je Wunder verworfen wurden, und mehr unentdeckte Anblicke, als man je geträumt hat. Nur Maulwürfe und Fledermäuse sollten skeptisch sein; und der einzige wirkliche Unglaube ist, dass sich ein lebendiger Mensch für tot erklärt. Nehmen wir uns Sir Thomas Browne zum Beispiel, der, während sich «allgemeine Vorurteile» entluden, beherzt an all den Geheimnissen des Pentateuch festhielt.[80]
Doch schau in Fadentiefe hinab ins Meer! Wo sahst du je ein solches Phantom? Eine riesige Mondsichel, die in Geweihschaufeln wie beim Rentier und einem Delta von Mündern endet. Langsam sinkt es in die Tiefe und ward nicht mehr gesehen. Doktor Faust erblickte den Teufel; doch du hast den «Teufelsfisch»[81] gesehen.
Schau wiederum! Hier kommt ein neues Gespenst. Jarl nennt es Riesenhai. So rund und groß wie ein Wal, ist er wie ein Leopard gefleckt; und aus seinem Rachen ragen stoßzahn- artige Hauer wie beim Walross hervor. Nichts jagt dem Seemann größeren Schrecken ein als die unmittelbare Nähe eines solchen Geschöpfs. Große Schiffe gehen ihm aus dem Weg. Und sie mögen wohl daran tun; denn Meeresungeheuer haben die wackere «Essex»[82] und andere Schiffe versenkt, so wie der Alligator seine Hornschnauze durch ein karibisches Kanu bohrt.
Die Furcht, dass uns von diesen Riesenexemplaren der Zoologie, die wir fast stündlich passierten, ein Unheil drohte, war uns immer gegenwärtig.
Die Haie sahen wir nicht einzeln oder zu zehnt oder zu Hunderten, nein, zu Tausenden, zu Abertausenden. Glaubt mir, es gibt mehr Haie im Meer als Sterbliche an Land.

Und diese furchtbaren Fische sind so artenreich wie die Hunde. Doch von den deutschen Naturforschern Müller und Henle[83], welche die Haie mit heidnischsten Namen tauften, wurden sie zu einer Familie zusammengefasst; nach Müller ist diese Familie, als oberster Herold, unzweifelbar ein Zweig des alten und berühmten Stammes der Knorpelfische (Chondrichthyes).
Beginnen wir mit dem gewöhnlichen Grauhai, den die Seeleute «Meeresadvokat» nennen: ein habgieriger und räuberischer Schuft, der oft tückisch nach unserem Steuerruder schnappte, trotz der harten Schläge, die er von ihm empfing. Diese Art schwimmt manchmal im Schwarm, besonders in der Nähe eines getöteten Wals. Es sind die Geier der Tiefe.
Dann begegneten wir oft dem dandyhaften Blauhai, ein langer, spitz zulaufender und ungemein vornehm aussehender Bursche, schmalhüftig wie ein Bond-Street[84]-Beau und mit den weißesten Zahnreihen, die man sich vorstellen kann. Dieser elegante Gesell lümmelte mit leichtsinniger Flosse und lässigem Schwanz unentwegt in der Nähe herum. Doch er sah höllisch herzlos aus.

Wie sehr kontrastierte sein kaltblütiges und gentlemanhaftes Aussehen mit der groben, ungestümen Großspurigkeit des Tigerhais: ein rundlicher, wohlbeleibter Schlemmer mit ausgeweitetem Maul und eingesacktem Gewissen, der auf der Suche nach Verschlingbarem herumschwimmt. Diese Vielfraße sind die Müllschlucker der Flotten, sie folgen den Schiffen in die südlichen Meere, fischen allerlei Abfall auf und manchmal auch, als Leckerbissen, einen über Bord gegangenen Seemann. Was Wunder dann, wenn die Seeleute sie brandmarken. Ein- mal versicherte mir Jarl tatsächlich, dass es ihm bei einer Pechsträhne eine der angenehmsten Tröstungen war, sich daran zu erinnern, dass er seinerzeit Schwärme von Tigerhaien nicht getötet, sondern abgeschlachtet hatte.
Doch all das ist falsch. Man kann ebenso einen Engel wie einen Hai hassen. Beide wurden von derselben Hand geschaffen. Und Haie sind liebenswert, wird man Zeuge ihrer familiären Zuneigung. Keine Furie so furios, als dass sie nicht aucheine anziehende Seite hätte. In tiefster Wildnis liebkost eine Leopardenmutter ihr Junges, wie Hagar es mit Ismael tat[85], oder eine Königin Frankreichs mit dem Dauphin.

Wir wissen nicht, was wir tun, wenn wir hassen. Und mein edelmütiger Freund Stanhope hat dies so ausgedrückt, dass derjenige, der erkläre, er liebe einen tüchtigen Hasser, bestenfalls ein respektabler Hottentotte sei.[86] Keine vornehme Bezeichnung dies, obwohl sie von einem vornehmen Menschen kam. Doch sollte der Wörterbücherwurm tatsächlich solches gesagt haben, war er gewiss kein rechter Christenmensch. Aber es lässt sich jemand wie er, der sich der angeborenen Schwermut verschrieben hat, nur schwerlich mit der Milch der frommen Denkungsart aus den Evangelien abspeisen. Aus Hochachtung jedoch bestreite ich, dass mein alter Oheim Johnson wirklich die ihm zugeschriebene Meinung vertrat. Und was soll das auch, einen Hasser lieben? Wer leckt sich denn schon gern die Lippen angesichts von Galle? Nun, Hass ist eine undankbare Sache; darum wollen wir nur Hass hassen. Und lässt man der Liebe einmal freien Lauf, dann wer- den wir auch für ein Einhorn entbrennen. Ah!, je leichter es geht, umso besser; und hassen ist harte Müh. Liebe ist Wonne, Hass ist Qual. Und Hasser sind sich selbst Daumenschrauben, Schottische Stiefel und Spanische Inquisition. In fünf Wörtern, ein siamesisches Zwillingswort inklusive[87]; Wer hasst, der ist ein Narr.

Mehrere Tage lang waren zwei dieser Tigerhaie unserer «Chamois» gefolgt. Zwei verschworene Freunde, die unzertrennlich in unserem Kielwasser dahinschlenderten, als seien sie ein Straßenräuberpärchen, das den Moment abpasst, wo man ihren Weg kreuzt. Doch dann ließen sie ab von ihrem nutzlosen Unterfangen und fielen immer weiter achtern zurück, bis sie gänzlich außer Sicht waren. Sehr zum Kummer des Mannes aus Skye, der lange am Heck stand, die Lanze wurfbereit.
Aber vor einem der Haie wäre ich gern bewahrt: dem schaurigen Weißen Hai. Obschon wir nicht hassen sollten, ist doch manche Abneigung spontan; und Abneigung ist noch kein Hass. Und doch könnte ich es nicht über mich bringen, einen Weißen Hai zu mögen oder mit ihm Umgang zu haben. Dies ist nicht die Art von Geschöpf, das die Herzen im Sturm erobert.
Dieses Gespenst von Fisch trifft man nicht oft an; und es zeigt sich unverhohlener nachts denn am Tage. Wie ein Timon[88] schwimmt er immer für sich, gleitet direkt unter der Wasseroberfläche dahin und lässt eine lange, undeutliche, milchig getönte Gestalt erkennen. Ab und zu blinkt sein unergründlicher weißer Zahnschlund auf. Einen Zahnarzt hat er nicht nötig. Der Weiße Hai, der mit erschreckender Gelassenheit sacht dahingleitet wie ein Geist im Wasser, ließ uns beide in der «Chamois», sahen wir ihn des Nachts, so manches Mal erschauern.

Am Tag und während der größten Windstille wurden wir oft von dem schweren Seufzen des Butzkopfs[89]; aufgeschreckt, der träge zur Oberfläche stieg und tief Luft holte, nachdem er unten ein Nickerchen gemacht hatte.
Und immer wieder erblickten wir den pfeilschnellen Albacore[90], den Fisch mit der Augplattenpanzerung und mit goldenen Schuppen, den Nimrod der Meere, dem so manche Fliegenden Fische zur Beute wurden. Auf der Flucht vor ihren Verfolgern segelten viele von ihnen in unser Boot. Doch starben sie allesamt durch den Aufprall. Keine Pflege konnte sie wiederherstellen. Einen ihrer Flügel legte ich beiseite und brei-tete ihn zum Trocknen unter einem Gewicht aus. Innerhalb von zwei Tagen war das dünne Häutchen, vollständig geädert wie ein Blatt, durchscheinend wie Hausenblase und schimmerte in leuchtenden Farbtönen wie Schillertaffet.[91]
Fast jeden Tag sichteten wir Schwarzwale[92]; schwarz wie Kohle und glänzend. Sie schienen dadurch zu schwimmen, dass sie sich immerfort wie ein Rad im Wasser herumdrehten; wie Speichen rasend schnell traten dann ihre Rückenflossen ab und zu in den Blick.
Von ähnlicher Art, doch kleiner und mit schnittig gebauter Nasenpartie waren die «Algerier»[93], die wegen ihrer seeräuberischen Neigungen so hießen: Auf hoher See lauerten sie den Friedfischen auf und plünderten sie in einem Streich an Leib und Seele. Grausame Heiden! Einen Kreuzzug sollte man gegen sie predigen.


Neben diesen trafen wir auf Mörderwale und Fuchshaie, bei Weitem die kühnsten und «fuchtigsten» der Flossenträgersippe. Obwohl sie nur wenig größer als Tümmler sind, greifen sie in der Gruppe ohne Bedenken den Leviathan selbst an. Sie hetzen das Ungeheuer wie Hunde einen Bullen. Die Mörderwale packen den Nordwal an der riesigen, trotzigen Unterlippe, und die Fuchshaie konzentrieren sich auf seinen Rücken und dreschen mit ihren muskulösen Schwänzen auf ihn ein. Oft gehen sie als Sieger hervor, indem sie den Feind zu Tode quälen. Doch um die Wahrheit zu sagen, wenn der Leviathan auch nur einen einzigen Schlag mit seinem schrecklichen Schwanz gegen sie anbringt, dann sausen sie durch die Luft, als seien sie vom Horn des Stiers herumgeschleudert.
Dies sahen wir mit eigenen Augen. Wäre der alte Wouwerman[94], der einst eine Stierhatz malte, bei uns gewesen, hätte sich seinem Pinsel hier eine seltene Gelegenheit geboten. Und Gudin oder Isabey[95] hätten vielleicht die blaue, rollende See ins Bild gehoben. Zuletzt hätte eine von Claudes[96] untergehenden Sommersonnen das Ganze glorifiziert. Oh, glaubt mir nur, es ist kein zu verachtendes Sujet für ein Meisterwerk, wenn Gottes Geschöpfe Flosse um Flosse kämpfen, tausend Meilen vom Land entfernt und mit des Himmels Rund als Arena.
Das sind ein paar Schauspiele aus dem großen südlichen Meer. Doch alle sind sie kaum zu erzählen. Der Pazifik ist so dicht besiedelt wie China.
Textauszug mit freundlicher Erlaubnis des Verlags aus:
- Herman Melville: Mardi und eine Reise dorthin (Mardi: and a Voyage Thither, 1848). Aus dem Englischen übersetzt und kommentiert von Rainer G. Schmidt. Manesse Verlag, München 2019. Hardcover, Lesebändchen, 832 Seiten, 45 Euro.

Anmerkungen des Übersetzers:
[78]Von Marco Polo verwendeter poetischer Name für China.
[79]Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon (1707 – 1788) war ein frz. Naturforscher und Verfasser einer 44-bändigen Histoire Naturelle.
[80]Der engl. Schriftsteller Sir Thomas Browne (1605 – 1682) veröffentlichte 1643 das Werk Religio Medici, eine frühe Auseinandersetzung mit der Beziehung zwischen christlicher Religion und Wissenschaft, das europaweit zum Bestseller wurde. – Pentateuch sind die fünf Bücher Mose im Alten Testament.
[81]Teufelsrochen oder Manta.
[82]Das amerik. Walfangschiff Essex wurde im November 1820 von einem Pottwal angegriffen und versenkt. Der Vorfall erlangte weltweit Berühmtheit und war eines der realen Vorbilder für Melvilles Roman Moby-Dick (1851).
[83]Der dt. Mediziner, Physiologe sowie Zoologe und Meeresbiologe Johannes Müller (1801 – 1858) begründete die Planktonforschung und untersuchte gemeinsam mit seinem Schüler, dem dt. Anatomen und Pathologen Jakob Henle (1809 – 1885), u.a. verschiedene Gattungen der Knorpelfische (zool. Chondrichthyes).
[84]Seit dem 19. Jh. Einkaufsstraße mit luxuriösen Geschäften in London.
[85]Vgl. 1 Mos 16 und 21,9 – 21.
[86]Philip Stanhope, 4. Earl of Chesterfield (vgl. Anm. 38); das Verdikt bezieht sich auf den Verfasser des Dictionary of the English Language (1755), Samuel Johnson, ein Kritiker von Stanhope, der im Weiteren als «Wörterbücherwurm» tituliert wird.
[87]In Mardi mehrfach auftauchende Spielerei um eine Silbenauszählung, bei der sich Melville vertan hat; die thailänd. Sprache kennt nur einsilbige Wörter. Thailand wurde bis 1939 als Siam bezeichnet.
[88]Inbegriff des Menschenfeinds, auf Timon von Athen (5. Jh. v. Chr.; Historizität nicht gesichert) und seinen beißenden Spott über die Athener zurückgehend.
[89]Anderer Name für den Rundkopf- oder Risso-Delfin (Grampus griseus).
[90]Sammelname für mehrere Thunfischarten, insbesondere den Weißen Thun.
[91]Eine Störart, deren Schwimmblase u.a. zur Leimherstellung verwendet wird. – Schillertaffet nannte man früher einen schillernden, in mehreren Farben spielenden Taft.
[92]Blackfish ist eine Sammelbezeichnung für verschiedene Wal- und Delfinarten. Die Beschreibung trifft am ehesten auf den sog. Spinnerdelfin (Stenella longi- rostris) zu.
[93]Möglicherweise eine Glattdelfinart oder aber eine Spezies der fantastischen Zoologie.
[94]Philips Wouwerman (1619 – 1668) war ein niederl. Landschafts- und Tiermaler des Barock; eine Stierhatz ist unter seinen Werken allerdings nicht zu finden.
[95]Jean Antoine Théodore Gudin (1802–1880) und Eugène Isabey (1803–1886) waren frz. Maler der Romantik, Ersterer spezialisiert auf Marine- und Seestücke, Letzterer königlicher Marinemaler.
[96]Gemeint ist der frz. Maler Claude Lorrain (1600 – 1682), berühmt für seine «idyllisch-arkadische» Landschaftsmalerei.
