Geschrieben am 12. Oktober 2009 von für Hörbuch, Litmag

Herta Müller: Die Nacht ist aus Tinte gemacht

Angst und Widerstand

So vieles kann das kleine Mädchen sich nicht erklären, so vieles macht ihm Angst. Woher kommt das Dunkel der Nacht? Aus dem Tintenfass? Und muss man dann nicht darin ertrinken? Das Mädchen ahnt nicht, dass „die Tinte“, also das Schreiben, später einmal zur Rettung werden wird… Von Gisela Trahms

Das Dorf in der deutschsprachigen Enklave der Banater Schwaben, in dem Herta Müller in den 50er Jahren aufwächst, wird schon von dem Kind als Heimat und Fremde zugleich empfunden. Es fühlt sich verloren an diesem Ort der Mühsal. Selbstverständlich muss es arbeiten, es hütet die Kühe und ist stunden- und tagelang mit den Tieren allein. Da es keine Geschwister hat, lauscht es den Reden der Erwachsenen, die rätselhaft bleiben. Spielt das Kind mit anderen Kindern, tut es, was alle tun: den Insekten die Flügel ausreißen, kleine Vögel mit einem Strohhalm aufblasen, bis sie platzen.

Von Eltern und Großeltern wird das kleine Mädchen geliebt, aber auch geschlagen, nicht übermäßig sondern so, wie halt alle geschlagen werden, das ist Alltag. Selbst die Natur geht hart mit den Menschen um: Die Hitze im Sommer ist kaum auszuhalten und das Mädchen betet abends, es möge doch endlich, endlich regnen, damit es nicht mit aufs Feld muss um Mais zu schneiden, denn das ist der Gipfel des Schreckens: „das Feld“ (das früher einmal das eigene war, jetzt aber dem Staat gehört) versklavt die Menschen und saugt ihnen die Kraft aus.

Dem Terror zum Trotz

Aber das Mädchen beginnt auch, sich auf stille, grimmige Weise zur Wehr zu setzen. Etwa, als es Akkordeon spielen lernen soll. Das Akkordeon ist eine Reliquie der Familie, weil es dem im Krieg gefallenen Onkel gehörte. Aber für das Mädchen ist der Unterricht eine Qual, schließlich wirft es das Instrument in den Brunnen. Das bedeutet Prügel, doch die nimmt es in Kauf.

Solche Erlebnisse legen den Grund für eine zähe Widerständigkeit, dennoch erscheint der Erzählerin die eigene Kindheit eher als „Einübung in die Angst“. Angst bleibt das Grundgefühl der Heranwachsenden auch später, in der Stadt. Das bloße Am-Leben-Bleiben wird zur Revolte gegen Ceausescus Diktatur, da der Suizid nur der Securitate die Arbeit abnähme.

In der Schilderung dieses ohnmächtigen Existierens dem Terror zum Trotz klingt die Stimme erregt; der Zorn, die Bitternis teilen sich unmittelbar über das Sprechen mit. In den Kindheitsepisoden dagegen dominiert das Staunen darüber, wie vertraut der dörfliche Kosmos einmal war. Jedem wird die Kindheit irgendwann merkwürdig, aber wer so brutal wie Herta Müller gezwungen wurde, sich selbst aus der Verwurzelung zu reißen, gerät beim Blick zurück in eine sehr nachvollziehbare Fassungslosigkeit.

Erzählen: eine Tür geht auf

Herta Müller erzählt, d.h. dem, was wir hier hören, liegt kein vorgefertigter Text zugrunde. Es ist oral history, aber auch oral poetry, wenn Bezeichnungen plötzlich zu Metaphern werden, die immer neue Assoziationen hervorrufen. Dieser Kultur des Mündlichen hat sich der kleine supposé – Verlag in Berlin verschrieben und es ist eine der Freuden des Nobelpreises für Herta Müller, dass supposé nun auf breitere Aufmerksamkeit treffen wird. Denn im Erzählen öffnet ja der Erzählende eine Tür, die im Schriftlichen verschlossen bleibt: die Sprechstimme in ihrer ungekünstelten Modulation erzeugt ein Mehr als die Wörter allein und berührt anders als das vorgelesene Wort.

Daher lohnt es, dieses Hörbuch mit dem im letzten Jahr erschienenen von Peter Kurzeck (Ein Sommer, der bleibt) zu vergleichen. Auch dort erzählt ein Autor eine dörfliche Kindheit, die eines Flüchtlingskindes in der Nachkriegszeit. Auf bezaubernde Weise wird er noch einmal zu jenem Kind, für das die enge Welt ein Abenteuer ist. Ohne dass er verklärt, leuchtet durch seine Geschichten wirklich der Sommer, auch im Winter.

Für Herta Müller hingegen war auch der Sommer unerträglich und die Erzählende möchte gewiss niemals mehr das Kind sein, das sie einmal war. Neben der Poesie mancher Formulierungen ist immer die Distanz spürbar, und besonders auf der zweiten CD dominiert die Analyse. Im Vergleich mit Kurzeck wird klar, wie eine Diktatur auch das Verhältnis des Einzelnen zur eigenen Vergangenheit beschädigt. Es ist, als ob das kleine Mädchen der erwachsenen Frau entzogen worden und nur noch mühsam erreichbar wäre.

Herta Müllers Erinnerungen faszinieren nicht zuletzt durch die Welt, die sie schildern. Fern ist sie und hoffentlich vergangen. Ihre glühende Sonne wärmte nicht. Auf den eindrucksvollen Fotos des Covers wirkt die Dorfstraße immer noch so, als führte sie geradewegs ins Nichts. Herta Müller hatte den Mut und die Kraft, sie zu verlassen und reist nach Stockholm. Freuen wir uns mit ihr.

Gisela Trahms

Die Nacht ist aus Tinte gemacht. Herta Müller erzählt ihre Kindheit im Banat.
Berlin: supposé – Verlag 2009. 2 Audio-CDs in Kassette. 24,80 Euro.

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