Deutscher Geschichtsunterricht oder: Gespräch mit sich selbst
– Christian Petzolds „Phoenix“: ein falsches Melodram als ein richtiges Gedankenspiel. Von Wolfram Schütte
Das außerordentlich Schöne an Christian Petzolds brillantem „Phoenix“ ist seine Vieldeutigkeit: eine traumwandlerische Unsicherheit, die dem Thema & Petzold/Farockis künstlerischer Annäherung entspricht. Es ist nicht das Zeichen einer (Aus-)Flucht, wenn Vieles in „Phoenix“ vage bleibt; sondern Ausdruck des geistig-politischen Respekts & des ästhetischen Skrupels Petzolds – im Blick auf das riskant-prekäre Thema. Die Vieldeutigkeit des Films erlaubt den Zuschauern nicht nur, sondern verlangt geradezu von ihnen, sich jeweils selbst einen Albtraum zu erzählen & spielerisch die eigenen Wunschphantasien über die Vergangenheit, Wahrheit oder Zukunft der Personen & deren Identitäten sich zu erspekulieren, wozu der Film – wie eine mythische Fabel, z.B. jene, die sein Titel annonciert – gewissermaßen nur das „Gerüst“ liefert.
Dabei ist die Geschichte, die der Regisseur mit seinem langjährigen, in diesem Jahr verstorbenen Freund Harun Farocki nach einem französischen Roman zu einem Drehbuch verdichtet hat, höchst einfach.
Die deutsche Jüdin Nelly (Nina Hoss), die das KZ überlebt hat, sucht ihren nicht-jüdischen deutschen Mann Johnny (Ronald Zehrfeld) im Nachkriegs-Berlin, wo sie zusammen gelebt hatten, bevor die am Müggelsee Versteckte kurz vor Kriegsende entdeckt & nach Auschwitz deportiert worden war. Der liebevolle Gedanke an Johnny, mit dem zusammen sie als musikalisches Duo aufgetreten war, hat Nelly das Vernichtungslager überstehen lassen – wenn auch schwer verletzt. Ihr Gesicht ist zerstört, als sie von ihrer Jugendfreundin Lene (Nina Kunzendorf), die für die Jewish Agency arbeitet, aus dem Lager in den amerikanischen Sektor in Berlin geholt wird. (Das Gesicht gilt mythologisch als Identitätsversicherung & Spiegel der Seele.)
Während die (zionistische) Freundin von einem gemeinsamen Neuanfang in Palästina träumt, will Nelly aber in Berlin bei ihrem Johnny bleiben, um die unterbrochene Liebe fortzusetzen – als könne ihre Liebe ihre Erfahrung in der Hölle tilgen. Deshalb schlägt sie das Angebot des Plastischen Chirurgen aus, mit einem „neuen“ Gesicht ein zweites, neues Leben zu beginnen – etwas, das von manchem in dieser Zeit aufs höchste erwünscht sei, wie der Chirurg ironisch bemerkt. Sie aber möchte als die Nelly, die sie war, wiederhergestellt werden, damit sie ihr Mann, den sie immer noch liebt, wiedererkennt. Das biblische Synonym „erkennen“ für „Beilager“ in Luthers Worten trifft hier doppeldeutig zu.
Bevor sie ihren Mann als Abräumer in der Ami-Spelunke „Phoenix“ entdeckt, muss sie sich von einem falschen Johnny, dem Chef jener Bar, missbrauchen lassen (was Petzold nur indirekt, durch ihren verschmutzten Mantel, evoziert). Ihr geliebter Johnny erkennt seine Nelly nicht wieder, glaubt nur eine entfernte Ähnlichkeit in der Unbekannten, die sich Sarah nennt, zu entdecken, bringt sie bei sich unter, ohne ihr sexuell zu nahe zu kommen & beginnt, sie Stück um Stück dem Erinnerungsbild seiner Frau nachzubilden.
Johnnys Idee ist es, die Totgeglaubte wiederkehren zu lassen & mit der falschen Nelly sich den reichen Nachlass der gesamten ermordeten jüdischen Familie Nellys anzueignen & seine Komplizin an dem betrügerischen Gewinn zu beteiligen. Die verzweifelt liebende Nelly lässt sich auf Johnnys Pygmalionsidee ein & bemerkt dabei zu ihrer Genugtuung, wie sehr er noch an seiner Frau zu hängen scheint – ohne sie doch in der Fremden zu erkennen, so täuschend sie ihr auch zunehmend ähnelt, was alle bestätigen, die sie sehen, wenn sie mit dem Zug in Berlin eintrifft, wie Johnny es arrangiert hat.
Erst als sie beim Wiedersehen mit ihren früheren Freunden zuletzt am Flügel steht, wo sie das traurige Liebeslied aus alten Zeiten vorträgt, sieht der sie am Flügel begleitende Johnny die KZ-Nummer an ihrem linken Arm & erkennt bestürzt – während er seine Begleitmusik abbricht & Nelly a capella weitersingt –, dass er die Todgeglaubte nicht erkannt hatte, an deren Schicksal er womöglich schuldig ist & von der er sich, als sie im KZ war, hatte scheiden lassen.
Dieses Faktum hatte Lene durch ein in ihrem Besitz befindliches Dokument hinterlassen vor ihrem Selbstmord, nachdem sie eingesehen hatte, dass die immer noch in ihren Johnny hängende Nelly nicht mit ihr nach Palästina emigrieren würde. Nachdem Nelly das Liebeslied (aus einem amerikanischen Musicals Kurt Weills) beendet hat, verlässt sie den Raum, in dem Johnny fassungslos auf sie blickt.
Nelly wechselt aus der Schärfe ihrer Naheinstellung in die Diffusion eines langsam verschwindenden Schemens, womit „Phoenix“ gewissermaßen erlöscht. Dieses „verschwimmende“ Ende dürfte als geniale filmästhetische Formulierung ähnlich Filmgeschichte machen wie jene lange Kamera-Entfernung von dem toten Reporter in seinem Zimmer am Ende von Antonionis „Beruf Reporter“.
Der Plot von „Phoenix“ kann simultan vielfach „gelesen“ werden. Z.B. als eine große Allegorie, die das Verhältnis der Nachkriegsdeutschen zu ihren im „Dritten Reich“ umgebrachten jüdischen Mitbürgern & dieser zu ihnen darstellt. Als die scheinbar falsche Nelly Johnny fragt, was sie sagen soll, wenn sie von seinen Freunden nach ihren KZ-Erlebnissen gefragt wird, weiß er nicht nur: „Sie werden nicht fragen!“, sondern er sagt aufs Wort genau voraus, womit jede & jeder den Schock von Nellys unvermuteten Wiederkehr mit banalen Phrasen zu übertünchen versucht. Diese (fast satirische) Sequenz fasst wie in einem Brennspiegel zusammen, was in der (west)deutschen Nachkriegszeit ver- & beschwiegen wurde; aber auch Nellys romantisch-naive Sehnsucht, die durch ihre Verhaftung unterbrochene Liebe mit Johnny fortzusetzen & den „Zivilisationsbruch“ (Adorno), deren Opfer sie wurde, dafür zu verdrängen, entspricht dem Verhalten jener Juden, die trotz alledem „im Land der Täter“ geblieben sind! Während Nellys Freundin, die der Shoa in der Schweizer Emigration entkommen war & als Helferin der Jewish Agency mit den schlimmsten deutschen Verbrechen & seinen Opfern mehrfach konfrontiert wurde, jene europäischen Juden verkörpert, die sich künftighin durch die Emigration nach Palästina in Sicherheit bringen wollen – oder (wie Lene) an ihrer unlösbaren Lebenssituation verzweifelten & sich umgebracht haben.
Nelly Passion versus „Die Ehe der Maria Braun“
Man kann aber „Phoenix“ auch als eine paradoxe Liebesgeschichte aus der deutschen Nachkriegszeit sehen – gewissermaßen als das bislang fehlende Gegenstück zu Fassbinders „Ehe der Maria Braun“ (& nicht nur als eine deutsch-historische Paraphrase von Hitchcocks Thriller „Vertigo“).
Der Glaube an Johnnys unverbrüchliche Liebe hat Nelly im mörderischen KZ aufrechterhalten. Nie wäre sie auf die Idee gekommen, dass ihr von der Gestapo verhafteter & wieder frei gelassener Mann sie verraten haben könnte – wie Lena behauptet. „Mit Verrätern spricht man nicht mehr“, belehrt sie ihre Freundin. Nelly, die bemerkt, dass Johnny ein Geheimnis wahrt & Schuldbewusstsein gegenüber seiner vermeintlich ermordeten Frau hat, versucht sich & ihn zu entlasten. Auf der Fahrradfahrt von Nellys Versteck, das Johnny ihr gezeigt hatte, auf dem Gepäckträger sitzend & Johnnys Körper umklammernd (in einer Montage von emotionsintensivierenden halbnahen Einstellungen), stellt sie flüsternd sich & ihm vor, wie er unwillentlich ihr Versteck verraten haben könnte, weil sich die Gestapo nach seiner Entlassung an seine Fersen hätte geheftet haben können. Er äußert sich dazu nicht. Offen bleibt mithin, ob es denn „wirklich“ so war oder ob Nelly aus Liebe sowohl sich wie auch Johnny diese (entlastende) Version seiner Schuld erfindet.
Allerdings wusste zu diesem Zeitpunkt Nelly noch nichts davon, dass Johnny sich von seiner im KZ befindlichen Frau hatte scheiden lassen: geschah das aus Opportunismus oder unter Zwang? Auch das bleibt offen. Das Faktum aber ist unbestreitbar – wenngleich Lene es Nelly womöglich nur hinterlassen hat, um sie zu strafen, weil sie lieber dem untreuen Mann nachgelaufen ist – statt an Lenes Seite ein neues (lesbisches ?) Leben in Tel Aviv oder Haifa zu beginnen.
Und Johnny? Ist er, der seine Freunde vollkommen durchschaut & aus der fremden „Sarah“ sich die physische Erscheinung seine ehemalige Frau Nelly zurechtmodelt, ohne doch je zu bemerken, dass er Nelly vor sich hat – ist dieser Johnny denn so anders als jene, von denen er weiß, dass sie keine Fragen stellen? Stellt er denn welche, will er denn wissen, woher Sarah kommt, die sich ihm befremdlich aufdrängt? Dient sie ihm nicht einzig nur als willkommene Komplizin für ein Betrugsmanöver, das er minutiös plant, um sich in die materielle Hinterlassenschaft von Nellys ermordeter Familie zu bringen?
Wenn er am Ende an der KZ-Nummer die Identität Nellys entdeckt & auf sie erstarrt hinstarrt: was geht da in ihm vor? Ist das der Blick des ertappten Betrügers, der erkennt, dass er Nelly gleich mehrfach verraten hat & sie das weiß? Oder ist es das Erstaunen des beschämten Mannes, der die von ihm verratene, sich demütigende Liebe seiner Frau endlich erkennt – wie in vergleichbar peinlicher, jedoch eindeutig erotischer Situation am Ende von Mozarts „Figaro“ der Graf seine Gattin, die er doch vermeintlich als Susanna im Dunkel der Nacht & des Buschwerks „erkannt“ zu haben glaubte? (Und „bekennt“ sich Nelly damit nicht zugleich zu ihrer KZ-Existenz, deren Tilgung Johnny an ihr vornehmen wollte?)
Christian Petzold lässt mit dem pointierten Abgang Nellys ins Schemenhafte offen, ob es für das Paar eine gemeinsame Zukunft gibt, bzw. geben kann. Es wird für jeden davon abhängen, wie er „Phoenix“ liest, d.h. wie er den Mythos, den der deutsche Regisseur in ein lange Zeit kühles, nur einmal erhitztes Melodrama übersetzt hat, für sich auslegt: ob als analytisch-allegorisches Gedankenspiel oder als filmisches Melodrama, das es (meiner Ansicht nach) nur bedingt, will sagen: nur vortäuschend „echt“ ist. Sowohl die komplexe Erzähldramaturgie als auch die lakonische Inszenierung Petzolds läuft nämlich jenem sentimentalistischen Versöhnungsblick auf die deutsche Geschichte diametral entgegen, wie er zuletzt den ZDF-Dreiteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“ von Koldisch/Kadelbach/Hofmann so prekär imprägnierte. Eine zeitversetzte Wiederholung von Straubs „Nicht versöhnt“ ist Petzolds „Phoenix“ gewiss nicht; aber einverständig mit der gelebten deutschen Nachkriegsgeschichte erst recht nicht. Liebe heilt nicht alle Wunden.
Wolfram Schütte
Christian Petzold: Phoenix. D 2014. 98 Minuten. Kinostart 26.9.2014. Regie: Christian Petzold. Mit Nina Hoss, Ronald Zehrfeld u.a. Zur Webseite.