Das Gebet des Pilgers
– Peter Handke hat mal in einem Interview gesagt, dass sich dem, der Goethe liest, Lichtadern einziehen. Wenn das so ist, wird der, der Salinger liest, mit Licht geflutet. Ein Nachruf von Stefan Beuse.
Seitdem ich lesen kann, also: seitdem ich richtig lesen kann; seit ich weiß, dass Worte Nahrung sein können, habe ich ein Geheimversteck. Alles, was mir je wichtig war, versteckte ich dort. Über Jahrzehnte hinweg: Liebesbriefe. Notizen, die niemand finden sollte. Lottoscheine. Bargeld.
Dieses Geheimversteck ist die Originalausgabe von „Franny and Zooey“ von J.D. Salinger, erschienen 1955 im Verlag Little, Brown & Company. Das Versteck liegt zwischen den Seiten 36 und 37. Die Stelle, wo Franny ihrem Freund Lane in einem Restaurant von dem Buch erzählt, das ihr Leben verändert hat: „The Way of a Pilgrim“.
Während dieser stumpfe Hornochse Lane seine Schnecken und Froschschenkel isst und blasierten Unsinn redet, versucht Franny auf ihre unvergleichlich ernsthafte, liebevolle und gleichzeitig anarchische, brüllend komische und hypersensible Art, die allen Glass-Geschwistern eigen ist, ihm diesen einen Satz nahezubringen, der alles verzaubert. Das Gebet des Pilgers.
Es kommt ihr lächerlich vor, Lane davon zu erzählen, weil das, was sie zu sagen hat, lächerlich ist. Lächerlich und groß, unsagbar und doch tausendmal gehört, wie alles Wahrhaftige.
So ist diese Geschichte, so ist dieses Buch. So ist jeder einzelne Satz von Salinger. Man will jedem, man will der ganzen Welt davon erzählen und kann es nicht, weil Worte zu eng sind, das zu fassen, was diese Prosa kann. Was sie macht mit dem, der sie sieht. Und hört. Und fühlt. Diese Sprache ist Musik, sie strahlt und berührt, und egal, wie oft irgendwelche Idioten zählen, wie hoch die „fuck“- und „damn“-Dichte pro Seite ist: Das, was hinter den Sätzen abläuft, ist von kristalliner Reinheit. Klingt das religiös? Ich meine: Klingt das religiös genug?
Peter Handke hat mal in einem Interview gesagt, dass sich dem, der Goethe liest, Lichtadern einziehen. Wenn das so ist, kann ich ohne Übertreibung sagen, dass einen Salinger mit Licht flutet.
Phantom! Eremit! Sprachrohr! Verrückter!
Man liest in diesen Tagen überall von dem Phantom, vom exzentrischen, vom durchgeknallten Salinger, vom Sprachrohr einer ganzen Generation, das einsam und verrückt in seiner Holzhütte gestorben ist. Ein manischer Zen-Buddhist, der nur noch für sich selbst geschrieben hat, bis zu 100 Seiten pro Tag, um den sich mehr Legenden ranken, als er Geschichten veröffentlicht hat. Man liest von einem Nerv, den er getroffen hat, von seinem Hass auf Heuchler, auf Verlogenheit, Egoismus, Eitelkeit. Man liest von Skandalen und Skandälchen, von Kriegstraumata und möglichen biographischen Parallelen.
Es wird zu erklären versucht, warum der Einfluss des „Fängers“ auch 50 Jahre nach seinem Erscheinen so groß ist, dass jährlich noch eine Viertelmillion Exemplare davon über den Ladentisch gehen. Was bei diesen ganzen hilflosen Erklärungsversuchen meist vergessen wird, ist ein ganz einfacher Aspekt: Es gibt eine Menge raffinierter, technisch versierter, unglaublich kluger Schriftsteller. Aber es gibt verdammt wenige, die von einer derart luziden Weisheit durchdrungen sind wie Salinger.
Der Satz des Pilgers lautet übrigens: „Lord Jesus Christ, have mercy on me.“ Diesen Satz wiederholt Franny pausenlos in ihrem Inneren. Bis er sie ganz durchdrungen hat. Bis die Welt eine andere Farbe hat. Das ist alles.
Stefan Beuse