Das wirkliche Leben ist viel schlampiger als ein Roman
– John Irving im Gespräch mit Petra Vesper. Es kommen vor: „Letzte Nacht in Twisted River“, der Unterschied zwischen Literatur und Leben, die Vorteile des „mit-Stift-und-Notizblock-Schreibens“, Irvings Krebserkrankung, Kurt Vonnegut und ein freundlicher (aber kräftiger) Hund.
Es ist schon über ein Jahr her, dass „Twisted River“ in den USA veröffentlicht wurde; im Mai 2010 erschien das Buch auf Deutsch. Welche Beziehung haben Sie heute noch zu den Figuren?
Die Figuren sind mir immer noch sehr nah. Ich habe so viel Zeit gebraucht, um dieses Buch zu schreiben. Der Roman war länger in meinem Kopf, als irgendein anderer, bevor ich überhaupt angefangen habe, bestimmt zwanzig Jahre. Meine Frau behauptet sogar, noch um einiges länger, und wahrscheinlich hat sie recht. Doch ich konnte den letzten Satz eine ganze Zeit lang nicht deutlich sehen. Erst 2006 hatte ich ihn schließlich gefunden. Also habe ich in der Zwischenzeit andere Bücher geschrieben – „Bis ich dich finde“, zum Beispiel –, die ich längst nicht so lange mit mir herumgetragen habe. Einfach deshalb, weil ich das Ende kannte. So viel ich auch über „Twisted River“ (Eine CULTurMAG-Besprechung finden Sie hier) wusste – das Ende schien mir immer zu entgleiten.
„Letzte Nacht in Twisted River“ ist Ihr dritter Roman mit einem Schriftsteller als zentraler Figur.
Es ist ein Roman über die Beziehung dreier Männer – und zum ersten Mal habe ich sehr bewusst der Schriftstellerfigur im Roman, Danny, bis ins kleinste Detail meine Ausbildung und meine Schriftstellerbiografie gegeben – ja, sogar meine Arbeitsweise –, um ihn doch gleichzeitig in allen anderen Aspekten des Lebens, das sehr traurig und alptraumhaft ist, mir so unähnlich wie möglich zu machen. Sein Leben ist das absolute Gegenteil von meinem: Ich bin sehr zufrieden, hatte viel Glück in meinem Leben. Danny ist traurig und unglücklich und voller Verlustängste. Er verliert im Laufe seines Lebens jeden Menschen, den er liebt und den er zu verlieren fürchtet – entweder sterben sie oder sie verlassen ihn. Tatsächlich war Danny von Anfang an eine gespaltene Figur: Er ist mir so unähnlich wie nur irgend möglich – nur dieser kleine Teil seines Lebens, seine „Writing History“, ist exakt mit meiner identisch.
Warum haben Sie Danny so deutlich Ihre Schriftstellerbiografie gegeben? Es war doch klar, dass Sie damit eine autobiografische Lesart des Romans bei vielen Lesern und Kritikern provozieren würden?
Ich kann auch nichts dafür, wie unglaublich interessiert die Leute heute an dem autobiografischen Gehalt von Literatur sind. Das ist eine ziemlich neue Sache. Ich schreibe seit den 1960er-Jahren und damals interessierte sich niemand dafür. Das begann in meinem Fall erst in den 90er-Jahren. Mich selber interessiert es heute nicht die Spur mehr als damals. Niemand stellte mir in den 70er- und 80er-Jahren autobiografische Fragen zu „Garp“ oder „Owen Meany“ – und dabei gibt es eine Menge offensichtlicher Dinge, die man mich dazu hätte fragen können. „Owen Meany“ ist ein Buch über den Vietnam-Krieg, aber niemand hat mich damals gefragt, was ich in jener Zeit gemacht habe.
„Letzte Nacht in Twisted River“ ist in weiten Teilen ein Roman über das Schreiben von Romanen – am Ende beginnt Danny ja sogar damit, genau diesen Roman zu schreiben. Diesen Prozess des Schreibens wollte ich deutlich machen. Deshalb war es wichtig, dass seine Art des Schreibens so nah wie möglich an meiner sein musste.
Ich mag diese Verbindung: Die Struktur des Romans ist eiförmig; genau wie bei „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ endet er dort, wo er angefangen hat. Der Schriftsteller Danny arbeitet wie ich: Er kennt bereits das Ende seines Buches und arbeitet sich vor zum Anfang, zum ersten Satz. Und als er den findet, hat er das Gefühl, als begänne seine Reise erneut von vorn. Ich wollte ihn als Schriftstellerfigur verständlich und nachvollziehbar machen. Und ich dachte, ich mache das, wie ich es am besten kann: in meiner Art. Die Bücher, die er schreibt, sind Parallelen zu Büchern, die ich geschrieben habe.
Ich kann nichts gegen diese Fixierung machen, die den literarischen Journalismus irgendwann in den 90ern überkommen zu haben scheint, als „wahres Leben“ oder „Autobiografie“ plötzlich interessanter wurde als fiktionale Literatur. Für mich selber ist Literatur immer noch interessanter.
Wenn jemand heute Shakespeare interviewen würde, würde er dann fragen: „Ihr Vater war Handschuhmacher, warum schreiben Sie keine Stücke über Handschuhe, warum immer diese Könige und Königinnen?“ Oder wenn Sophokles interviewt würde: „Ein Stück über Inzest – o.k., aber gleich drei? Was ist da mit Ihrer Mutter und Ihrem Vater schiefgelaufen?“ Es ist absurd, aber man kann nichts dagegen tun, dass Literatur, dass Romane heute im Leben der meisten Menschen nicht mehr eine so große Rolle spielen wie vielleicht noch vor 20 Jahren. Dass die nicht fiktionale Welt, die der Nachrichten, in den meisten Fällen wichtiger ist. Dass die meisten Menschen heute nicht mehr so viel Verwendung für Fantasie haben wie früher. Aber das bedeutet nicht, dass die Menschen, die heute Romane lesen, diese nicht schätzten und nicht verstünden – allein die Prozentzahlen haben sich verändert: Deutlich weniger Menschen als noch vor 20 Jahren lesen heute Romane.
Für mich allerdings ist die Welt der sogenannten Realität nicht so schrecklich interessant. Mir gefällt immer noch, was Dickens in „David Copperfield“ sagt. Copperfield – nachdem er ein junger Mann geworden ist – ist ziemlich enttäuscht, als er herausfindet, dass das wirkliche Leben viel schlampiger und chaotischer ist, als er angenommen hatte. Denn in den Büchern, die er als Kind gelesen hat, war die Welt keineswegs schlampig, sondern sehr viel geordneter, und alles machte Sinn. Das wirkliche Leben ist aber nicht so gut konstruiert wie eine Geschichte. Und so wie Copperfield war ich auch ziemlich enttäuscht, dass nichts im wahren Leben so gut konstruiert ist wie im Roman. Die Architektur des Lebens ist nicht halb so gut wie die einer guten Geschichte. Das Leben macht auch nicht immer Sinn …
Es ist also kein Spielchen, das Sie hier mit den Kritikern treiben, die immer auf der Jagd nach einer autobiografischen Lesart Ihrer Romane sind? Sie liefern Ihnen mit Danny eine Figur, die so offensichtlich wesentliche Eckdaten Ihrer Biografie teilt – und die doch so ganz und gar nicht wie Sie selbst ist.
Es ist kein Spiel, sondern ich wollte deutlich machen, was von seiner Imagination aus seinem Leben stammt – sehr wenig – und welche Teile seiner Vorstellungskraft schon immer da waren. Ich mag die Szene, als Danny noch als Junge zu Carmella kommt, um ihr die schlechten Nachrichten über ihren Sohn Angel zu überbringen und sie seinen Kopf in ihren Schoß nimmt. Er ist zu diesem Zeitpunkt noch ein kleiner Junge, aber so wie es ein Schriftsteller tun würde, löst er sich aus dieser konkreten Situation und betrachtet sie aus der Distanz: Er sieht sich in der Küche stehen, wie er einen Jungen beobachtet, der von einer weinenden Frau im Schoß gehalten wird – alles wie durch das Teleobjektiv einer Kamera. Er ahnt, dass er diese Stimmung in sich festhalten muss, um eines Tages darüber schreiben zu können – aber er selber möchte nicht dieser Junge und nicht in dieser Situation sein. Es ist sicherlich nicht der größte Teil, aber: Dannys Imagination, woher sie kommt und wie er sie anwendet, ist Teil dieser Geschichte.
Ein Teil eines jeden Romans ist es für mich, mir vorzustellen, was das Schlimmste wäre, was passieren könnte – und was dann noch schlimmer wäre und noch schlimmer … Ich schreibe immer schon mehr darüber, wovor ich mich fürchte, über meine Alpträume, als über das, was mir wirklich passiert ist. Es sind diese Geister, die immer wiederkommen: das verlorene Kind, die Unfähigkeit, diejenigen zu beschützen, die man liebt.
Sie haben vorhin von Ordnung gesprochen. Wie wichtig sind Ordnung und Struktur bei Ihrem Schreiben? Ist Disziplin dafür wichtig?
Man bekommt nur einmal die Chance, diesen einen Roman zu schreiben. Warum sollte man sich damit also beeilen? Warum sollte man dabei schlampig oder achtlos vorgehen? Man kann es nicht noch mal machen. Man kann das Buch nicht zwei, drei Jahre nach seiner Veröffentlichung zurücknehmen und nachbessern.
Deshalb überarbeiten Sie jeden Roman mehrfach, bevor er veröffentlicht wird?
Ja, und außerdem: Es hat sich wenig verändert in der Art, wie ich schreibe – bis auf eine Sache. Und ich glaube, die ist von Bedeutung. Ich habe immer die ersten Fassungen eines Manuskripts mit der Hand geschrieben, weil ich das Gefühl hatte, mich selbst beim ersten Entwurf zur Langsamkeit anhalten zu müssen, mich bremsen zu müssen. Ich kann seit Teenager-Tagen tippen, und ich tippe ziemlich schnell – egal, ob auf einer alten Schreibmaschine oder auf einem Laptop. Aber ich habe von Beginn an die ersten Fassungen eines Romans immer per Hand geschrieben, weil das die richtige Geschwindigkeit war: langsam. Ich habe dann später beim Überarbeiten die Schreibmaschine benutzt, um etwa Einschübe hinzuzufügen, wenn die eigentliche Geschichte schon stand. Und auch die Überarbeitungen habe ich immer mit der Maschine gemacht. Aber seit zwei, drei Romanen mache ich auch das nur noch per Hand. Ich tippe eigentlich gar nicht mehr, wenn ich einen Roman oder ein Drehbuch schreibe. Klar, ich liebe mein Laptop, ich liebe es, E-Mails an Freunde oder meine Kinder zu schreiben. Es ist schnell, es ist praktisch – aber es ist zu einfach; es geht zu schnell. Auch wenn es auf den ersten Blick länger zu dauern scheint, einen dicken Roman per Hand zu schreiben, dauert es eigentlich nicht wirklich länger, denn ich mache weniger Fehler. Das merke ich, wenn ich ihn zwei-, dreimal überarbeite: Das geht dann schneller, denn ich habe weniger zu tun.
Wenn ich damit beginne, einen Roman zu schreiben, dann kenne ich die Geschichte ja bereits und weiß alles, was passiert. Es ist also nicht so, dass ich zwischendurch innehalten müsste, um zu überlegen, was als nächstes mit Ketchum passiert und wann wir ihn wiedersehen. Zu dem Zeitpunkt, an dem ich den ersten Satz eines Romans schreibe, weiß ich, was mit Ketchum passiert und wann. Ich weiß, wann er zum ersten Mal beinahe versucht, seine Hand abzutrennen, und ich weiß, wie viele Kapitel später er seine Hand tatsächlich verlieren wird.
Man muss vorsichtig sein, wenn man schon alles weiß, was in einer Geschichte passiert: Die einzige Sache, um die ich mich beim Schreiben kümmern will, ist die Sprache: Wie sage ich etwas? Und die beste Art, mich darauf zu konzentrieren, ist, wenn ich einen Stift benutze und in ein Notizbuch schreibe. Ich will daraus keine große Sache machen, aber für mich bedeutet es viel: Ich fühle mich freier. Mein Schreibtisch ist leerer – ich habe keine Maschine dort stehen. Und ich kann überall im Haus arbeiten. Ein Notizbuch und ein paar Blatt Papier sind ziemlich tragbar. Ich muss nicht in meinem Arbeitszimmer sitzen. Ich kann am Esszimmertisch arbeiten, wenn ich das Gefühl habe, dass dort das Licht besser ist, oder wenn der Hund so einsam aussieht, dass ich lieber bei ihm sitzen möchte. Es ist auch eine Art, das Schreiben konstanter zu machen. Man kann ein Notizbuch und einen Stift überall mit hinnehmen, ins Flugzeug oder ins Hotelzimmer.
Apropos Zeit: 2007 wurde bei Ihnen Prostatakrebs diagnostiziert, Sie wurden operiert.
Ich erhielt die Diagnose Ende Februar, kurz vor meinem Geburtstag Anfang März, und ich hatte die Operation in der ersten Aprilwoche. Zwischen der ersten Diagnose, die nicht gut war, und der OP gab es also ein Sechs-Wochen-Zeitfenster, von dem ich dachte, dass dies jetzt der Anfang vom Ende sei. Ich bin mit meiner ganzen Familie – Kindern, Enkelkindern – nach Mexiko gereist und habe ihnen allen versichert, dass ich wieder gesund werden würde, obwohl ich absolut nicht sicher sein konnte, dass das der Fall sein würde. Als man mich schließlich operierte, fand man heraus, dass der Tumor kleiner war, als man zunächst angenommen hatte, und dass er nicht außerhalb der Prostata gewuchert hatte. So konnte man bei der Operation einen großen Teil der Blutgefäße und Nerven erhalten und sie war nicht so zerstörerisch, wie diese Eingriffe sonst oft sind. Ich hatte Glück: Als ich nach der OP aufwachte, sagte der Chirurg zu mir, dass alles gut verlaufen sei und wir uns nie wiedersehen würden. Es war eine interessante Erfahrung nach dieser düsteren Prognose … Vor der OP sagte man mir, dass eine 70-prozentige Chance bestünde, dass der Krebs zurückkomme – nach der OP ging man nur noch von einem Risiko von drei Prozent aus. Ich meine, in meinem Alter ist das Risiko, von einem Auto überfahren zu werden, höher als drei Prozent. Ich habe mich sogar besser gefühlt als vor der Diagnose: Ich wusste, was auch immer mich eines Tages umbringen wird – der Krebs wird es jedenfalls nicht sein.
Hat das Ihre Einstellung zu Ihrem Schreiben verändert?
Es war ein Gefühl, als ob ein Schuss unmittelbar am Kopf vorbeirauscht und einen nur ganz knapp verfehlt. Aber ich musste nicht durch diese Krankheit daran erinnert werden, was meine Prioritäten sind. Ich denke, es ist ein Luxus, den ganzen Tag lang das tun zu dürfen, was man am meisten liebt. Am Anfang meiner Karriere, vor „Garp“, war ich höchstens zwei Stunden lang am Tag ein Schriftsteller, der Rest der Zeit ging für andere Jobs drauf – unterrichten, trainieren. Erst nach der Veröffentlichung von „Garp“, meinem vierten Roman, konnte ich es mir leisten, acht Stunden am Tag ein Schriftsteller zu sein.
Also meinte der Kapitalismus es gut mit Ihnen, wie es im Roman so schön heißt.
Oh ja … Wissen Sie, was lustig ist? Kurt Vonnegut hat diesen Satz tatsächlich zu mir gesagt – aber ich wusste, er hat ihn zu all seinen Studenten gesagt. Wir haben später darüber gesprochen. Er war ein echt netter Kerl … Nach der Veröffentlichung von „Last Night in Twisted River“ bekam ich einen Brief von Vonneguts Tochter Nanette, die mir schrieb, dass ich ihren Vater sehr gut getroffen habe. Und sie fragte mich, ob ich denn wüsste, dass er diesen Satz „Kapitalismisgonnabekindtoyou“ nicht nur zu allen seinen Schreibstudenten gesagt habe, sondern auch zu seinen Kindern. So, wie andere Väter „Gute Nacht“ sagen, sagte er „Der Kapitalismus wird es gut mit dir meinen …“ Da waren sie vielleicht 12 oder 13 Jahre alt. Das ist so lustig, weil wir ja alle wissen, was Vonnegut von dem großen, bösen Monster Kapitalismus hielt. Ich habe keine Ahnung, woher dieser Ausspruch kommt, ich habe mir immer vorgestellt, dass es ein Satz aus seiner Zeit als Autoverkäufer war, als er Saabs verkaufte. Wenn Familien vor dem Kauf eines so teuren Autos zögerten, versuchte er sie, damit zu überreden. Es klingt jedenfalls wie ein Autoverkäuferspruch.
Hat Ihre Krebsdiagnose eigentlich Ihre Einstellung zum Tod verändert? Tod spielt ja in all Ihren Romanen immer eine große Rolle, häufig sterben Ihre Romanfiguren viel zu früh. Ist der Tod für Sie jetzt ein noch wichtigeres Thema geworden?
Nein, denn es ist nie mein eigener Tod, der mich beschäftigt. Wenn ich morgen sterben würde, dann wäre ich immer noch ein glücklicher und zufriedener Mann. Ich würde mich schlecht fühlen für meine Frau und meine Kinder, aber nicht für mich. Mein Leben war vom Glück begünstigt. Es ist immer der Tod der Menschen, die man liebt, den man fürchtet. Das geht doch jedem so: Man weiß, dass man sterben wird. Aber es ist nicht der Tod, den man fürchtet, sondern das Wie und das Wann.
So, wie in einer Geschichte. In diesem Roman wissen wir doch, dass der Cowboy hinter Danny und seinem Vater her ist. Wir wissen, dass er sie kriegen wird. Wir wissen, dass sie nicht davon kommen werden. Es wäre keine gute Geschichte, wenn der Cowboy sie nicht finden würde. Es ist unvermeidlich, dass er sie finden wird. Aber er ist ein ziemlich dummer Kerl und er braucht dafür ziemlich lange. Und jemand muss einen Fehler machen. Aber was man nicht weiß, ist, dass ausgerechnet der Mensch, von dem man glaubte, dass er niemals einen Fehler macht, den entscheidenden Fehler begeht: Ketchum, der wie ein Gott der Wälder erschien.
Wenn man älter wird, ist alles, was man sich wünschen kann, dass man würdevoll stirbt und dass es die Menschen, die man liebt, nicht allzu sehr traurig macht. Aber in meinen Romanen beschäftigt mich der Verlust der Menschen, die man liebt – und nicht der Verlust des eigenen Lebens.
Der Krebs war interessant, aber ich muss ehrlich sagen, dass ich schwierigere und viel schmerzhaftere orthopädische Eingriffe nach Sportunfällen hatte als diese Prostatektomie.
Das Schlimmste nach dieser OP war – was viele Männer fürchten – der Katheder. Man hat für zehn Tage diesen Gartenschlauch in seinem Penis. Das ist nicht angenehm. Nicht wirklich schmerzhaft, aber einfach unbequem. Man schläft schlecht, kann sich schlecht bewegen und hat eine Woche lang so einen weiten Kaftan an, um dieses merkwürdig aussehende Ding zu verbergen. Meine Frau und ich haben viele Scherze darüber gemacht. Die Ärzte im Krankenhaus sagten mir, dass ich vermutlich Probleme haben würde, Treppen zu steigen mit diesem Ding, wenn ich nach Hause käme. Also kam mein ältester Sohn aus Kalifornien, um mir zu helfen. Der Moment, als ich Angst bekam, war, als ich nach Hause kam und die erste Person, die ich sah, mein Hund war. Sie ist sehr freundlich, aber groß und kräftig. Sie sah mich mit diesem komischen zeltartigen Teil kommen und dachte sich: „Oh, was ist das? Sieht aus wie ein neues Hundespielzeug – er hat da drunter was für mich, was zum Spielen.“ Und ich stehe da und denke: „Oh, oh, der Hund.“ Gleichzeitig ging mir aber der Gedanke durch den Kopf, dass das keine Szene ist, die ich aufschreiben will … Aber mein Sohn Colin war in der Küche, sah den Hund, wie er auf mich zukommt, springt auf, stürzt sich auf ihn und ringt ihn auf halbem Weg nieder und rettet mich. Ich dachte nur: „Oh Mann …“ Daraus habe ich gelernt, in der ersten Woche erst mal vorsichtig mit dem Hund zu sein. Es ist komisch, aber wenn Sie mich fragen würden, an was ich mich später von dieser Krebserkrankung erinnern werde, dann ist das dieser beängstigende Moment, wo der Hund quer durch die Küche auf mich zukommt.
Hatten Sie eigentlich schon vor diesem Buch so viel Ahnung vom Kochen?
Oh ja, immer schon. Ich habe kochen gelernt, als ich noch ein Teenager war, und die meisten Jobs, die ich während der Schule und des Studiums hatte, waren in Restaurantküchen. Als Küchenhelfer habe ich meist die einfachen Sachen gemacht, Zwiebeln schneiden, Paprika schneiden, so etwas. Ich habe es immer geliebt, zu kochen, und heute bin ich der Koch in unserer Familie und habe das auch an meine Söhne weitergegeben. Meine erwachsenen Söhne sind ebenfalls die Köche in ihrer Familie und selbst mein jüngster Sohn, der jetzt mit dem College beginnt, ist schon ein guter Koch. Wenn ich schon mal sehr beschäftigt bin, kann ich jederzeit ihn fragen, ob er das Abendessen machen kann. Ich habe viele Freunde, die Küchenchefs in Restaurants sind und die haben mich in ihre Küchen eingeladen, als ich ihnen gesagt habe, dass ich mich daran erinnern müsse, wie die Arbeit in einer Restaurantküche läuft, wie geschäftig es dort zugeht. Ich habe sie darum gebeten, mal eine Woche vorbeikommen zu dürfen und in ihren Küchen zu arbeiten – habe aber auch versprochen, dass ich mich darum bemühe, niemandem im Weg zu sein.
Dieser Teil der Arbeit an „Twisted River“ war also ziemlich einfach: Ich habe einen Freund, der Koch in einem chinesischen Restaurant in Vermont ist, zwei Freunde haben ein französisches Restaurant in Toronto betrieben, ein anderer Freund ist in einer italienischen Nachbarschaft in Boston groß geworden. Er hat mich dort überall rumgeführt. In seiner Küche war ich schon oft in den letzten Jahren. Außerdem ist er immer derjenige, den ich anrufe, wenn etwas schiefgeht, wenn ich selber koche. Ihm habe ich damals auch „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ gewidmet. Nachdem sie mich in ihren Küchen haben arbeiten lassen, habe ich ihnen anschließend auch das Manuskript zum Lesen gegeben – um sicherzugehen, dass ich nicht irgendwelche Fehler gemacht habe. In meiner Heimatstadt in Vermont gibt es eine Frühstücksköchin, mit der ich mich ausgetauscht habe über die Art des Kochens in Holzfäller-Camps: Arbeiteressen, einfache Sachen für eine große Zahl von Leuten.
Viele Bücher, die ich geschrieben habe, waren ziemlich schwierig in der Recherche, ich musste viele Dinge lernen, die mir sehr fremd waren, aber dieses war leicht. Kochen war mir immer schon sehr vertraut. Ähnliches gilt auch für das Holzgeschäft: Zwei meiner Cousins waren im Holzgeschäft, haben in Holzfäller-Camps im nördlichen New Hampshire gearbeitet. Ich habe sie dort in den 50ern und 60ern besucht. Meine Cousins sind immer noch im Geschäft und als ich ihnen sagte, ich müsste mich mit ein paar alten Haudegen unterhalten, haben sie Flößer, Ketchum-Typen, für mich gefunden. Die Männer sind heute in ihren 80ern, 90ern.
Meine Cousins haben mir früher sogar beigebracht, auf den Baumstämmen zu laufen – ich weiß also, wie schwierig das ist, dass man schnell sein muss, obwohl ich das nie auf fließendem Wasser gemacht habe, sondern immer nur in den Hafenbecken. Da ist es leichter: Wenn man dort fällt, stirbt man nicht.
Vielen Dank für das Gespräch!
Petra Vesper
Fotos: Frank Schorneck
Eine Rezension von „Letzte Nacht in Twisted River“ finden Sie hier, eine Rezension von „Bis ich dich finde“ hier und ein weiteres Gespräch mit John Irving (aus dem Jahr 2006) hier.