Der Interview-Klassiker
– Da die New York Times sich gerade dafür entschieden hat, fertiggestellte, druckreife Interviews von den Gesprächspartnern nicht mehr nachträglich gegenlesen und korrigieren zu lassen, ist es angebracht, an einen echten Klassiker; den brillanten und taburesistenten Interviewer André Müller und dessen wunderbaren Band „Sie sind ja wirklich eine verdammte Krähe“ (2011) zu erinnern: Hätte der geduldige, ewig fragende, neugierige und bohrende Müller es nicht mit so vielen bornierten und nervtötenden Gesprächspartnern zu tun gehabt, die post festum ihre eigenen Statements umformulieren, korrigieren, löschen und juristisch verbieten lassen wollten, dann wäre diese im letzten Jahr verstorbene, begnadete Edelfeder vielleicht noch am Leben. Von Peter Münder
Stundenlang hatte er 1995 mit Alice Schwarzer in Köln diskutiert und im Laufe des turbulenten Abends mit ihr reichlich Hochprozentiges getrunken. „Wir haben auf hohem Niveau aneinander vorbeigeredet“, erklärte André Müller (1946–2011) im Nachwort zu seinem legendären Interview-Band „Sie sind ja wirklich eine verdammte Krähe“. Extrem unangenehm und aggressiv wurde Alice Schwarzer schließlich, als sie über Elfriede Jelinek diskutierten, mit der Müller befreundet war. Er sei gemeingefährlich, schauerlich, borniert, tobte sie, er würde Stuss produzieren und seine Gesprächsführung sei obszön. Sie brach das Gespräch abrupt ab, rannte empört aus dem Zimmer und untersagte die Veröffentlichung des Interviews – das Krähen-Zitat stammt von der wutentbrannten Feministin.
Schwarzer schrieb damals sofort an den Zeit-Redakteur Benjamin Henrichs, es sei „nicht verantwortbar, Müller auf Menschen loszulassen“. Und Müller verblieb nur ein 70 Seiten starkes Tonbandprotokoll. Er bezeichnete dieses Fiasko als sein „größtes Scheitern als Interviewer“. Aber war es nicht gerade seine hohe Kunst, seine Gesprächspartner bis zum Äußersten zu bringen, alle Floskeln, harmonieseligen Beschwichtigungen und Phrasen zu vergessen und aus den Interviews das herauszukitzeln, was unter die Oberfläche geht und den wahren Charakter der Interviewten offenbarte? Lebte die Legende Müller nicht immer davon, die Interviewten auch mal in Rage zu bringen, weil Tabuzonen für ihn nicht existierten?
Den Regisseur und Burgtheaterdirektor Claus Peymann hatte Müller 1988 in Wien zu einer Schmähorgie beflügelt, die beinah eine Staatskrise ausgelöst hätte: Peymann hatte weder den Ex-Nazi Kurt Waldheim geschont noch den bürokratischen Verwaltungsmoloch des Burgtheaters und fast alle bekannten Theaterkollegen verhöhnt oder beschimpft. Und die Zeit war in ganz Wien ausverkauft gewesen – auch ein kleiner Triumph des begnadeten Journalisten.
Keine Scham, keine Grenzen
Der Österreicher André Müller, Germanist, Gerichtsreporter, Theaterkritiker (bei der österreichischen Kronen Zeitung) und freier Journalist, hatte seine Interviews in der Zeit, dem Spiegel, der Schweizer Weltwoche, dem Stern und dem Playboy veröffentlicht (und auch in mehreren Büchern). Vielleicht sorgte der lange Umgang mit Theaterleuten für die nötige Unbekümmertheit im Journalistengewerbe – jedenfalls schien ihm nichts peinlich zu sein: Vom defätistischen Dramatiker Thomas Bernhard – den er sehr mochte – wollte er etwa wissen, ob er Anstiftung zum Selbstmord leisten wolle und wie viele Selbstmordversuche er selbst absolviert habe, den Jahrhundertschauspieler Bernhard Minetti befragte er nach dessen Größenwahn und zu seinem Verhalten während der Nazizeit, beim Porno-Starlet und Busenwunder Dolly Buster eruierte er, was es mit „ausreichender Schmierung“ beim Analverkehr auf sich habe. „Mir ist nichts peinlich“, erklärte Müller, „was soll mir peinlich sein? Schon Thomas Bernhard hat gesagt, wenn man an den Tod denkt, ist alles lächerlich. Ich habe keine Scham, ich habe keine Grenzen.“
Ein großes Problem, das wird beim Nachlesen der autorisierten Gespräche und der aufgehübschten Rudimente zurückgezogener Interviews deutlich, stellten die Gesprächspartner dar, die nach langer Planungsphase und nach Müllers intensiven Recherchen, nach stundenlangen Diskussionen sich schließlich als hochneurotische Bedenkenträger und Rückzugsstrategen entlarvten: Außenminister Genscher mit einer Absage kurz vor dem Gespräch (Flug, Hotel, alles schon gebucht) gehörte dazu, der kritisch-polemische Karl Lagerfeld hatte nach dem Interview Bedenken an einigen Interview-Passagen, aber der Künstler Gerhard Richter schießt hier den Vogel ab: Er empfing Müller in Dresden zwar zu intensiven, ein breites Spektrum abdeckenden Gesprächen – nur um dann hinterher seinen Anwalt einzuschalten, der dann ein Veröffentlichungsverbot erzwang. Im Beitrag über Richter beschreibt Müller daher zwar diverse Details der Richter-Wohnung und alle möglichen banalen Äußerlichkeiten, doch irgendein Zitat des Meisters durfte er nicht verwenden. Dem Künstler waren offenbar Äußerungen über seine Kindheit, seine familiären Verhältnisse und psychischen Befindlichkeiten allzu peinlich und selbst entlarvend geworden – nach dem Motto: „Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern, heute behaupte ich das Gegenteil.“
Literarischer Hochgenuss
Spannend und erhellend sind Müllers Interviews nicht wegen eines Voyeurismuseffekts, den der Leser vielleicht bei der Selbstentlarvung eitler Poseure empfindet. Wenn André Müller etwa Salman Rushdie nach seiner Haltung zum Islam und zu den umstrittenen dänischen Zeitungskarikaturen befragt oder über seine Erfahrungen während der lebensbedrohenden Fatwa-Phase, dann wird sein geradezu obsessives Erkenntnisinteresse erkennbar. Mit dieser unerbittlichen Suche nach dem wahren Kern einer Story, nach dem, was einen Menschen wirklich bewegt und antreibt, bringt er seine Gesprächspartner aber auch zur völligen Selbstdemaskierung.
Der Skandalautor Jonathan Littell, Spezialist für sadistische, homosexuelle Nazi-Umtriebe („Die Wohlgesinnten“, 2006, 1380 Seiten stark), ist dafür ein schönes Beispiel. Dieser „bleiche, vierzigjährige Jüngling mit Ohrring und fahlem Blick“, immer bestrebt, den abgeklärten Außenseiter zu mimen, der am Literaturbetrieb gänzlich desinteressiert ist, will nicht enthüllen, woher er seine Kenntnisse über die homosexuellen Praktiken seiner Hauptfigur, einem SS-Offizier, hat: „Das ist privat“, erklärt er, „ich frage Sie ja auch nicht, mit wem Sie ficken.“ Er entlarvt sich dann als verquaster, diffuser Provo-Bramarbaseur, wenn er sein Interesse „an den Mördern und nicht an den Opfern“ bekundet und verkündet, sein Machwerk als „Mensch und nicht als Jude“ geschrieben zu haben. Der merklich angewiderte Müller führt das Interview weiter bis zum unergiebigen Ende, er zitiert tapfer aus Littells Roman („Mein Arsch öffnete sich für ihn wie eine Blüte“), doch als dieser seinem Interviewer dann am Schluss eröffnet, der könne ihn sogar später noch für Nachfragen in Barcelona erreichen, da reicht Müller diese subkutane Performance: „Es war genug“, kommentiert der sichtlich genervte Interviewer diese Begegnung.
Zu den eindrucksvollsten Gesprächen gehören auch die mit dem empörten Reich-Ranicki , der sich permanent als Jude diskriminiert fühlt, mit Günter Grass (mit einer herrlichen Diskussion über sein Kunstverständnis) und dem ehemaligen deutschen Nationaltorwart Toni Schumacher, den Müller auf Peter Handkes „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“ hinweist. Der Band enthält insgesamt 21 großartige Gespräche, wunderbar formulierte Einsichten, Diskussionen, Streitgespräche – ein literarischer Hochgenuss.
Als André Müller im Jahr 2000 in Hamburg mit dem Ben-Witter-Preis ausgezeichnet wurde, zitierte der Laudator Benjamin Henrichs aus Thomas Bernhards Stück „Der Theatermacher“: „Unter uns gesagt: Ich bin ein Klassiker“, meint darin der skurrile Theaterfürst Bruscon – und Benjamin Henrichs fügte hinzu: „Unter uns gesagt, lieber André Müller. Das dürfen Sie auch sagen.“ Wer wollte da widersprechen? Und wer würde bezweifeln, dass es richtig ist, die aufreibende Praxis, fertige Interviews nach langen Gesprächen noch einmal zu korrigieren oder mit blumigen, selbst gestrickten Metaphern zu dekorieren, endlich zu beenden? André Müller ist zwar im letzten Jahr an einer Krebserkrankung gestorben, doch kann man sicher sein, dass sein Immun- und Nervensystem durch den Umgang mit eitlen Bedenkenträgern und Druckgenehmigungsverweigerern stark in Mitleidenschaft gezogen war und sich lebensverkürzend ausgewirkt hatte.
Peter Münder
André Müller: „Sie sind ja wirklich eine verdammte Krähe!“ Letzte Gespräche und Begegnungen. Mit einem Vorwort von Elfriede Jelinek. München: Verlag Langen Müller 2011. 368 Seiten. 19,99 Euro. Texte, Videos und Interviews VON Müller finden Sie hier, ein Video-Interview MIT André Müller hier.