Thomas Wörtche, 29.04.2002
Ist Ihnen das auch schon aufgefallen? Immer wenn ich durch die Kanäle zappe, schleppen aufgekratzte junge Menschen lange Klopapier-Bahnen hinter sich her oder ein alberner Bär macht alberne Verrenkungen, die auch wieder irgendwie mit Klopapier zu tun haben. Irgendwie habe ich das Gefühl, zunehmend in einer Gesellschaft zu leben, deren drängendstes Problem die Diarrhöe ist. Oder der Analzwang.
Auf jeden Fall muss so eine Marketingoffensive, die Spurenbeseitigung und Analhygiene als fun & frolic inszeniert, irgendeinen besonderen Haken in der Realität haben: Entweder hat dieses Volk die Hosen gestrichen voll oder es leidet unter dem Bedürfnis, jeden Dreck sofort, radikal und unter massiven Materialeinsatz wegzuputzen.
Beides scheint mir genau besehen nur allzu plausibel. Modern life & times schlagen auf die Persistaltik und die Digestion: Wer heute nicht Beamter ist (die müssen zwecks Fort- und Weiterkommen den peristaltisch gesehen in die andere Richtung führenden Weg nehmen), dessen Existenz kann morgen in Trümmern liegen, weil ein paar Prozentpunkte mehr Profit für Irgendwen in Irgendwo seine Firma so dicht macht wie ein Darmverschluss. Damit gerät dann alles in Fluss: Der schicke neue Wagen, die HighTech fürs Kind und der shrink für die Gattin. Das macht eine Scheissangst, auch wenn es gar nicht so passieren muss. Aber es kann passieren, wie die Wirtschaftsseiten der Zeitungen täglich drohen, mit denen man sich früher gern ersatzweise den Hintern abgewischt hat, die man heute aber mit zitternden Fingern studiert. Dieser vereinte mediale-politische-profitorienierte Druck muss ja irgendwo hin – in Japan fallen übrigens 30.000 Menschen pro Jahr gleich tot am Arbeitsplatz um – bei uns verdient erst mal die Hygienemittelindustrie. Die realen Gründe für so eine Möglichkeit mögen statistisch gar nicht so brennend sein, aber die Angst davor ist ein harter Faktor. Das haben die Wirtschaftslobbys von der Abteilung „Gewalt & Verbrechen“ gelernt.
Jeder Sicherheitsfachleut weiss, dass der Prozentsatz von Verbrechen der ordinären Art (Raub, Mord, Vergewaltigung etc.) einen über Jahrzehnten gleichen Sockel nicht überschreitet (white-collar-Kriminalität ist nach wie vor Definitionssache und hängt von denen ab, die über die Definitionen herrschen, weshalb auch nur hin und wieder Milliarden-Betrüger auffliegen), aber die Angst vor „dem Verbrechen“ ist genauso ein harter Faktor, mit dem man allerlei Interessenpolitik betreiben kann: Die Leute sind scared shitless, wie die Amerikaner sagen – und womit wir wieder beim Thema sind. Das Massaker von Erfurt wird schwer diarrhöeische Ströme von moral panic erzeugen. Und alles das muss weg. Da buchen wir doch gleich noch mal dreißig Minuten mehr Werbezeit.
Das mit dem Putzzwang scheint so gesehen eher sekundär. Obwohl: Bevor die fröhliche Flucht ins Evasive angetreten werden kann (die ist ja immer noch en vogue, auch wenn man die Spaßgesellschaft für tot erklärt hat – Guido & die F.D.P. haben schon längst auf deren Verlängerung gesetzt und machen damit deutlich Punkte), muss erstmal alles blitzeblank geschrubbt sein wie der sprichwörtliche Babypopo. Grimmelige Verhältnisse mögen wir nicht, Weimar ist immer noch die ordnungspolitische Drohmetapher Nummer Eins. Aufgeräumtes Verhalten wird immer zackiger eingeübt: Die Kommissarin kriegt den Schurken, das Landei den Herrn Graf, das Böse sein Fett und der FC Bayern wird nicht deutscher Meister, Bücher, die ein Minimum an Denken erfordern, werden nicht verkauft, genauso wenig wie Essen, das man womöglich kauen muss. Es musste schwer gewienert, poliert und gescheuert werden am Mensch, bevor man solche Zustände als „normal“ herstellen konnte. Und wo viel geputzt wird, muss logischerweise auch viel Putzgut angefallen sein.
Und deswegen zappe ich vermutlich immer wieder dort rein, wo des Deutschen liebstes Putzwerkzeug gutlaunig beworben wird.
Thomas Wörtche