Aleks Scholz ist Autor und Astronom. In seiner Kolumne „Lichtjahre später“ erklärt er uns regelmäßig alles, was wir wissen müssen: über Zeit und Raum, Sterne und Planeten, enorme Entfernungen, riesige Größen – und all die anderen rätselhaften Dinge, die es bei der Beschäftigung mit dem Weltraum zu entdecken gibt. Heute:
Wozu brauchen wir das Kälteschwein?
Menschen haben immer an den Himmel gesehen, aus Gründen, die sich flexibel den Anforderungen der jeweiligen Zeit anpassten. Die einen benutzten Sonne, Mond und Sterne zum Navigieren über den Ozean. Sie stellten sich „Häuser“ am Horizont vor, und wenn ein Himmelskörper in einem bestimmten Haus landete, dann bedeutete das irgendwas, zum Beispiel Osten oder Westen. Andere brauchten Sternenseher, um den Kalender einigermaßen auf die Reihe zu kriegen. Im Mittelalter war das leidige Osterdatum lange Zeit eine hervorragende Motivation für möglichst präzise Himmelsbeobachtungen. Wieder andere wollten die Zukunft wissen, wähnten die dazu notwendigen Informationen am Himmel und brauchten dafür professionelle Sternenseher. Dann wiederum gab es Leute, die Sterne und Planeten beobachteten, weil Beobachten gerade so eine trendy Idee war und sie ansonsten auch alles andere genau ansahen und beschrieben. Irgendeinen Grund gab es immer.
Nur wir haben keinen. Nur uns fällt keine Ausrede ein, um nächtelang nach oben zu sehen. Vermutlich wird es schon in einem Jahrzehnt an den Universitäten niemanden mehr geben, der sein Geld damit verdient, den Himmel zu betrachten. Warum auch. Alles, was wir über das Universum wissen müssen, kommt über das Internet in den Computer. Deshalb ist es auch egal, wo wir arbeiten, das Institut wird zum Coworking-Space, das örtliche Teleskop zum Museum. Den Himmel über uns brauchen wir nicht mehr.
Deshalb bin ich vom Aussterben bedroht, und mit mir alle anderen beobachtenden Astronomen. Man kann heute in Astronomie promovieren, mit Daten arbeiten, und trotzdem kein einziges Mal an den Himmel gesehen haben. Astronomen müssen sich heute nicht mehr am Himmel auskennen, stattdessen bauen sie Elektronik und schreiben Code, ein Kultursprung, vergleichbar mit dem, der vor ein paar hundert Jahren stattfand, als Bürgerliche und Adelige die Zuständigkeit für den Himmel von Mönchen und Priestern übernahmen.
Wie konnte es dazu kommen? Wer ist schuld? Irgendwann erkannten wir, dass der Himmel in den meisten besiedelten Gegenden der Erde einfach nicht gut genug ist. Zu viel Wolken, zu viel Feuchtigkeit, zu viel Streulicht. Noch vor 100 Jahren stand das größte Teleskop der Welt mitten in Irland, einem Land, in dem es zwar praktisch jede Nacht Sterne zu sehen gibt, aber immer nur für zehn Minuten. Der Leviathan in Parsonstown im Schlosspark von Birr, mit einem Spiegel groß wie ein Doppelbett, war schon zu seinen Lebzeiten ein Anachronismus, ein schwerfälliger Koloss, den die Diener des Schlossherrn mit schweren Ketten herumzerren mussten, damit die Sterne ihm nicht davonrannten. William Herschel baute sein legendäres „Vierzig-Fuß-Teleskop“ in Slough im Westen von London, eine Stadt, die heute vor allem wegen des Lärmpegels, des Gestanks und des Drogenproblems bekannt ist. Inzwischen stehen die meisten großen Fernrohre weit weg, an Orten, die man selbst mit superschnellen Verkehrsmitteln erst nach ein bis zwei Tagesreisen erreicht. Natürlich nur, wenn alles glatt geht und man den Anschlussflug in Santiago de Chile kriegt.
Gerade Chile ist voll mit Teleskopen. In der Atacama-Wüste gibt es mehr Riesenteleskope als Einwohner. Auf dem Gipfel des Vulkans Mauna Kea in Hawaii herrscht mittlerweile ein solches Gedränge von Teleskopkuppeln, Parabolantennen und Monsterspiegeln, dass man Wegweiser braucht, um zum richtigen Fernrohr zu finden. Dort stehen sie also, die Geräte, die wir verwenden, um die schönen, bunten Bilder des Weltalls zu bauen, für die Pressemitteilungen, die jede Woche von einem neuen Zwilling der Erde, von einer gerade widerlegten Theorie über das Ende der Welt oder von einem neuen Schwarzen Loch erzählen.
Eine Weile beobachteten die Astronomen noch selbst, seit Erfindung der Fotografie zwar nicht mehr mit dem Auge am Okular, aber zumindest direkt vor Ort, neben oder unter dem Teleskop. Mehrmals im Jahr flogen wir nach Chile, nach Hawaii, nach Spanien, nach Australien, um auf einem abgelegenen Gipfel die Nächte durchzumachen. Zwischen 2001 und 2003 verbrachte ich insgesamt fast drei Monate auf dem Calar Alto, einem Berg in Andalusien im Wetterschatten der Sierra Nevada, auf dem Deutsche und Spanier in den 1970ern das größte Observatorium auf dem europäischen Festland bauten. Ich kenne Kollegen, die 50 Mal zum Beobachten in Chile waren, oft nur für wenige Nächte, zwei Tage reisen auf die andere Seite der Erde, zwei Tage beobachten, und wieder zurück.
Aber auch diese absurden Reisen, lange Zeit der Kern unserer Existenz, werden deutlich seltener. Zu spezialisiert, zu komplex, zu teuer sind viele der Teleskope mittlerweile, um jede Nacht einen anderen technisch inkompetenten Astronomen damit spielen zu lassen. Zunehmend führen gelernte Beobachter und Techniker vor Ort die Beobachtungsprogramme aus. Aus Sicht des Astronomen sieht es so aus, dass man irgendwann genau festlegt, was passieren soll, und dann, Monate später, strömen die gewünschten Daten aus dem Netz. Effizient, praktisch, unromantisch.
Manche Teleskope sind nicht nur weit weg, sondern unerreichbar, wie das Spitzer-Weltraumteleskop, das wie ein Planet die Sonne umkreist und (im Gegensatz zum Hubble-Weltraumteleskop) nicht einmal von Astronauten besucht werden kann. Bemerkenswert auch, dass Spitzer und die meisten der brandneuen Teleskope darauf spezialisiert sind, Strahlung einzufangen, die für das menschliche Auge unsichtbar ist. Die meiste Zeit beobachten wir Infrarot-, Röntgen-, Radio- oder Gammastrahlung. Die Worte „beobachten“ und „wir“ im vergangenen Satz machen keinen Sinn mehr. Wie Touristen sehen wir uns die neuen Riesengeräte an. Cutting out the middle man, Maschinen vermitteln zwischen uns und dem Weltall.
Alle diese Maschinen liefern Daten. Dass wir die Ergebnisse von Beobachtungen heute Daten nennen, ist eine Begleiterscheinung der neuen Astronomie. Wenn in vielleicht 10 Jahren das „Large Synoptic Survey Telescope“ (LSST) „online geht“ – ja, Teleskope werden heute nicht eingeschaltet, sie gehen online – wird es jede Nacht 15 Terabyte Daten erzeugen. Schon heute lagern in gekühlten Kellerräumen monströse Datenmengen, die geballten Rohdaten des Universums, gefiltert durch unsere Maschinen, verbreitet durch das Internet. Um die Daten zu interpretieren, benötigen wir zwei Modelle, eines für den Stern, die Galaxie, das Universum und eines für die Maschine. Das Objekt am Himmel zu verstehen ist in vielen Fällen das kleinere Problem.
Die Ära der Himmelsbeobachter geht damit zu Ende. „The New Sky“, so der Titel der LSST-Website, braucht uns nicht mehr, der neue Himmel wird nicht mehr von Beobachtern „gemacht“, sondern von Ingenieuren und Programmierern, ob wir es wollen oder nicht. Wollen wir es oder nicht? Welche Auswirkungen hat das für den Fortgang der uralten Geschichte der Astronomie? Wie wird das neue Kapitel aussehen? „Der neue Himmel“ bringt eine selbstverstärkende Entwicklung mit sich, andere Denkweisen werden in die Astronomie einziehen, was wiederum eine andere Sorte Wissenschaftler zur Astronomie bringen wird. Absehbar ist, dass die Projekte immer komplexer, die Teams immer größer und die Rolle des Einzelnen bei neuen Entdeckungen immer geringer sein werden, eine Entwicklung, in der die Teilchen- und Hochenergiephysiker schon einigen Vorsprung haben. Wie auch immer die Geschichte ausgehen wird, der Zugang zum Himmel ist weg. Abstrakt war das Universum schon immer, jetzt fällt auch seine letzte Manifestation in der anfassbaren Welt, der Nachthimmel. Stattdessen haben wir das Internet.
Vor diesem Hintergrund wirken die Bemühungen um die Rettung der Dunkelheit, die weltweit im Gang sind, der Kampf um die Nacht und gegen Lichtverschmutzung, seltsam aus der Zeit gefallen. Die Begründungen für diese Initiativen, zum Beispiel die der „International Dark-Sky Association“, beschränken sich meist auf Argumente wie „war immer da, muss erhalten bleiben“ oder „wie schön ist doch der Himmel“, dünnes Eis, wenn man bedenkt, dass man aus den Archiven heute schon künstliche Himmel erzeugen kann, die deutlich spektakulärer sind als der echte. Was sind schon ein paar tausend helle Punkte auf schwarzem Hintergrund gegen die bunten Bilder aus den Pressemitteilungen. Der neue Himmel ist besser als der alte, er ist dreidimensional, farbig und findet in geheizten Räumen statt. Stattdessen könnte man fordern, den Himmel da draußen mit Flutlicht zuzustrahlen, damit kein Mensch je auf die abwegige Idee kommt, das Universum sähe wirklich so langweilig aus.
Aber womöglich stimmt das alles auch nicht. Vermutlich gibt es auch heute noch gute Gründe, an den richtigen, alten Himmel zu sehen, man müsste sie nur finden. Es ist auch nicht wahr, dass es keine kompetenten Himmelsbeobachter mehr gibt. Nur sind es nicht mehr die Profis, sondern ehrgeizige, gut ausgerüstete Amateure, die in die Sterne sehen – „in die Sterne“, als ob es eine Landschaft wäre, die sich da oben ausbreitet. Oft können die Amateure besser erklären als die Profis, was sich gerade am Himmel abspielt, die Planeten, den Tierkreis, die Sternhaufen. Alkor, der Stern, der auf der Deichsel des großen Wagens reitet. Die Plejaden, die in Amateurkreisen manchmal das „Kälteschwein“ genannt werden, weil ihr Auftauchen am Herbsthimmel den Beginn der kalten Nächte anzeigt.
Amateurastronomen kennen unseren Code nicht, sie arbeiten nach eigenen Regeln. Für Amateure zählt nicht unbedingt die Physik oder der wissenschaftliche Fortschritt oder die Anzahl der Zitate, sondern womöglich so etwas wie das Erlebnis der Beobachtung selbst, die Freude daran, sich die kalten Nächte im Freien um die Ohren zu schlagen, um mit dem eigenen Teleskop ein Bild des Orionnebels zu erstellen, das annähend so gut aussieht wie die tausend anderen, die Google kennt. Oder ein Fake-3D-Bild von einem Sternhaufen zu bauen, just for fun. Einen Kometen zu verfolgen, wie er langsam aus den Tiefen des Sonnensystems näher kommt und dabei jede Woche ein bisschen heller wird. Oder überhaupt herausfinden, was der Lieblingsstern in einer bestimmten Nacht so treibt.
Amateurastronomen konservieren auf diese Weise die uralten Traditionen, sie erhalten die Gründe am Leben, die schon immer Menschen bewogen haben, an den örtlichen Himmel zu sehen, und bilden eine Brücke zwischen dem uninformierten Blick des Laien und den professionellen, maschinengestützten Forschungsprojekten. Schaden kann es jedenfalls nicht. Die Astronomie hat schon einige Male unerwartete Wendungen genommen. Vielleicht brauchen wir den alten Himmel noch in einem späteren Leben.
Aleks Scholz
Aleks Scholz, geboren 1975, ist Astronom und Schroedinger Fellow am „Institute for Advanced Studies“ in Dublin, Irland. Er befasst sich vorwiegend mit der Entstehung und der Entwicklung von Gelben, Roten und Braunen Zwergen. Foto: Ira Struebel. Aleks Scholz bei Google+.