Geschrieben am 21. März 2012 von für Kolumnen und Themen, Lichtjahre später, Litmag

Kolumne: Aleks Scholz: Lichtjahre später (3)

Der Weltraum, unendliche Weiten. Wie oft haben wir uns beim Nachdenken über Zeit und Raum, Entfernungen und Größen und Astrophysik schon das Gehirn verrenkt. Diese Zeiten sind nun vorbei. In der neuen Kolumne „Lichtjahre später” wird uns Autor und Astronom Aleks Scholz regelmäßig alles erklären, was wir wissen müssen: Bis zur Unendlichkeit und noch viel weiter! Heute:

Aleks Scholz. Foto: Ira Struebel

„Der Weltraum, unendliche Weiten.”

So steht es da oben, und natürlich gehen die Probleme damit schon los. Nicht zufällig ist die Unendlichkeit bei öffentlichen Veranstaltungen eine der drei  Eigenschaften des Universums, die die meisten Fragen auslösen (die anderen beiden sind Schwarze Löcher und Außerirdische). Aber ob die Weiten des Weltraums wirklich unendlich sind, wissen Astronomen überhaupt nicht. Das beobachtbare Universum ist zumindest endlich, wenn auch ziemlich groß: 90 Milliarden Lichtjahre im Durchmesser. Das beobachtbare Universum besteht aus allem, was wir prinzipiell sehen können, also die Dinge, von denen Licht zu uns gelangen kann. Je weiter eine Galaxie von uns entfernt ist, umso schneller flieht sie vor uns. Da die Geschwindigkeit des Lichts endlich ist (300.000 km/s), können wir Galaxien, die so weit weg sind, dass sie sich mit Überlichtgeschwindigkeit von uns entfernen, nicht sehen. Aus Prinzip nicht, egal, ob es sie gibt oder nicht.*

Wie groß das Universum tatsächlich ist, hängt davon ab, welcher kosmologischen Theorie man anhängt. Manche sagen, es sei kleiner als das beobachtbare Universum (wenn auch immer noch sehr groß), was bedeuten würde, dass wir viele Galaxien wie im Spiegelkabinett mehrfach sehen. Andere behaupten, es sei deutlich größer, zum Beispiel unendlich, oder aber endlich, aber unbegrenzt, wie die Oberfläche einer Kugel. Auch wenn man Dinge außerhalb des beobachtbaren Universums nicht sehen kann, sie hinterlassen dennoch ihre Spuren und verweigern sich daher nicht automatisch menschlicher Erkenntnis. Die Unendlichkeit könnte eine zusätzliche Eigenschaft eines Modells sein, das ansonsten korrekte Vorhersagen über die beobachtbaren Teile des Universums liefert – die Verteilung der Galaxien, die Expansion, die Hintergrundstrahlung. Aber unabhängig davon, ob sich irgendwann für Kosmologen der zwingende Schluss ergibt, dass das Weltall unendlich groß ist, bleibt die Frage, was das sein soll, diese Unendlichkeit.

Eine Frage, bei der man als Astronom in unsicheres Fahrwasser gerät. Was nichts damit zu tun hat, dass man sich unendlich nicht vorstellen kann, 90 Milliarden Lichtjahre sind genauso wenig vorstellbar. Unendlich ist nicht nur nicht vorstellbar, es ist nicht denkbar, in ähnlicher Weise wie sein unheimlicher Partner, das Nichts. Unendlich und Nichts sind nicht einfach Steigerungen von sehr viel oder sehr wenig, sondern anders. In Bezug auf das Unendliche ist alles überall und nirgends, Orte lösen sich auf, die Frage „wo” verliert ihren Sinn.

Unendlichkeit ist eine abstrakte mathematische Größe, ein metaphysisches Konzept oder eine Eigenschaft Gottes. Werden Mathematiker oder Theologen so oft nach der Unendlichkeit gefragt wie Astronomen? Warum eigentlich nicht? Der Astronom verliert bei dieser Frage den Kontakt zu seiner empirisch fassbaren Welt, in der er sich auskennt, und wird in eine fremde Welt geworfen, in der Planeten und Sterne nichts mehr zählen. Ein Graben scheint sich zu öffnen zwischen dem mathematisch modellierten Universum und dem anderen, das wir im Teleskop betrachten. Wie kann ein abstraktes Konzept eine Eigenschaft der materiellen, anfassbaren Welt sein? Wie kann unendlich so etwas sein wie grün, hell oder nass? Rhetorische Fragen – die Unendlichkeit ist keine mit den Sinnen fassbare Größe, kein Ziegelstein, keine Bananenschale, sondern etwas rein Geistiges.

Das unendliche Universum ist ganz eindeutig ein Problem der Neuzeit. Von den Spekulationen der griechischen Atomisten abgesehen, die über einen unendlichen Raum mit einer unendlichen Anzahl von Atomen fabulierten, endete das landläufige Weltbild bis zum Mittelalter mit einer Schale, in der sich die Fixsterne befinden – alle in derselben Entfernung. Die Welt war endlich, geschlossen, und sauber hierarchisch aufgebaut – von der unordentlichen Erde bis hin zu den perfekten Sternen. Aber dann geschah etwas Außergewöhnliches. Innerhalb von dreieinhalb Jahrhunderten – von der „De docta ignorantia” von Nikolaus von Kues im Jahr 1440 bis spätestens zu Newtons „Principia” im Jahr 1687 – brachen die Schalen auseinander, das Universum ergoss sich in die Tiefe und wurde immer größer, offener, gewaltiger.

Die Milchstrasse, größte Bananenschale im Universum. Im Vordergrund: fallender Ziegelstein

Ein unerhörter Vorgang, der nicht einfach war und in mehreren waghalsigen Erkenntnisschritten ablief. Kopernikus, 100 Jahre nach von Kues, verschiebt zwar die Erde aus dem Mittelpunkt des Universums, macht dann aber Schluss und behält die begrenzende Außenschale. Kurz darauf bläst Giordano Bruno voller Enthusiasmus und ohne Rücksicht auf Verluste das Universum auf, so dass es unendlich viele bewohnte Welten enthält, weil Brunos Gott es so will. Wiederum ein paar Jahre später zügelt Kepler die Pferde und verwirft das unendliche Universum, und zwar, indem er gegen Brunos mystische Ahnungen saubere empirische Befunde ins Feld führt. Er argumentiert nicht mit dem Weltgeist und seinen Absichten, sondern mit der Verteilung der Sterne, ihren scheinbaren Größen, ihrer Anzahl und hält sich strikt an die zu seiner Zeit vorliegenden Daten – erste Anzeichen moderner Naturwissenschaft. „Denn Astronomie lehrt nur dieses: was die sichtbaren Sterne angeht, ist der Raum endlich.” **

Galilei wiederum hielt sich aus der Diskussion vollkommen heraus, er hatte auch ohne Unendlichkeit genug Probleme. Trotzdem änderte sich mit seiner Einführung des Teleskops in die Astronomie die Sache, die Beobachtungen machen es immer schwieriger, an eine Schale zu glauben, an der die Sterne kleben. Im Folgenden ging es bis Anfang des 18. Jahrhunderts vor allem darum, wie man das unendliche Universum mit dem unendlichen Gott vereinen kann. Vor allem will niemand das metaphysische Kind mit dem astronomischen Bade ausschütten, man ringt um ein Weltbild, das alles kann, Beobachtungen erklären und gleichzeitig nicht gottlos sein. Alle vereint der Kampf gegen den Schrecken des Atheismus.

Descartes hält, genau wie von Kues, einen qualitativen Unterschied zwischen beidem aufrecht – die Unendlichkeit Gottes, die total, vollkommen und unteilbar ist, gegen die „bloße Endlosigkeit des Raumes”. Er greift damit ein altes Konzept auf, die Trennung zwischen aktualer, echter Unendlichkeit („infinitum”), und potentieller Unendlichkeit („indefinitum”), bei der man die Grenze zwar immer weiter hinausschieben kann, das aber immer noch durch etwas Größeres überbietbar ist und damit faktisch endlich bleibt. Die Gegenposition nimmt der englische Philosoph Henry More ein, der diese Feinheiten zukleistert und die unvorstellbare Tat vollbringt, dem Geist in der Welt eine räumliche Ausdehnung zuzuschreiben – Gott ist der unendliche Raum, „die unendliche ausgedehnte Größe, die alles umfasst und durchdringt”.

Man sollte meinen, dass More mit dieser offensichtlich abwegigen Idee zu Recht nicht dieselbe Berühmtheit wie Descartes erlangt hat. Aber weit gefehlt. Denn Mores Lösung ist nicht so weit entfernt vom Weltbild des Isaac Newton, der zeitgleich mit More in Cambridge ansässig war. More starb im Jahre des Erscheinens von Newtons „Principia” – das Buch, das die moderne Physik begründete. Newtons Weltraum ist absolut, unendlich und beherbergt alle Materie, die aber nur einen winzigen Teil des Raumes einnimmt. Newtons Welt wird „regiert von der Weisheit und bewegt durch die Kraft eines allmächtigen und allgegenwärtigen Gottes”.

Aber was für ein alberner Gott soll das sein, wenn er seine Zeit damit zubringt, die Planeten auf ihren Bahnen herumzuschieben? Wer Gott so direkt in seine Welt einbaut, muss sich nicht wundern, wenn dieser Gott hinterher mit den eigenen, naturwissenschaftlichen Waffen daraus vertrieben wird. Genau das geschah nach Newtons Tod: Immer deutlicher wurde, dass Himmelskörper niemanden brauchen, der sie bewegt, dass das Universum keine Uhr ist, die man aufziehen muss. Das geistig erfüllte Weltall von Newton verwandelt sich in eine kalte, leere Einöde. Das Universum behielt zwar die Option auf Grenzenlosigkeit, aber alle anderen göttlichen Attribute verschwanden. Newtons Welt hat sich selbst zerstört.

Es ist dieser Verlust, so könnte man behaupten, der die ständigen Fragen nach der Unendlichkeit auslöst. Eventuell sind es keine Fragen an den Astronomen, sondern Sinnfragen, die nach der kopernikanischen Wende aufkamen, Fragen danach, was es in der Welt noch gibt außer Vakuum und Atomen, Fragen nach dem, was dahinter steht. Wenn es so wäre, dann gäbe es nur drei mögliche Antworten. Man kann zum einen nietzschianisch erklären, die Welt sei eben ein bodenloses Nichts, in dem alles egal ist. Oder man kann Brunos altes, vitalistisches Universum hervorholen, das bevölkert ist von unendlich vielen Wesen, eine Vision, die hervorragend zur Astronomie des 20. Jahrhunderts passt, zu SETI, Exoplaneten und Gliese 581c. Mit einem Unterschied: Die moderne Version ist immer noch eine Maschine, die aufgrund ihrer schieren Größe Unwahrscheinliches ermöglicht: So viel Sterne, es muss noch mehr geben als uns.

Oder aber, und das ist in jedem Fall die beste Lösung, man kann sich zusammenreißen. Keep calm and carry on. Lass das Universum mathematisch unendlich sein, in Raum und von mir aus auch in der Zeit. Daraus folgt zunächst gar nichts über die Rolle des Menschen in der Welt und seine Ansichten über Leben, Entwicklungshilfe und Mülltrennung. Es ist weder Beweis noch Widerlegung von irgendwas. Wie groß das Universum ist, spielt letztlich keine Rolle.

Denn wenn es „da oben” wirklich etwas zu suchen gibt, dann braucht es keinen Raum, keine Zeit und kein Ende, hinter dem noch etwas kommt. Man kann es genauso gut in der schon erwähnten Bananenschale finden. Das wirklich Erstaunlichste über das Universum ist ohnehin nicht seine Größe, seine Farbe oder seine Pinselohren, sondern unser unendliches Vertrauen, es verstehen zu können. Davon abgesehen sind Sachen, die irgendwann ein Ende erreichen, auch nicht zu verachten.

Aleks Scholz

 

* Das Konzept des „beobachtbaren Universum” hat mehrere Tücken, verwirrende Details findet man im angenehm ausführlichen englischen Wikipediaeintrag.

** Dieses und folgende Zitate aus „From the closed world to the infinite Universe” von Alexander Koyre.

Foto: Andrew Curtis, Lizenz

Aleks Scholz, geboren 1975, ist Astronom und Schroedinger Fellow am „Institute for Advanced Studies“ in Dublin, Irland. Er befasst sich vorwiegend mit der Entstehung und der Entwicklung von Gelben, Roten und Braunen Zwergen. Foto: Ira Struebel. Aleks Scholz bei Google+.

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