Geschrieben am 1. August 2012 von für Kolumnen und Themen, Lichtjahre später, Litmag

Kolumne: Aleks Scholz: Lichtjahre später (7)

Der Weltraum, unendliche Weiten. Wie oft haben wir uns beim Nachdenken über Zeit und Raum, Entfernungen und Größen und Astrophysik schon das Gehirn verrenkt. Diese Zeiten sind nun vorbei. In der neuen Kolumne „Lichtjahre später” wird uns Autor und Astronom Aleks Scholz regelmäßig alles erklären, was wir wissen müssen: Bis zur Unendlichkeit und noch viel weiter! Heute:

Aleks Scholz. Foto: Ira Struebel

Mein Leben mit Roger Penrose

Alle unendlich viele Jahre entsteht ein neues Universum. Es fängt an mit einem Urknall, dem extrem dichten, heißen Anfangszustand. Nur ein paar Milliarden Jahre später ist das Weltall unvorstellbar groß und voll mit Galaxien, Sternen, Planeten, Felsbrocken. Massive Sterne kollabieren und bilden Schwarze Löcher, die wiederum miteinander verschmelzen und Materie aus ihrer Umgebung absaugen. Später ist die Rohmaterie aufgebraucht, die letzten Sterne vergehen, die Schwarzen Löcher wachsen, verdampfen und verschwinden schließlich mit einem leisen Poppgeräusch. Elektronen und Protonen zerfallen. Das Universum besteht nur noch aus Strahlung und erkaltet bis in die Ewigkeit. Dort angekommen jedoch gebiert es in einem waghalsigen mathematischen Manöver ein brandneues Universum.

Bis zum letzten Satz gibt es mit diesem Szenario wenig Probleme. Wir kommen aus einem heißen Big Bang und steuern auf ein kaltes, strahlungsdominiertes Universum zu. Dass beides identisch sein soll, nicht nur mathematisch, sondern in echt, ist die Idee von Sir Roger Penrose. Bisher gibt es nicht viele, die ihm bei diesem Schritt folgen, unter anderem, weil nicht viele ihn verstehen. Ob das an Penrose liegt, an der Theorie, oder an den restlichen Experten, ist noch nicht klar. Angenommen, Penrose hat recht, dann verwandelt sich das zeitlich asymmetrische Universum mit seinem Kontrastprogramm aus heißem Anfang und kaltem Ende in einen ewigen Strom mit sich wiederholenden Elementen, ein Video auf Dauerschleife. Penrose behauptet, man könne in die Vergangenheit vor dem Big Bang zurücksehen, man könne den Nachhall der Kollision von Schwarzen Löchern, die es vor dem Urknall gab, heute registrieren, als konzentrische Kreise in der kosmischen Hintergrundstrahlung, wie die Kreise auf der Wasseroberfläche, nachdem man einen Stein hineingeworfen hat. Aber auch diese Behauptung, gerade weil sie so spektakulär ist, löste bisher eher Zweifel als Begeisterung aus.

Penrose ist nicht mit normalen Maßstäben zu messen. Seine Vorträge bestehen aus Folien, die in zehn verschiedenen grellen Farben eng mit Notizen, Formeln und Bildchen bemalt sind – für den Nichtphysiker ununterscheidbar von den Zetteln, die Irre in der U-Bahn austeilen. Er hat nach mehr als 50 Jahren weniger Artikel in „peer-reviewed journals“ untergebracht als ein durchschnittlicher Wissenschaftler nach circa einem Jahrzehnt. Sein h-index, die bevorzugte Maßzahl für wissenschaftliche Produktivität, liegt bei 25 – Mittelmaß für Physikprofessoren. Er hält stur an exotischen Theorien außerhalb des Mainstreams fest, auch wenn viele Tatsachen dagegen sprechen. Viele Mainstream-Ideen – String-Theorie und kosmische Inflation zum Beispiel – lehnt er sowieso ab. Seine allerneueste Idee, die vom zyklisch wiederkehrenden Urknall, ist bisher überhaupt nur als populärwissenschaftliches (wenn auch für die meisten unverständliches) Buch veröffentlicht worden. Die Theorie heißt CCC – „cyclic conformal cosmology“ – auch so ein Ausdruck, über den man herzlich lachen würde, wenn er auf einem Zettel stünde, der nach dem Einkaufen unter der Windschutzscheibe klemmt.

Aber niemand lacht über Roger Penrose. Der Respekt der Kollegen für den mittlerweile 80-Jährigen ist erheblich, egal, ob sie seine Ideen mögen oder nicht. Penrose gehört zu der Sorte Mensch, die mehr sieht als alle anderen, ein Visionär, der ohne Rücksicht auf Verluste über die tiefen Zusammenhänge spekuliert. Materie stört? Dann zerfällt sie eben. Naturgesetze  werden umgeschrieben, vernichtet, erschaffen, geleitet von ästhetischen und philosophischen Erwägungen. Das platonische Ideal – die Vorstellung, dass wohlgeformte abstrakte Strukturen uns etwas sagen wollen – steht im Herzen der CCC-Blase. In einer Zeit, in der Naturwissenschaft meist als ultrakomplexes Handwerk betrieben wird und deutlich seltener als Naturphilosophie, wirkt Penrose wie ein Anachronismus.

Penrose: „Zweifellos gibt es in Wirklichkeit nicht drei Welten, sondern nur eine, und das wahre Wesen dieser Welt können wir gegenwärtig nicht einmal erahnen.“

Was Astronomie angeht, bin ich ein grober Handwerker mit einer Spitzhacke. Jedenfalls im Vergleich zu Roger Penrose, der oben auf dem Berg steht, mit einem Feldherrnstab in der Hand in Richtungen zeigt und den Eroberungskrieg lenkt. Mit einem Handstreich begradigt er Flüsse, räumt Berge weg und dämmt das Meer ein. Abends, nach einem harten Tag im Steinbruch, erzählen wir Arbeiter uns Geschichten über Penrose und lesen in seinen Büchern. Manchmal verstehen wir, was er redet, manchmal ahnen wir es wenigstens dunkel.

So schmerzlich es ist, das zuzugeben: Theoretische Kosmologie, die Lehre von Entstehung, Aufbau und Entwicklung des Universums, findet in meinem Kopf allenfalls als informiertes Raten statt, auch nicht viel besser als bei allen anderen. Tragisch ist dieser Umstand deshalb, weil ich prägende Jahre meines Lebens davon überzeugt war, das Universum als Ganzes zu verstehen, so wie Einstein oder eben Penrose. Mit circa 12 Jahren entwarf ich ein neuartiges Modell der Welt, in der das Universum eine von vielen Blasen in einem gigantischen Nebel darstellt – das Multiversum als eine Art Schaumbad. Weil der Nebel über die Schwerkraft alle Galaxien anzieht, fliehen sie vor uns – die Rotverschiebung der Galaxien einwandfrei erklärt. Die Blase entsteht in dieser Fantasiewelt, weil der Riesennebel rotiert, sich infolgedessen (irgendwie) elektrisch auflädt und ein gewaltiger Blitz für einen kosmischen Moment das Gas vertreibt. „Das Problem der fehlenden Masse“, elaborierte ich damals in einem linierten Ringbuch, „erübrigt sich also mit meiner Theorie.“

Ich kann nur vermuten, dass ich damals noch nichts von Dunkler Materie wusste und die Masse deshalb fehlte, weil ich nicht wollte, dass das Universum für alle Zeiten expandiert. Wieso meine Quatschtheorie dieses „Problem“ erledigt, bleibt unklar. Nach langem Studium meiner fragmentarischen Aufzeichnungen von etwa 1987 muss vermutet werden, dass ich zu viel Fantasie mit zu wenig Physik paarte und diese Mischung mit Mathematik der Sorte 1=1 anreicherte. Die typischen populären Kosmologiebücher, in denen das Universum wie eine bizarre Märchenwelt präsentiert wird, nährten meinen Größenwahn. Nie erfährt man, wie viele zusätzliche Ebenen Mathematik hinter dem schönen Text über Edwin Hubble, Fred Hoyle und dem Urknall stecken. Man kann gar nicht anders, als fröhlich mitzuspekulieren. Hintergrundstrahlung, sicher ein Messfehler. Urknall, hässliches und abschaffenswertes Konzept. Schwarze Löcher, überbewertet. Quanten-Multiversum, bitte, geht’s noch?

Etwa 12 Jahre später war meine Hybris geheilt. Vier Jahre Physikstudium und immer noch nur ein rudimentäres Grundverständnis von statistischer Thermodynamik und Allgemeiner Relativitätstheorie, den wichtigsten Fundamenten der Kosmologie, ganz zu schweigen von hyperkomplexen Zahlen, Faserbündeln, konformen Abbildungen, Calabi-Yau-Mannigfaltigkeiten und dem restlichen mathematischen Backkatalog. Man kann offenbar in Astronomie promovieren, ohne das Universum wirklich zu verstehen. Mehrfache Versuche, mit Penrose über seinen All-mod-cons-Klassiker „The road to reality“ indirekt zu kommunizieren, scheiterten nach wenigen Seiten, und als ich endlich bis zum Ende durchdrang, war Starrsinn der entscheidende Faktor. Es dürfte weniger als 1000 Menschen auf diesem Planeten geben, die deutlich mehr verstanden haben. Überhaupt erkläre ich das nur, um den tiefen Graben zwischen Mensch und Universum zu veranschaulichen. Kosmologie ist selbst für Physiker kein Kindergeburtstag.

Aber das kann nicht alles sein. Es ist schwer vorstellbar, dass einem als halbwegs intelligentem Bewohner dieses hochabstrakten Universums nichts anders übrigbleibt, als Roger Penrose zuzuhören und innerlich Entsetzensschreie auszustoßen. Beziehungsweise ist es leicht vorstellbar, ich war dabei, aber doch unbefriedigend. Es muss außer Unverständnis noch eine andere Möglichkeit geben, mit dem Weltall umzugehen – im Idealfall ohne die Zuhilfenahme von halluzinogenen Drogen und Räucherstäbchen. Es muss möglich sein, mit dem physikalischen Universum auf zivilisierte Art Kontakt aufzunehmen.

Roger Penrose ist dafür kein schlechter Anfang. Zwar klingt er manchmal so wie die Irren in der U-Bahn, aber gerade deshalb ist er mindestens genauso unterhaltsam. Nicht so unterhaltsam wie eine Simpsons-Folge, aber auf Augenhöhe mit den Sopranos, dem letzten Cronenberg-Film oder den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt. Vielleicht wäre es noch besser, würde man Penrose und alle anderen Nerds nur in Kombination mit halbwegs normalen Menschen herumzeigen, so wie Sheldon Cooper in „The Big Bang Theory“ nur im Kontakt mit Penny erträglich wird. Aber Unterhaltung ist nur der halbe Weg. Das Ziel muss sein, abstrakte Physik so zu präsentieren, dass der Zuschauer zum einen nicht einschläft, zum anderen aber ein Verständnis erlangt, ohne zu verstehen. Verstehen auf einer anderen Ebene, so wie man eine Beethoven-Sinfonie versteht, ohne etwas über klassische Musik zu wissen. So wie man „The Wire“ versteht, ohne etwas über Kameraführung zu wissen. So wie man einen Baum versteht, ohne etwas über Zellbiologie zu wissen.

Alle fünf Jahre entsteht ein neues Universum. In zyklischen Abständen tritt Roger Penrose in mein Leben, macht ein neues Universum auf und versucht mir etwas mitzuteilen. Ich kann mich an alle Universen haarklein erinnern. Die Jugendherberge im Hunsrück 1993 und eine Debatte über Schwarze Löcher in „Spektrum der Wissenschaft”. Sommer 2007, „Schatten des Geistes” und die unselige Biologieaffäre. Meine erste Tagung und die Karl-Schwarzschild-Vorlesung im Jahr 2001. Das Experiment „Road to Reality” 2007. Schließlich die Ehrendoktorwürde für Penrose in Dublin im Jahr 2012, in dem selben Raum, in dem Schrödinger vor 60 Jahren Vorlesungen abhielt, vermutlich mit einer bizarren Mischung aus österreichischem und irischem Akzent. Alles passt zusammen. Das Universum wiederholt sich in regelmäßigen Abständen. Die Iterationen hören nicht auf. Bisher habe ich nicht den Eindruck, Penrose verstanden zu haben. Aber zumindest weiß ich jetzt, dass er wiederkommen wird.

Aleks Scholz

Hier beginnt die Bloglesung von „The road to reality” in der Lesemaschine, Bildquelle: Roger Penrose. Aleks Scholz, geboren 1975, ist Astronom und Schroedinger Fellow am „Institute for Advanced Studies“ in Dublin, Irland. Er befasst sich vorwiegend mit der Entstehung und der Entwicklung von Gelben, Roten und Braunen Zwergen. Foto: Ira Struebel. Aleks Scholz bei Google+.

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