Geschrieben am 6. August 2014 von für journaille. der zeitschriftencheck, Litmag

Kultur & Gespenster 14: RADIO

15f6e371c6Wer sendet? Wer empfängt?

Seit 2006 erscheint die Kulturzeitschrift „Kultur und Gespenster“ unregelmäßig, telefonbuchdick, ein Forum für den Ab- und Nachdruck von Essays und Vorträgen, Bild-Kunst-Strecken und Schwerpunktthemen. Die neuste Ausgabe befasst sich in einem Dossier mit „Radio“ und wandert damit von Italien bis ins Totenreich. Wer leichte Lektüre sucht, ist bei „Kultur & Gespenster“ nicht richtig; für die Hamburger Publikation ist Ernsthaftigkeit die message. Unterhaltsamkeit schließt das nicht aus, im Gegenteil. Von Brigitte Helbling

Als Herausgeber von „Kultur & Gespenster“ zeichnet eine kleine Gruppe von Philosophen und Literaturwissenschaftlern. Einer ihrer Köpfe ist Jan-Frederik Bandel, der über den Hamburger Dichter Hubert Fichte, promovierte. Seither ist Fichte nie weit, wenn Bandel schreibt, so auch in seinem aktuellen Beitrag zu „Kultur & Gespenster“, der Abdruck eines Vortrags, den er vor nicht allzu langer Zeit bei einer Tagung an der Universität Siegen zur „Aktualität der Bohème nach 1968“ hielt. Auf angenehmste Weise mäandert dieses „Plädoyer für die teleplasmatische Erbse“ von Podiumsdiskussionen in der Hamburger Bar Golem zur französischen Kampfschrift „Der kommende Aufstand“ zum Manifest der Hamburger Kreativen, „Not in our Name: Marke Hamburg“, ursprünglich vorgetragen im medial überaus wirksam geretteten Gängeviertel (das heutige „Gängeviertel“, erläutert Bandel in einem weiteren vergnügten Umweg, war nie Teil des ursprünglichen, längst abgerissenen Hamburger Arbeiterviertel diesen Namens), um schließlich wieder im Golem zu landen, wo auch die Ausgabe 14 von „Kultur & Gespenster“ präsentiert wurde. Im letzten November! Es hat gedauert, bis wir sie ausgelesen hatten.

Das Gängeviertel von -lucky cat-

Das Gängeviertel von -lucky cat-

Für den Leser geht der Trend bei „Kultur & Gespenster“ immer auch zur Re-Lektüre (oder auch zur Re-re-re-relecture für den, der Robert Pfallers argumentativen Budenzauber „Das Unendliche und das Gute“, arrangiert zur Musik von Lacans „Herrensignifikanten“, ganz durchdringen will). Textwüsten werden in Ausgabe 14 aufgelockert durch wissenschaftliche Zeichnungen von Hirn-Aufschnitten, im Eingang prangt eine Kunststrecke von Peter Lymen und Claus Böhmler, Radioturm-Stickereien ergänzen als Bildstrecke das Dossier-Thema, Elke Stefanie Inders berichtet von einem Hipster-Trend in der schottischen Kunstproduktion. Alles in schwarz-weiß! Jedenfalls meist. Mit dem Abdruck von Fotografien und Santería- Ritualen ehrt die Ausgabe die im September 2013 verstorbene Fotografin Leonore Mau (nebenbei eine Fichte-Freundin). Keine Abbildung bebildert Frieder Butzmanns „Die Hamburg Connection“, der Nachdruck eines Textes aus 1997, das Musikerleben-Porträt zwischen Hamburg und Berlin Anfang der 1980er ist bunt genug. Überraschend fesselnd liest sich auch das Protokoll einer Gesprächsrunde sämtlicher Kuratoren des Frankfurter Kunstvereins der letzten 50 Jahre, die sich der Frage annimmt, ob das Kuratieren von Kunst angeboren ist, gelehrt werden kann, und überhaupt Not tut. Kunstkuratoren, denkt man nach der Lektüre, sind glückliche Menschen.

war of the worlds
Die für das Dossier RADIO zuständigen Herausgeber, Ole Frahm, Torsten Michaelsen, Andreas Stuhlmann, beschreiben ihren Auftrag folgendermaßen: Die „Beiträge widmen sich der emanzipativen Wirkung des Radios, welche nur durch die Vergegenwärtigung der gespenstischen, unheimlichen und paranoiden Momente des Mediums und der mit ihm verbundenen Projektionen und Ereignissen zum Tragen kommt.“ Die Beiträge umrahmten im Jahr 2009 und 2010 die „Debatten in Seminaren und Vorträgen im Rahmen des „Freien Sender Kollegs“, Lehrveranstaltungen also des Hamburger Freien Sender Kombinats FSK, oder gingen daraus hervor. Großes und schönes Gewicht nehmen erstmals ins Deutsche übertragene Auszüge aus Jeffrey Sconce’ „Haunted Media. Telepresence from Telegraphy to Television“ ein, die vom Radio als Geisterbeschwörungsmaschine und vom Radio als Panik-generierendes Instrument erzählen, dabei auch das legendäre Radio-Hörspiel von Orson Welles, „War of the Worlds“ (1938) streifen und dabei feststellen, dass die tatsächliche Panik unter den Zuhörern nicht so gewaltig war, wie später gerne behauptet wurde. Radiohistorisch dagegen darf die Sendung durchaus als eine Art von Absage an die „Unschuld“ des Mediums gesehen werden, das, wie zahlreiche Zeitzeugenberichte in Sconce’ Buch belegen, in den ersten Jahrzehnten den Bastlern, Fantasten und Couch-Abenteurern ein reiches Spielfeld bot… Sconce, so RADIO-Herausgeber Andreas Stuhlmann in seiner Einleitung, sei „einer der wenigen Medienwissenschaftler, die in der Nachfolge Marshall McLuhans Interessantes zuwege bringen.“

Leonore Mau im Gespräch mit Nathalie David

Leonore Mau im Gespräch mit Nathalie David

Von Jeffrey Sconce dann weiter zum italienischen Sender „Alice“, dessen Geschichte in einem zweiten sehr lesenswerten Bericht (Auszüge aus Klemens Grubers „Die zerstreute Avantgarde“) in dieser RADIO Sammlung dargestellt wird. Sconce selbst zitiert an einer Stelle Baudrillard (über Marcel Mauss’ Arbeit über den Tausch): „Die Macht gehört demjenigen, der zu geben vermag und dem nicht zurückgegeben werden kann… In der Sphäre der Medien verhält es sich ebenso: hier wird zwar gesprochen, aber so, dass nirgends darauf geantwortet werden kann.“ Diese Behauptung zu unterlaufen, und zunächst auch nichts anderes, scheint das Spiel und Experiment des Radiosenders in Bologna gewesen zu sein, das in einem Flugblatt sein Anliegen folgendermaßen formulierte: „Senden ist ein Vergnügen. Informieren genügt nicht. Wer sendet? Wer empfängt?“. Und so wurden die Hörer aufgerufen, im Sender ihre Ansichten und Meinungen kundzutun, entweder über Telefon oder gleich vor Ort, in der kleinen Mansardenwohnung, in der die gesamte Sendeanstalt untergebracht war. Umgekehrt gingen Aktivisten des Senders hinaus auf die Straße, auf die Plätze und in die Cafés, ausgerüstet mit kleinen Transistorradios, die sie laufen und so zum Zentrum spontan gebildeter Hörgemeinden werden ließen, deren Vertreter dann wiederum selbst zum Münzautomaten rannten, um sich in das Sendegeschehen einzuschalten… der nächste Schritt, oder der übernächste forderte dann natürlich die Falschmeldung, „um wahre Ereignisse zu schaffen“, womit sich auch ein Kreis zum „Krieg der Welten“ schließen mochte.

Bild von Jeffrey Sconce

Bild von Jeffrey Sconce

In einem dritten größeren Beitrag befasst sich Ole Frahm mit Daniel Paul Schrebers „Aufzeichnungen eines Nervenkranken“ (heute noch bekannt Dank Sigmund Freuds „Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia“). Ausgehend vom Unschärfeverhältnis von „Wahn und Wahrheit des Radio“, die eine theoretische Durchdringung des Gegenstands verhindere („denn das Medium verwirklicht ganz materiell Projektionen, wie sie aus der Schizophrenie bekannt sind“), definiert Frahm Schrebers Paranoia als „diskursive Blaupause für die Theorie des Radios“. Die Vorahnung einer Radio-Theorie geistert bereits in Schrebers Schrift (die einiges vor dem Einzug von Radio in die Gesellschaftsmitte entstand), und ebenso geistern durch die Schriften Ziate moderner Theoretiker von Marshall McLuhan bis Oliver Jungen (und Friedrich Kittler), mit Inhalten, die wiederum Frahms Annahme zu untermauern scheinen, so dass sich der der Leser irgendwann in einem Echoraum des Theoriediskurses wähnt, in dem ein Denkmodell beständig das andere vorwegnimmt oder im Nachhinein bestätigt. Nur eins lässt dieses Netz von Bezügen, das sich um Schrebers Autobiographie ausdehnt, nicht zu: Das Radio auch einfach einmal auszuschalten. (Sendet der Baum im Wald auch dann, wenn ich nicht da bin, ihn zu hören?) Natürlich: Die Krankheit besteht ja gerade auch darin, dass der Aus-Knopf aus dem Handlungsraum des Leidenden verschwunden ist.

easterisland1_webDen Abschluss des Dossiers gibt mit einer schönen Umkehrbewegung dann der Stücktext von Milo Raus „Hate Radio“, eine Inszenierung, die in einer geschickten Montage aus Radiosendungen, Zeugnissen von Überlebenden und Ausschnitten aus Verhören vor dem Internationalen Strafgerichtshofs in Arusha die Rolle eines Radiosenders im Aufruf zum Genozid während des Bürgerkriegs in Ruanda nachzeichnet – in einem Land also, in dem Radiosender, wie es eine Journalistin formuliert, die „Stimme der Autorität“ sind. Das Kurzwellenradio war live auf Sendung, Falschberichte, für viele oder vielleicht sogar die meisten also solche erkennbar, waren an der Tagesordnung. Die wahren „Ereignisse“, die sie schufen, waren Mord, Totschlag, Hass. Hinhören hieß, seine Seele vergiften – nicht hinhören hieß, sich und die Seinen in Gefahr bringen: denn was, wenn der nächste Zuhörer, der sich meldete, zum Sturm auf den eigenen Haushalt aufrief?

Der letzte Beitrag, eine „Flaschenpost vom Mond“, führt (oder entführt) noch einmal in eine ganz andere Richtung. Burk Koller fährt auf die Osterinseln, wo der Himmel das Land mit Regenbögen überschüttet und eine totale Sonnenfinsternis bevorsteht, erzählt Geschichte und Geschichten von seiner Reise, schmückt mit schönem, altem Bildmaterial, und liefert insgesamt den Beleg dafür, dass das, was für die Kleinen Märchen sind, für die Größeren Fahrberichte und Weltraumhelden bleiben, und der sehnsuchtsvolle Blick in den Himmel, zum Mond und darüber hinaus.

Brigitte Helbling

Kultur & Gespenster 14. RADIO. Hrsg. von Gustav Mechlenburg, Jan-Frederik Bandel, Nora Sdun, Christoph Steinegger. Textem Verlag. Hamburg 2013. 354 Seiten. 16 Euro.
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