2016 ist das 500. Todesjahr von Jheronimus van Aken alias Hieronymus Bosch. Die Niederlande ehren den Maler mit einer großen Ausstellung und anderen, vielfältigen Aktivitäten. Boschs Werk war und ist Gegenstand der unterschiedlichsten Auslegungen und Interpretationen, die versuchen, seine phantastischen, bizarren und oft schlicht rätselhaften Gestalten, Pflanzen, seine Mischwesen und seine offensichtlich mehrfach codierten Bilderwelten sinnhaft zu entschlüsseln. Surreale, absurde, grausame und komische Bildwelten, die sich tief ins kollektive Gedächtnis gegraben haben, egal, ob man seinen Intentionen gerecht wird oder nicht. Denn Selbsterklärungen oder Aussagen zu seinen Werken gibt es nicht. Nur deren Faszinosum und deren Wirkmächtigkeit. Deswegen haben wir Ulrich Fritsche gebeten, jeden Monat in diesem Jahr ein Bild oder einem Bildausschnitt zu beschreiben und zu erläutern. Zu Folge 1, zu Folge 2.
Verborgener Sinn im Werk des Jheronimus Bosch (Folge 3)
Diesmal: „Garten der Lüste“, linke Tafel, Szenen aus dem Vordergrund
Von Ulrich Fritsche
Im Vordergrund der linken Tafel kommen Fisch-Wesen hinzu und Menschen.
Links ein Drachenbaum, wie er auf den Kanarischen Inseln gedeiht. Von Drachen wurde behauptet: Schlägt man einen Kopf ab, wachsen mehrere. Analog verhält sich diese Pflanze nach Abtrennen der keulenartigen Triebe. Der zu rotem Harz gerinnende Saft wurde „Drachenblut“ genannt. Bosch hat diesen Baum hier dargestellt, weil die Verzweigung der Triebe Trennung veranschaulicht. Auch die Blattschöpfe und Blütenstände illustrieren Auseinanderstreben. Darüber befindet sich der Wipfel eines großen Apfelbaumes mit roten Früchten. Eigentlich positiv zu werten, doch die nach rechts folgenden Apfelbäume erreichen geringere Größe, wobei fruchtbare mit unfruchtbaren wechseln.
Links vom Drachenbaum sieht man zu Boden gefallene Äpfel, einer mit Blatt. Das ist ein subtiler Hinweis auf den Sündenfall: Wachstum und Fruchtbarkeit sind betroffen! Drei Vögel dort zeigen negative Veränderung bis zur Blindheit, was geistigen Niedergang bedeutet. Kann doch der Sündenfall verstanden werden als Beschränkung auf körperliche Fruchtbarkeit. Den Drachenbaum umschlingt eine Pflanze, die im Gegensatz zu der Schlange an der Dattelpalme aufwärts strebt. Sie hat Trauben, aber die unten daraus hervorgehenden Samen ähneln denen des Drachenbaums. Man denkt an einen Weinstock, doch hat Bosch dieser Pflanze der Symbolik wegen kreisrunde Blätter verliehen: Geistiges Wachstum soll Trennung überwinden hinsichtlich oben/unten und links/rechts. Das bezieht sich auf Christus: Sein von ebenso runder Brosche zusammengehaltenes Gewand ist hellrot wie der Lebensbaumbrunnen.
Immer wieder wird behauptet, hier sei dargestellt, wie Gott im „Garten Eden“ Eva erschafft. Doch das ist offenkundig falsch. Hier wird eindeutig nicht die erste Frau vom ersten Mann getrennt, sondern Mann und Frau werden zusammengebracht! Und zwar nicht von Gott-Vater, sondern von Gott-Sohn, wie Vergleich mit der Außenseite lehrt. (Vgl. auch die linke Tafel von Boschs Heuwagen-Triptychon, wo wirklich die Erschaffung Evas gemalt ist.) Beide erheben die Schwurhand, doch ist der Schöpfer ein Greis, sein Sohn ein rosiger Jüngling. Was im sog. „Garten der Lüste“ geschieht, ist sehr subtil: Der Heiland fungiert als Ehestifter, indem seine Füße die des Mannes berühren und er die Frau an einem Handgelenk fasst. Hand gehört zu handeln, Fuß zu wandeln, anders ausgedrückt: Taten bewirken Veränderung, was auf der Mitteltafel in mannigfacher Weise gezeigt ist. Handeln hat Folgen, die wieder Handlungen hervorrufen: das von den Indern „Karma“ genannte Prinzip. Mann und Frau sind komplementär, ergänzen einander. Seine Statur ist oben, ihre unten stärker ausgeprägt. Er strebt aus niedrigerer Position aufwärts, sie aus höherer Position abwärts. Hier wird deutlich, wie Verknüpfung funktioniert: Mann und Frau sind einander als schöne Menschen ähnlich, aber doch verschieden. Indem sie zusammenkommen, wird ihm Bewegung und ihr Aktivität zuteil.
Hier sei wieder Ficino zitiert: „Liebe wird durch Ähnlichkeit hervorgebracht. Deshalb muss Liebe immer wechselseitig sein: Die ähnlichen Teile ziehen sich an… Liebe haben alle Dinge, sie ist das Prinzip des umfassenden, dynamischen Weltzusammenhangs. Allen Dingen ist die Liebe zu allen eingeboren… Liebe ist die Kraft, die das Höhere zur Fürsorge für das Niedere bewegt, das Gleichartige zur geselligen Gemeinschaft verbindet und das Niedere dazu bewegt, sich zu bessern und Erhabenerem hinzuwenden… Christus ist Mittler nicht nur zwischen Gott und Mensch, sondern zwischen Schöpfer und Schöpfung! Christus ist Mensch geworden, weil Menschen eine mittlere Natur in der Stufenfolge haben…“
Vermutlich hat Bosch hier auch auf Platons Dialog „Das Gastmahl“ angespielt, worin verschiedene Seiten der Liebe erörtert werden. Dem Komödiendichter Aristophanes wird darin ein Mythos angedichtet, welcher das geschlechtliche Begehren erklären soll. Im Kern dieser Erzählung heißt es, die Menschen wären ursprünglich aus Mann und Frau zusammengesetzt gewesen, hätten doppelte Gestalt gehabt. Sie waren gewaltig stark, weshalb die Götter einen Angriff fürchteten. Deshalb habe Zeus diese Doppelwesen getrennt, und deshalb streben die getrennten Geschlechter nach Vereinigung.
Der dreiköpfige Vogel vor Christus ist „geistiges Gegenstück“ zu dem dreiköpfigen Kriechtier am Teufelsberg. Er ähnelt zugleich einer Schlange, das Schwanzende veranschaulicht „Ausbreitung von Samen“. Man denkt an den Phönix, welcher sich der Sage nach im Feuer erneuert. Dieser Vogel hier krümmt sich freilich am Boden zum Wasser hin, die göttliche Trinität verhöhnend.
Eine gefleckte Raubkatze entfernt sich mit schwarzer Ratte im Maul. Die Nebelkrähe signalisiert mit schwarzem Kopf und Schwanz Entfremdung von Geist und Körper. Kaninchen wollen sich verbergen, auch ein schwarzer Vogel macht sich davon. Eine Schnepfe drückt sich furchtsam an den Boden. Mit dem dreiköpfigen Vogel streitet einer mit auffälligem Farbkontrast: oben weitgehend schwarz, Bauch gelb, Füße und Schwanz rot. Der Nachbar hat einen abgewinkelten schwarzen Schwanz, die weißen Punkte an den vom Kopf abstehenden Grannen verhalten sich zu der auf Frösche gerichteten pfeilartigen Zunge wie „Samen“ zu „Tod“. Die Missgestalt daneben mit grässlich breitem Schnabel schluckt einen Frosch, verändert sich augenscheinlich nach dem Prinzip: „Man ist, was man isst!“ Wer Niedriges aufnimmt, verwandelt sich negativ. All das sind schlimme Verhaltensmöglichkeiten, die auf Menschen verweisen.
Während das zentrale Gewässer links oben gleichsam einen kleinen Teich hervorbringt, ist der dunkle Teich ganz unten rechts wie abgeschnitten. Er sei Todespfuhl genannt, denn hier sind Veränderungen nach dem Tode dargestellt.
Links davon streiten sich Henne und Hahn um einen Frosch. Das könnte auch ein anderer Lurch sein, auf solche Unterscheidung kam es Bosch nicht an. Reptilien und Amphibien bedeuten bei ihm „Körper“ in niedrigster Gestalt. Man kann die Augen von Kröten schön finden, aber mit diesen Tieren werden doch negative Begriffe verbunden: hässlich, aufgeblasen, unrein, ekelhaft, giftig. Eine erwachsene Erdkröte z. B. ist für Huhn und Mensch giftig, besonders die Haut. Nicht selten hat dieser Maler unangenehme Berührung mit einem solchen Tier dargestellt. Die Symbolik variiert ein wenig je nach Zusammenhang. Vulva und Gebärmutter wurden seinerzeit mit einer Kröte verglichen, was Bezug zur „Wollust“ herstellt. Bosch hat Sexualität allerdings durchaus nicht generell als negativ betrachtet.
Indem Henne und Hahn nach dieser dunklen Nahrung picken, haben beide den Kopf unter das Hinterteil erniedrigt. Sie ist dunkel, er bunt mit Schmuckfedern; sein Schwanz erinnert an jenen des dreiköpfigen Vogels. Hühnervolk kann kaum noch fliegen ‒ diese Vertreter der Vogelklasse veranschaulichen fortgeschrittene Erniedrigung des geistigen Prinzips. Weiter rechts eine noch halbwegs hübsche Henne mit eitel hochgestellter Feder. Dann sieht man einen Hahn kopfunter in das finstere Gewässer fallen. Er verändert sich: Ganz rechts hat er einen Fischrumpf bekommen, was dem Übergang von „Geist“ zu „Seele“ entspricht.
Möglich ist auch, diesen Pfuhl zu verlassen: Nach links kriecht eine seehundähnliche Gestalt an Land: Das veranschaulicht Übergang von „Seele“ zu „Körper“. Die kleinen dunklen Flecken bedeuten wie bei der Raubkatze „böse Samen“. Mit dem dreiköpfigen Vogel und gegeneinander streiten zwei Wesen mit Fischrumpf. Das eine hat den Kopf eines Einhorns, das andere den eines Löffelschnabelvogels: Kampf zwischen „Körper-Seele“ und „Geist-Seele“. Die Seele als vermittelndes Prinzip vermag also nicht nur Geist und Körper zu verbinden, sondern auch zu trennen. Ein heller Fisch strebt nach oben, aus dem Wasser heraus, seine Flossen wandeln sich zu Flügeln. Er wird zum Vogel, was Übergang von „Seele“ zu „Geist“ bedeutet. Eine schöne, tief berührende Gestalt ‒ bei allem Negativen hat Bosch doch immer auch Positives dargestellt!
Das Mischwesen mit Fisch-Unterleib und senkrechtem schwarzen Oberleib erinnert mit breitem Schnabel an die Missgestalt darüber, hat allerdings menschliche Arme. Das hier ergriffene Buch ist ein Gegenstück zu Gottvaters Exemplar (s. Außenseite). Das durch Fisch symbolisierte seelische Prinzip ermöglicht Umkehr sogar noch nach schlimmer Entfremdung von Gott. Der Inhalt des „Buches“, worin menschliche Taten verzeichnet sind, kann gelöscht werden. Sünder dürfen auf Neubeginn hoffen, wenn sie sich dem Erlöser zuwenden. Erkennungszeichen der Urchristen war bekanntlich: ein Fisch!
Der Vordergrund der linken Tafel lehrt also: Zum menschlichen Wesen gehören nicht nur Geist und Körper ‒ von Bosch als Vogel und Landtier veranschaulicht ‒ sondern auch ein zwischen beiden vermittelnder Faktor, den man „Seele“ nennen kann, dargestellt durch Fisch-Wesen. Die Bedeutung der Luft, Wasser, Erde zugeordneten Tierklassen wird hier besonders plausibel: der entscheidende Symbol-Schlüssel zu diesem Gemälde. Bestätigt, weil sinnstiftend: Sogar verblüffend seltsame Motive bekommen zusammenhängenden Sinn.
Erstaunliche Veränderungen waren bei Pflanzen und Tieren zu beobachten, hinsichtlich Farbe und Gestalt. Das geht so weit, dass sich Übergänge zwischen Vogel, Fisch und Landtier (Säugetier) ereignen. Bosch hat das auf Geist, Seele, Körper von Menschen bezogen. Ohne übertragenen Sinn wäre sein Werk weitgehend unsinnig.
Aus heutiger Sicht stellt sich hier die Frage: Kann Verhalten Erbveränderungen bewirken? Lamarck hat das angenommen. In diesem Zusammenhang wird gern die Giraffe genannt: Weil sie sich nach Blättern in Baumwipfeln reckte, sei ihr Hals so lang geworden. Neodarwinisten lehnten diese Möglichkeit vehement ab und setzten sich mit der Entdeckung der genetischen Grundlage der Vermehrung durch. Neue Erkenntnisse der Epigenetik zeigen aber doch, dass Verhalten Folgen für künftiges Leben haben kann. Sogar die seelische Verfassung beim Geschlechtsakt, beispielsweise. Lamarck hatte nicht völlig Unrecht.
Zu Boschs Symbolsystem
Boschs Weltanschauung ist auf der Zahl 3 aufgebaut. Die wichtigsten Symbole sind dreifach geordnet. Geist, Seele, Körper sind Oberbegriffe, welche gewissermaßen die anderen Begriffe enthalten. Weil es für „Geist“ und vor allem „Seele“ verschiedene Definitionen gibt, ist unbedingt zu beachten, dass die Bedeutung in Boschs Werken dem folgenden Analogiesystem entspricht:
Tab. 2: Triadische Begriffe
Lebensfaktor | Geist | Seele | Körper |
Element | Luft | Wasser | Erde |
Tiergruppe | Vogel | Fisch | Landtier |
Teil | Kopf | Herz | Geschlechtsteil |
Tätigkeit | Denken | Fühlen | triebhaftes Wollen |
Gesellschaft | geistlich | christlich | weltlich |
geometrische Figur | Kreis | Halbrund | Rechteck |
Richtung | senkrecht | schräg | waagerecht |
Farbe | Rot | Weiß | Schwarz |
Dazu einige Erläuterungen:
Feuer als viertes Element vernichtet Abgestorbenes und macht so Platz für neues Leben.
Die Bedeutung der Tiergruppen entspricht dem jeweils typischen Element.
Kopf, Herz und Geschlechtsteil sind gewissermaßen Zentren für Denken, Fühlen und triebhaftes Wollen.
Oft gibt es mehrere Bedeutungsebenen, wobei primäre und sekundäre Bedeutung zu unterscheiden sind. Z. B. bedeutet „Schwein“ als Landtier primär Körper, wozu die sekundäre Bedeutung „fruchtbar“ kommt.
Die Symbole sind nicht selten geschachtelt, was dem modernen Begriff „Fraktal“ entspricht. Ein Beispiel: „Vogel“ bedeutet „Geist“; sind Schnabel oder Schwanz auffallend ausgeprägt, charakterisiert das wiederum den geistigen bzw. körperlichen Faktor.
All das erlaubte dem Maler, eine Fülle von Veränderungen darzustellen.
Warum sind alle Menschen nackt?
In der nächsten Folge werden wir zur Mitteltafel kommen, welche diese Frage provoziert. Als man noch kaum in der Lage war, Einzelheiten zu erklären, wollte man doch einschätzen, worum es eigentlich geht. Die rechte Tafel scheint eine Art Hölle zu sein, und so lag nahe, das nackte, oft sinnlos anmutende Gewimmel der Mitteltafel auf die Todsünde Wollust zurückzuführen. Andere Betrachter wiesen darauf hin, dass viele Menschen durchaus nicht böse, sondern unschuldig wirken; sie meinten, es müsse sich eher um ein irdisches Paradies handeln. Ein drittes Lager hält die meisten Szenen einfach für grotesk, ohne hintergründigen Sinn. Die hier auf CulturMag erläuterte Symbolik zeigt hingegen, dass der Maler seine Gemälde sehr genau durchdacht hat. Alles bezieht sich auf Menschen: Pflanzen charakterisieren die Entwicklung; Tiere verweisen auf Geist, Seele und Körper; die Menschen selbst veranschaulichen mit Armen und Beinen Kausalvorgänge. In diesem Zusammenhang würde Kleidung die Darstellung stören: Nacktheit ist Ausdruck des Wesentlichen.
Ulrich Fritsche
Ulrich Fritsche ist Autor von bislang drei schön aufgemachten Büchern über Hieronymus Bosch und kommentiert auf Facebook regelmäßig Bosch-Bilder.
Im Taschen Verlag ist die ultimative Werkausgabe von Bosch erschienen, auf die wir hier hingewiesen haben.
Bild 1: „Der Garten der Lüste”, Linke Tafel, Ausschnitt
Bild 2: „Der Garten der Lüste”, Linke Tafel, Bildnachweis: © Wikimedia Commons (public domain)