Eine Kolumne von Thomas Wörtche
– In „Far Side of the World“, dem zehnten Teil von Patrick O`Brians grandioser Seefahrer-Saga, segelt die Fregatte „Surprise“ endlos durch den Pazifik, immer am Äquator entlang, von der Westküste Südamerikas zu den Marquesas. Es blasen milde Winde, die See ist spiegelglatt, die Mannschaft hat nicht allzu viel zu tun. Mr. Mowett, der tüchtige Erste Offizier des Schiffes, nutzt die Zeit, um Homers Ilias zu lesen; jeden Tag ein Gesang. Ich kann deswegen auf Mr. Mowett neidisch sein, weil ich zu Patrick O`Brian nur nachts komme und mir die Zeit dafür regelrecht stehlen muss. Anders als Mr. Mowett bin ich in der Buchbranche – und komme nicht zu Homer. Auch nicht, wie ich abermals neidgrün neulich feststellen musste, wie die Kollegen Jens Jessen und Wolfgang Will in Zeit resp. FAZ, zu Thukydides, den man in der Tat dringend mal wieder lesen müsste. Überhaupt wiederlesen. So allmählich manifestiert sich das zunehmende Alter an den Büchern, die man vermutlich nie wieder lesen kann. Den ganzen Zola? Balzac? Cervantes? Döblin? Wann denn ….
Gesetzt der bücherwurmige Mensch liest, arg und utopisch optimistisch gerechnet, in seinem einigermaßen intelligiblen Leben von 10 bis 80 Jahren jeden Tag ein Buch, dann kommt er auf erschreckend magere 25.500. Eine einzige Buchmesse aber haut schon 90.000 Titel auf den Markt, jährlich. Man wird also schon alleine deswegen ziemlich ignorant und ahnungslos in die Grube fahren; ein Gedanke, der mich ziemlich melancholisch stimmt.
Weil man aber mit Verstand sowieso nur lesen kann, wenn man noch was anderes zu tun hat auf der Welt (denn sonst versteht man nicht, was einem die Bücher da erzählen), reduziert sich natürlich die Zahl der gelesenen Büchern nochmals erheblich. So um die 10.000. Macht dann erbärmliche 15.000 gelesene. Und dann kommt der Job-Malus – denn um einigermaßen mitzukommen im Reich des Guten & Schönen & Baren soll und muss man auch Musik wahrnehmen und Comics und Filme und Fernsehen und Radio und Malerei und Theater und Tanz und das Internet und und und.. Aber verstehen Sie mich bitte nicht falsch – das hier ist kein Klagelied eines arg privilegierten Intellektuellen, der für sein Hobby auch noch bezahlt wird. Sondern eine Warnung! Denn was glauben Sie eingedenk dieser Faktenlage, was Sie von Aussagen von 30jährigen Feuilletonisten halten dürfen, die heute über Eminem, morgen über Pina Bausch und übermorgen über Martin Walser schreiben? Wie fundiert sind dann Aussagen wie: Im Kriminalroman geht es immer um…..? Oder: Schon bei Goethe wurde …. In der modernen australischen Literatur herrscht die Tendenz …. Du lieber Gott, woher soll man das wissen? Nur eine ganz geringe Anzahl von Spezialisten können solche All-Aussagen treffen, aber alle anderen tun es mit Fleiß. Und kommen damit durch. Ich zum Beispiel gebe eine Buchreihe heraus, die irgendwie was mit „Krimis“ zu tun hat – aber, nachdem ich mich jetzt fast zwanzig Jahre lang mit dieser im literarischen Spektrum klitzekleinen Sorte von Texte befasst habe, weiß ich immer weniger, was ein „Krimi“ ist. Das unterscheidet mich kategorial von einer 20jährigen Praktikantin, die genau weiß, was ein „Krimi“ ist – und noch nicht einmal Probleme damit hat, mir das zu erklären wie einem Idioten.
Oder Sie haben mal Lust, als Sittenstrolch zu punkten? Dann gehen Sie am besten in eine schicke, engagierte Buchhandlung und fragen zum Beispiel nach einem Roman von Larry McMurtry. Erst wird die engagierte Buchhändlerin beiderlei Geschlechts ein fiepend-fragendes Geräusch von sich geben. Dann erklären Sie ihr, dass der Mann „Western“ schreibt. Darauf wird Sie die Dame, die zweifelsohne das Gesamtwerk von Johann Klaj und oder Luis de Góngora auswendig rezitieren könnte, wenn sie die Namen schon mal gehört hätte, so behandeln, als hätten Sie ihr in den Schlüpfer gelangt und Ihnen unmissverständlich bedeuten, sich Ihren Schmutz am Bahnhofskiosk zu besorgen. Soweit nebenbei zur Krise des Buchhandels. Wichtiger aber ist, dass die Dame definitiv weiß, was Schrott und Schotter ist, weil sie vor lauter Walser-Debatte und Houllebecq-Hysterie sich am Puls des literarischen Up-to-Dates wähnt. Denn es hilft ja auch nicht, das Feuilleton und die anderen Multiplikatoren, wenigstens eine Ahnung davon zu bekommen, dass Literatur mehr sein könnte als die Spitzentitel der jeweiligen Verlagsprogramme.
Dass pro Saison immer überall die gleichen Bücher besprochen, die gleichen Autoren gefeaturet, in Büchersendungen die üblichen Verdächtigen abgefeiert werden, lässt natürlich den Eindruck entstehen, die seien einfach deswegen wirklich wichtig. Es werden, so scheint es, nur wenige Bücher gekannt, und daraus irgendwelche Maßstäbe abgeleitet. Das ist evidentermaßen verheerend. Zeigt aber nur, dass die anderen auch keine Zeit haben, wirklich zu lesen. Der tertiäre Analphabetismus nimmt allmählich Gestalt an. Er unterscheidet sich vom ersten und vom zweiten (nach Enzensberger) höchstens dadurch, dass man mit ihm sogar noch was werden kann in dieser literarischen Gesellschaft.
PS: Den Larry-McMurtry-Test habe ich in fünf berühmten und renommierten Berliner Buchhandlungen gemacht. Nicht mehr dazu gekommen bin ich zu sagen, dass der Mann Pulitzer-Preisträger ist, Präsident des amerikanischen PEN war und die Vorlage für Peter Bogdanovichs „Last Picture Show“ geliefert hat, so schnell wurde ich aus den Läden hinausgeschnöselt. Der krisengeschüttelte Buchhandel wollte mit so was und mit einem, der so was liest, doch lieber keinen Umsatz machen.
Thomas Wörtche, 24.06.2002