Geschrieben am 15. Oktober 2014 von für Litmag, Porträts / Interviews

Laudatio auf Raja Alem zum LiBeraturpreis 2014

Die Autorin Raja Alem aus Saudi-Arabien erhält für ihren Roman „Das Halsband der Tauben“ (Unionsverlag) den LiBeraturpreis 2014. Die mit 3.000 Euro dotierte Auszeichnung wird von der Gesellschaft Litprom vergeben und wurde am 11. Oktober auf der Frankfurter Buchmesse überreicht. Die Laudatio stammt von Karl-Markus Gauß.

Alem RajaMeine Damen und Herren, sehr geehrte Raja Alem,

die Welt ist reich an materiellen Gütern, die nur leider sehr ungleich verteilt sind, an sozialen Errungenschaften, die heute freilich oft als Ideale von gestern verächtlich abgetan werden, an kulturellen Werten, die niemals ein für alle Mal gesichert sind, sondern immer wieder verteidigt und neu entworfen werden müssen. Reich ist die Welt auch an Widersprüchen, die durch sie schneiden, an Widersprüchen, die nicht selten zu furchtbaren Konflikten führen, aber auch an solchen, die zu fruchtbaren Auseinandersetzungen Anlass bieten könnten. Die Welt ist reicher und größer, als uns glauben gemacht wird, und wer sich für sie interessiert, wird mit dem, was Historiker in Archiven erforschen und politische Journalisten recherchieren, nicht auskommen. Es braucht die Literatur als die andere Geschichtsschreibung, damit uns die Dinge, über die wir uns in simpler Einfalt allzu sicher sind, wieder in heilsame Verwirrung geraten, und umgekehrt dort, wo wir in der Überfülle an Informationen gar nichts mehr durchblicken zu können meinen, wieder einen Zusammenhang, eine Struktur, eine Ordnung zu erahnen beginnen.

1. Was wir von Saudiarabien wissen

Was wir über das Königreich Saudiarabien, einen der verlässlichsten Partner des Westens, aus den täglichen Nachrichten wissen: Dass nach dem Freitagsgebet in den größeren Städten des Landes häufig Homosexuelle aufgehängt werden, auf dass die Bevölkerung in ihrer frommen Sittlichkeit bestärkt werde; dass Millionen von pakistanischen, jemenitischen, sudanesischen, indonesischen Arbeitern und Hausgehilfinnen ihren Dienstherrn ausliefert sind, ohne deren Genehmigung sie weder die Stellung wechseln noch das Land verlassen dürfen; dass die eine Hälfte der Bevölkerung, die Frauen, von der Teilhabe am öffentlichen Leben ausgeschlossen ist…

Das alles wird von offizieller Seite keineswegs geleugnet oder vertuscht: Die Hinrichtungen finden in aller Öffentlichkeit statt; die Ankläger beziehen sich, wenn sie Oppositionelle hinter Gitter bringen wollen, vor Gericht ausdrücklich auf Verbrechen wie „Apostasie“, „Wühlarbeit gegen das Regime“ oder „Beleidigung der Justiz“, die es in Demokratien, wie wir sie schätzen, gar nicht gibt. Und das Regiment, das die Sittlichkeit der Frauen einem männlichen Überwacher überantwortet, dem Ehemann, Vater, Bruder, es wird gegen westliche Kritiker gerade als Herrschaft der Moral über andernorts praktizierte Schamlosigkeit gepriesen.

2. Was wir in der Literatur erfahren

Die in Saudi Arabien verfasste Literatur, die ältere wie die neueste, ist bei uns nahezu völlig unbekannt gewesen, als vor einem Jahr im Schweizer Unionsverlag der Roman einer 1970 geborenen saudischen Autorin erschien. Was wir aus diesem überwältigend gut erzählten, kühn komponierten und von der ersten bis zur letzten Seite faszinierenden Roman erfahren können, ist dies: dass vieles stimmt, was wir von Saudi Arabien zu wissen meinen, und es zugleich doch ganz anders ist. Verblüffend ist schon die schlichte Tatsache, dass es diesen Roman überhaupt gibt, der von keiner im Exil, sondern einer in der Millionenstadt Dschidda lebenden Autorin verfasst wurde, von Raja Alem, die vorher bereits neun Romane veröffentlicht hat und wegen ihrer Arbeit in Saudi Arabien nicht verfemt ist, sondern, übrigens zusammen mit ihrer Schwester Shadia, 2011 sogar den saudischen Pavillon bei der Biennale in Venedig mit einer Installation ausgestattet hat. Raja Alem schreibt nicht, um uns, ihre Leser im Westen, in dem Bild zu bestätigen, das wir uns von Saudi Arabien zu machen pflegen; sie schreibt aber auch nicht, um jenes Bild zu bestätigen, das die herrschenden Kreise Saudi Arabiens womöglich von sich haben und in der Welt verbreitet wissen möchten.

Kann das gehen, darf das sein? Ich glaube, indem Raja Alem Romane schreibt, kämpft sie auch um die Freiheit, literarisch ihre Welt zu entwerfen, ohne dauernd darauf achten zu müssen, ob sie damit dem Wunsch nach Kritik oder dem nach Bestätigung entspricht. Ihr Roman „Das Halsband der Tauben“ ist ein doppelter Befreiungsschlag: Da nimmt sich eine Autorin selbstbewusst die Freiheit, ihre Geschichte zu erzählen, ohne auf die Erwartungen der einen wie der anderen Seite Rücksicht zu nehmen. Und sie geht dabei tief zurück in die Vergangenheit, zu Legenden und Mythen, zu realen Persönlichkeiten und erfundenen Gestalten, die von Toleranz, Weltoffenheit und Freiheitsdrang zeugen, unterzieht die Gegenwart einer scharfen, kompromisslosen Analyse und gibt damit der Zukunft das Offene zurück, von dem wir oft gar nicht mehr glauben, dass es eine reale Möglichkeit der politischen und sozialen Entwicklung, eine Dimension des Menschen ist. Sie nutzt damit auf ihre ganz eigen geprägte Weise die Fähigkeit des Romans, der eine literarische Form der Demokratie ist, insofern er verschiedene Perspektiven auf das gesellschaftliche Leben ausprobiert, das Individuum mit seinem Versuch, sich in seinem Glücksverlangen zu behaupten, erkundet und damit die Welt gewissermaßen in ihrem Stadium der Entwicklung, der Veränderung erfasst.

3. Was für ein Roman ist das?

Raja Alem hat ein vielschichtiges Kunstwerk verfasst, das reich an Bezügen auf die islamische Tradition ihres Landes ist, an Verweisen auf geistige Größen, die bei uns kaum jemand kennen wird. Sie nutzt die Geschichte ihres Landes wie einen Resonanzraum, der ganz andere als nur die bekannten Misstöne zum Erklingen bringt. Schon der Titel, „Halsband der Tauben“, spielt auf eine Schrift des Gelehrten Ibn Hasm an, der im 11. Jahrhundert über die innere Verbundenheit von Judentum, Christentum und Islam meditierte und die Liebe als Brücke zwischen den Menschen verschiedenen Glaubens pries. Raja Alem erzählt dabei auch die Geschichte der Stadt Mekka, die als heilige Stadt der Muslime seit Jahrhunderten eine Weltmetropole ist, und sie hat sich dabei gleichermaßen dem alten, versunkenen, zerstörten – und von ihr gerade deswegen ins literarische Gedächtnis geretteten – Mekka zugewandt, wie dem Moloch einer Riesenstadt von heute. In diese pilgern die Frommen aus aller Welt, doch was sie vorfinden, ist eine vom Immobilienboom rabiat zerstörte, eine geradezu wehrlose Stadt, die es erdulden muss, dass auf den religiöse Stätten früherer Jahrhunderte Hotelburgen, Parkhäuser, Bedürfnisanstalten errichtet werden.

Des Weiteren bietet dieser vielschichtige, vielstimmige Roman eine weit gespannte, originelle Studie über den Körper, die weibliche Körperlichkeit in einer patriarchalisch geprägten Gesellschaft. Alem schreibt Passagen von betörender Sinnlichkeit, nicht nur, aber auch was den Körper betrifft. Wie sie die Stadt als großen Organismus zeigt, dem von der rücksichtlosen Kommerzialisierung schwere, schwärende Wunden zugefügt werden, so preist sie sinnlich den Körper des Menschen und klagt sie über die Verletzungen, die ihm geschlagen werden. Und schließlich ist „Das Halsband der Tauben“ auch ein spannender Kriminalroman, der von einem Mord, den möglichen beiden Opfern, den vielen Tätern und nicht zuletzt auch von der Gestalt des Ermittlers erzählt.

Raja Alem_Halsband4. Der Kriminalroman

In einer uralten, schmutzigen Gasse von Mekka, in der sich das Leben drängt, ist eine zur Unkenntlichkeit verstümmelte nackte Frauenleiche gefunden worden. Der Kommissar Nassir, ein abgründiger Charakter, der vom Trauma des Ehrenmordes verformt wurde, den sein Vater vor Jahrzehnten an seiner älteren Schwester verübte, wird von dem Fall in seiner Selbstgewissheit, ja seiner gesamten Existenz erschüttert. Er ist kein angenehmer Mensch. Eingangs heißt es von ihm: „Dieser Mann war nicht irgendein Inspektor, das musste der Todesengel in Person sein. Doch statt der Trompete des Jüngsten Gerichts bediente er sich der Klimaanlage, um die Gesichter der Verdächtigen in Eis erstarren zu lassen.“

Er ist aber in seiner Obrigkeitstreue auch wieder nicht so gehemmt, dass er sich das Denken gänzlich verbieten würde. Je tiefer er in die Geheimnisse dieses Mordfalls dringt, umso beklemmender verspürt er, dass es dabei auch um ihn geht; um den Mann von strengen Sittenvorstellungen, die Stütze eines Systems, das auf die Verbannung des weiblichen Körpers aus der Öffentlichkeit baut, aber gerade dadurch kurios sexualisierte Menschen erschafft, die sich in einer Art sexueller Dauerbereitschaft befinden und daher auch dauernder Observation bedürfen.

Wer ist die Frau, die so grausam zu Tode gekommen ist? Verschwunden sind Aischa und Asa, beide viel begehrt und nicht willens, sich in die Zwangsordnung zu fügen, die über sie verhängt ist. Von der einen bekommt der darob fassungslose Kommissar jene offenherzigen E-Mails zu lesen, die sie an einen fernen Geliebten in Deutschland geschickt und auf ihrem Computer nicht gelöscht hat; die andere lernen wir durch das Tagebuch kennen, in dem ihr ein Verehrer seit Jahren huldigt. Asa wie Aischa, zwei Frauen von heute, wie für ein Saudi Arabien von morgen

5. Der Stadtroman

Die Weltliteratur kennt etliche Romane, in denen eine Stadt, die große Stadt selbst zum Protagonisten, zum Helden des Geschehens wird. Dieser Tradition, der beiläufig Romane wie „Manhattan Transfer“ oder „Berlin Alexanderplatz“ als prägende Werke zugehören, hat Raja Alem einen arabischen Großstadtroman hinzugefügt, den sie auch „Mekka Transfer“ oder „Mekka Vielkopfgasse“ hätte betiteln können. Beide, Aischa und Asa, waren nämlich Bewohnerinnen der „Vielkopfgasse“ am Rande von Mekka. Mit einem kühnen Kunstgriff macht die Autorin diese Gasse selbst zur Erzählerin jenes Romans, der in ihren Häusern spielt. Damit wird aus dem Kriminalroman und der Studie über den weiblichen Körper in der islamischen Welt der Roman eines plebejischen Viertels von Mekka, ja ein Stadtroman über die Metropole des Islam.

Grandios verwebt Raja Alem alte Mythen und neue Dokumente, changiert sie zwischen Traum und Wirklichkeit, einmal schlägt sie Märchentöne an, dann wiederum formuliert sie mit satirischer Schärfe. Die Vielkopfgasse verdankt ihren Namen einer Bluttat, wurden hier doch vor Jahrhunderten vier aufrechte Männer, ein Jude, ein Christ, ein Muslim und ein Anbeter der alten Feuerreligion als vermeintliche Götzendiener geköpft, ihre Köpfe auf Speere gespießt und ausgestellt. Eine Frau, die alle vier Männer gleichermaßen liebte, kam alle Tage, um mit den vier Köpfen zärtliche Gespräche zu führen. Es ist die Gasse von heute selbst, die von damals berichtet: „Diese Frau klagte nur und seufzte. Bis eines Tages aus ihrer Leidenschaft die Gasse hervorbrach, aus Leidenschaften geboren. Jawohl, ich gestehe, dass ich dem Verlangen im Leib eines Weibes, den Wunden in ihrem Herzen und an ihren Händen entstamme.“

Raja Alem erzählt von einem Kriminalfall der Gegenwart und breitet zugleich die 1400-jährige Geschichte von Mekka aus, einer Stadt, die heute 1,4 Milliarden Menschen heilig ist und in der doch die Korruption blüht, ganze Viertel zerstört und mit dem frommen Tourismus ungeheure Geschäfte gemacht werden. Die satirische Energie, mit der Alem die Zurichtung der Stadt anprangert, ist beachtlich und oft auflachend komisch: „Die Bewohner von Mekka sind geborene Händler, die auch den Schatten und den Wind verkaufen. Sie drehen dir noch die Plazenta deiner eigenen Mutter an.“ So führt der Roman aus der Gasse der Armen in die Kreise der Immobilienmillionäre, die in Madrid ihre Zweitwohnsitze haben und ihren Frauen dort ein prassendes, wiewohl streng überwachtes Leben finanzieren.

6. Der Körper, unsichtbar und omnipräsent

In der patriarchalischen Gesellschaft, Raja Alem zeigt das an der Metaphorik aufreizender und malträtierter Körpers, ist die Sexualität schier omnipräsent. Gerade weil er, wie es heißt, unter „Folterkleidern verborgen“ werden muss, ist der weibliche Körper im Denken, im Halluzinieren, im Wahn der Männer allgegenwärtig. Da gibt es junge Kerle, die schicke Modegeschäfte überfallen, um sich in den Besitz von Schaufensterpuppen zu setzen; da flippt ein Jugendlicher aus, weil er beim Gebet hinter dem Vorhang das unbedeckte Handgelenk einer Frau mehr erahnt als erblickt hat und sich künftig die herrlichsten Ausschweifungen ausdenkt, die immer mit diesem winzigen Stück nackter Haut zu tun haben; da verlieben sich junge Männer in Frauen, die sie nie gesehen, von denen sie nur den Namen gehört haben, Namen, deren Klang ihnen genug hergibt, dass sie in eine phantasierte Intimität zu den unbekannten Geschöpfen ihres Begehrens treten. Worin sie alle sich üben, üben müssen: verhüllte Frauenkörper zu unterscheiden. „Wenn Männer Frauenkörper unter der Abaja lesen, suchen sie weniger ein bestimmtes Gesicht als vielmehr die Zeichen einer Körpersprache, die sie entschlüsseln können.“

Den Frauen ergeht es natürlich ungleich schlimmer. Von ihnen heißt es einmal: „Wir müssen unsere Gesichter schwarz verhängen und eine Tarnkappe tragen, die uns zu nicht existierenden Wesen macht.“ Diese Unterdrückung, Raja Alem betont es mehrfach, ist kein Überbleibsel mittelalterlicher Verhältnisse, sondern Ergebnis einer spezifischen Modernisierung, „ein Produkt der modernen Zeit“, durften Frauen doch, wie Alem schreibt, bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts „ihr Gesicht den Menschen und der Sonne zeigen“.

„Das Halsband der Tauben“ ist kein Stück globalisierter Literatur, das schon von vorneherein auf das Informations- und Sensationsbedürfnis westlicher Leser setzte oder deren sentimentale Sehnsucht nach folkloristischer Kraft und Pracht bediente. Die Welt ist reich, auch an Überraschungen. Raja Alem überrascht uns in unserer Voreingenommenheit mit einem Roman, der sinnlich und freimütig die Liebe und die Körperlichkeit des Menschen preist, scharfsichtig in der Analyse ist und scharfzüngig im Spott. Mit dem LiBeraturpreis 2014 wird ein großartiger Roman ausgezeichnet. Ihn nicht zu lesen, ist ein schweres Versäumnis.

Karl-Markus Gauß

Raja Alem: Das Halsband der Tauben. Übersetzt von Hartmut Fähndrich. Broschiert.  592 Seiten. 14,95 Euro. Mehr Infos hier. Foto: Unionsverlag.

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