James Joyce reloaded
– Der (fast) komplette „Ulysses“ in einer Bühnenversion, dazu eine neue amerikanische Joyce-Biografie und eine große Ulysses-Ausgabe mit umfangreichem Apparat: 90 Jahre nach der Veröffentlichung des „Ulysses“ ist James Joyce wieder voll im Fokus der Kritiker und Literaturwissenschaftler. Das merkt man bei einem Dublin-Besuch natürlich auch. Von Peter Münder.
Um die Bronzestatue an der O´Connell Street, die den Ulysses-Verfasser mit Spazierstock und Hut zeigt, gruppieren sich einige Touristen, aber auch viele Dubliner zum gegenseitigen Ablichten; kleine im Straßenpflaster eingelassene Tafeln auf dem Lästrygonen-Weg des achten Kapitels markieren die Route, der man folgen sollte, wenn man wie weiland Leopold Bloom im „Ulysses“ am 16. Juni 1904 durch Dublin spazieren will. Bloom kümmerte sich ja um Anzeigenkunden, er besuchte seine Kumpane in diversen Kneipen und trank bei Davy Byrnes in der Duke Street einen Burgunder zum Gorgonzola-Sandwich. Folgt man dieser Strecke in der Nord-Süd-Richtung vom Evening Telegraph-Büro in der Abbey Street bis zu Doran´s Pub in der Molesworth Street, dann bewegt man sich sozusagen auch vom Mund durch die Speiseröhre bis zum Magen und zum After – denn das Organ, das diesem Kapitel zugeordnet ist, heißt Oesophagus: Die Speiseröhre.
Wir bewegen uns erst mal ohne Schluckstörungen im nördlichen Bereich in der Nähe der Parnell Street und besuchen das Joyce Centre. Es ist in einem herrlichen alten Georgian Town House in der North Great George´s Street untergebracht. Der sympathische Schauspieler und Regie-Student Bush Moukarzel von der Theatergruppe Dead Centre Theatre sitzt an der Kasse und erklärt genauestens, dass James Joyce mit seiner Familie hier nur gelegentlich bei gutsituierten Bekannten eingeladen war und seine Impressionen in den „Dubliners“ festgehalten hatte. Aber der schöne Bau war eben auch der einzig gut erhaltene mit einem Bezug zu Joyce – daher ist das Centre hier lokalisiert. Und sofort diskutieren wir über Brecht und Piscator (er hat sogar einen reich illustrierten Piscator-Band im Rucksack!), Sean O´Casey, Beckett, Brendan Behan, Synge und über Dermot Bolgers Versuch, den Ulysses mit einem neuen Ansatz auf die Bühne zu hieven. In welcher anderen Stadt spürt man schon so intensiv die Liebe zur Literatur und zum Theater? Wo sonst verehrt man seine Autoren und deren Literatur so leidenschaftlich wie in Dublin? Keine Frage, den von der UNESCO verliehenen Ehrentitel „City of Words“ hat Dublin hoch verdient.
Im Joyce Centre hat man alte Theaterplakate, Porträts, Poster und historische Fotos im Aufgang zum zweiten Stock aufgehängt, man zeigt einen Film, in dem die National Library und Blooms dort vorgetragene Hamlet-Thesen fast ebenso ausführlich gewürdigt werden wie im Ulysses und ein nachgebautes kleines, enges Kabuff soll illustrieren, unter welchen engen, ärmlichen Verhältnissen Joyce meistens lebte und arbeitete. Ein Poster sagt mehr als lange Diskussionen und tausend Anti-Kriegs-Deklamationen: Die uralte, an den vermeintlich unpolitischen Joyce gerichtete Frage „What did you do in the war?“ beantwortet ein Poster an der Wand mit der ironischen Replik: „I wrote Ulysses – what did you do?“
Joyce auf der Bühne – das betrifft ja nicht nur das selten gespielte Stück „Exiles“. Der irische Romancier Dermot Bolger,53 („Finbar´s Hotel“), Herausgeber und Verleger, beschäftigte sich seit fast zwanzig Jahren mit der Idee, den Ulysses für das Theater zu bearbeiten. Doch als ihm der englische Regisseur Greg Doran von der Royal Shakespeare Company 1993 den Vorschlag machte, für ein geplantes Gastspiel in den USA eine dramatisierte Version zu liefern, bekam er sofort akute Angstzustände und fühlte sich von panikartigen Attacken heimgesucht: Wie sollte man den ausufernden Stoff, die am Bloomsday durch Dublin mäandernden Figuren, all die inneren Monologe, diffizilen Assoziationen dieses turbulenten Personenkarussells unter Kontrolle bekommen? Es geht hier ja tatsächlich, wie schon Hermann Broch notierte, um die Darstellung eines „Welt-Alltags der Epoche“!
Erst als Bolger die Idee hatte, mit dem letzten Kapitel, dem „Penelope“-Monolog der lasziven, sich im Bett suhlenden und in erotischen Phantasien schwelgenden Molly die Odyssee des Dubliner Annoncen-Aquisiteurs Leopold Bloom aufzurollen, hatte er ein schlüssiges Konzept, das ihm weitere Panik-Attacken ersparte. Und sie sind ja auch überwältigend, rührend und von einer mitreißenden Vitalität, diese Passagen – wie etwa die letzte, mit der das Buch auch endet. Wer (wie ich) Ende der 80erJahre die wunderbare Barbara Nüsse als Molly in Ulli Wallers brillanter Hamburger „Penelope“-Inszenierung auf Kampnagel erlebte, wird diesen so beeindruckend dramatisierten Monolog so leicht nicht vergessen. Dieser grandiose erotische Memory-Trip hatte es auch Bolger angetan.
I drew my arms around him and yes drew him down to me so he could feel my breasts all perfume yes and his heart was going like mad and yes I said yes I will
Inzwischen gastierte das schottische Tron Theater mit Bolgers Version in der Regie von Andy Arnold in Glasgow, Belfast, Cork und Dublin (Project Arts Theatre). Bolger ließ in seiner Bühnen-Fassung Molly aber nicht in ihren Solo-Phantasien schwelgen, sondern er legte den schlafenden Bloom neben sie. Dessen Traumszenen werden in Handlung umgesetzt und von Mollys Monolog unterbrochen: „Im Schlaf kann man ihn zurückbegleiten auf seinem Weg durch die Stadt und die Figuren können ihn, ganz der irrationalen Logik der Träume entsprechend, an die unterschiedlichsten Locations begleiten“, erklärte Bolger sein Konzept in einem Artikel in der „Irish Times“. Daher sei dann die „real time“ der Schlafzustand des Helden Bloom, während Molly aufgeregt in ihrem monologischen Gedankenstrom schwimmt.
Aber wirft dieses nervös anmutende „communicatio interrupta“ -Szenario auch einen Blick auf neue, unerforschte Aspekte? Peter Crawley zieht in seiner Kritik (in der „Irish Times“) das Fazit, man würde als Zuschauer nur mit einer turbulenten Promenade vieler Figuren konfrontiert – neue Erkenntnisse: Fehlanzeige. Dagegen lobt der irische Publizist Fintan O´Toole Bolgers Version und die Inszenierung von Andy Arnold über den grünen Klee als „brillante Wiedergabe des Joyce-Universums mit theatralischen Mitteln, glaubwürdig und realistisch und dennoch ein frisches und dynamisches Kunstwerk“.
Wie auch immer – Joyce beschäftigt und beflügelt Literaten und Theatermacher immer noch. Was der große Ire ja auch selbst prophezeit hatte, als er den Ulysses schrieb. Allerdings hatte er an die vielen hundert Professoren gedacht, deren graue Zellen auch noch etliche Jahrzehnte später beim Grübeln über den Ulysses heiß laufen würden. Dass Joyce über den Tag hinaus dachte und die hereinbrechenden Krisen im Visier hatte, die ihn für Bolger eben auch als zeitgenössischen Sozialkritiker so faszinierend machen, zeigt folgende von Bolger zitierte Passage, in der Bloom konstatiert: „Ich lehne Gewalt und Intoleranz in jeder Form ab. Eine Revolution muss in Raten erfolgen. All diese verdammten Auseinandersetzungen, angeblich um Ehre und Flaggen. Dabei geht es nur um Geld, Gier und Neid“.
Um Geld, Gier und Neid geht es auch Gordon Bowker, der sich in seiner neuen Joyce-Biographie natürlich als Schattenboxer gegen den übermächtigen Richard Ellman profilieren will, dessen Monumental-Werk immer noch alle anderen Joyce-Studien überstrahlt. Bowker kapriziert sich darauf, Joyce als verarmten Underdog zu zeigen: Fern der Heimat, mittelos, verkannt usw. Doch das ist natürlich nur die halbe, nostalgisch verklärte Wahrheit: Joyce hatte ja etliche Mäzene (Ezra Pound, Sylvia Beach, Harriet Weaver, Bernard Monnier) und musste nur gelegentlich am Hungertuch nagen, wie Fintan O´Toole in seiner Kritik nachwies. Der größte Schwachpunkt dieses Opus ist jedoch der Versuch, biografische Daten als Blaupausen für das gesamte literarische Werk zu verstehen und sie als Schlüssel für alle literarischen Interpretationen zu instrumentalisieren.
Aber zurück zum kleinen Dubliner Literatur-Rundgang: Nur wenige Schritte vom Joyce Centre entfernt stößt man direkt auf das jesuitische Belvedere College, das Joyce besucht hatte. Ich mache aber einen großen Bogen um diesen Hort von Drill und Zucht und bibelfester Big Brother-Bevormundung und beäuge einigermaßen verblüfft die Exponate im Dublin Writers Museum am Parnell Square. Der Bogen von Swift bis zu Brendan Behan, Shaw, Yeats, Wilde und Beckett ist weit gespannt, von Manuskripten, Erstausgaben bis zum alten Klavier von Joyce und dem Pariser Telefon von Samuel Beckett ist hier so manche Preziose unter Glas zu bestaunen. Irgendein Ordnungssystem lässt sich nicht erschließen – aber was soll´s? Man muss eben genau hingucken, um zu eruieren, was es auf sich hat mit dem roten Knopf an Becketts Telefon oder von welcher Gewerkschaft der junge Brendan Behan damals seinen hier ausgestellten Mitgliedsausweis bekam.
Von all den schönen im Ulysses beschriebenen Pubs ist nur noch das in der Duke Street gelegene Davy Byrne´s erhalten – es ist zwar sehr schmuck hergerichtet, doch es hat mit einer heimeligen irischen Kneipe nichts mehr gemein. Auch wenn hinter dem langen Tresen die Guinness-Zapfhähne angeordnet sind: Hier strahlt der Chrom, sprudelt der Café Latte und in der Mittagspause sind etliche Hedgefond-Manager angestrengt in die Lektüre der Financial Times vertieft. Immerhin wird der legendäre „Traditional Gorgonzola-Sandwich“, den sich Bloom damals im rustikaleren Ambiente zum Burgunder bestellte, heute immer noch angeboten: Er kostet 5,50 Euro.
Einige schöne Joyce-Porträts erinnern an den berühmten Dubliner, die mir von der freundlichen Bedienung auch sofort gezeigt wurden. Aber von der „nice quiet bar“ (so Bloom im Ulysses) kann man beim geschäftigen Treiben in dieser schicken Trattoria-Imitation nicht mehr sprechen. Auch wenn das Holz der Theke, wie Bloom bemerkte, immer noch „nicely planed“ ist.
Sorry, aber jetzt zum Schluss ist ein Exkurs über Harold Pinters „theatralische Lehr-und Wander-Jahre“ in Irland fällig. Denn diese Zeit als 20jähriger Wanderschauspieler mit der Truppe des großen Theatermanns (vom Sommer 1951-52) Anew MacMaster hat ihn stark geprägt, es waren seine goldenen Jahre. Mit Shakespeare und Oscar Wilde im Repertoire tingelte die Truppe durch die Provinz, wo man meistens in alten Kinos vor betrunkenen Bauern auftrat. Und wo Pinter dann zufällig die Werke Becketts entdeckte, als er das „Watt“-Fragment im Magazin „Poetry Ireland“ las, selbst Gedichte über die vor Galway liegenden Aran Inseln verfasste und die lyrischen Feinheiten bei WB Yeats schätzen lernte. Er verehrte Mac, den egomanischen Theater-Prinzipal, von dem er so viel lernte, er war schwer verliebt in die Kollegin Pauline Flanagan und er genoss das romantische Wilhelm-Meister-Ambiente: Damals zog die Truppe nämlich meistens im Pferdewagen über Land. „Irland in jenen Tagen war zwar nicht immer golden, aber manchmal schon. Die 50er Jahre waren, alles zusammengenommen, für mich und andere ein goldenes Zeitalter“, lautete sein Fazit.
Und die Begeisterung der Iren für Theater und Literatur, das ist offensichtlich, hat sich sofort auf den jungen Schauspieler übertragen, der bald darauf seine ersten Stücke verfasste. Dass diese Begeisterung heute noch in der „City of Words“ so intensiv spürbar und erlebbar ist, das ist schon ein kleines Wunder!
Peter Münder
Alle Dublin-Fotos: Peter Münder
Gordon Bowker: James Joyce: A New Biography. Farrar, Straus, Giroux. 608 Seiten. 35 Dollar.
Dazu die aktuelle Rezension von Fintan O´Toole: Joyce, Heroic, Comic. In: New York Review of Books, 25 Okt. 2012
Richard Ellman: James Joyce. Frankfurt 1994 (rev. und erg. Ausgabe)
Friedhelm Rathjen: James Joyce. Rowohlt Monographie 50591, Reinbek 2004