Der Schneider sagt: Es kommt der Mai,
man muß jetzt alles anders nähen,
ja, ja, so sage ich zu ihm,
man muß jetzt alles anders sehen.
Die Perlenschnur wird neu gemacht,
die Schere schneidet in den Haaren,
man möchte in ein andres Land,
zum Beispiel durch Grusinien fahren.
Aus: Russische Lyrik im 20. Jahrhundert Ausg. und übertragen von Kay Borowsky. Tübingen: Heliopolis 1991
Bella (Isabella) Achatowna Achmadulina wurde am 10. April 1937 (in den Zeiten des schlimmsten Stalinismus) in Moskau geboren und starb, in Deutschland nur wenig beachtet, Ende November 2010 in Peredelkino. Wer einmal das Glück hatte, ‚die Achmadulina‘ live zu erleben, wird dieses Ereignis nie vergessen… Diese kleine Frau mit den kurzen,schwarzen Haaren tritt nach vorne vor die Zuhörer, konzentriert sich für einen Moment und rezitiert dann ihre langen Gedichte mit einer, jedenfalls für unsere Ohren, vollkommen unbekannten Intonation.
Dieses Pathos ist uns fremd, aber es fasziniert auch, erfasst die Zuhörer, läßt sie gebannt auf die Lyrikerin blicken. Man spürt, einen großen Augenblick der Literatur mit allen seinen Sinnen mitzuerleben. Dass man die russische Sprache nicht versteht, wird in diesem Moment vollkommen unbedeutend.
So aufwühlend, so verstörend und so mitreißend kann das Rezitieren von Gedichten sein. Einmal ‚die Achmadulina‘ gehört und erlebt zu haben, prägt für ein ganzes Leben. Dass sie sich auch für verfolgte Künstler während der gruseligen Breschnew-Jahre einsetzte, sollte man nicht vergessen, wenn an diese große Lyrikerin erinnert wird.
Carl Wilhelm Macke