Geschrieben am 13. August 2014 von für Litmag, LitMag-Lyrik

LitMag-Weltlyrik: Mario Luzi

Foto © Giovanni Giovannetti/effigie

Foto © Giovanni Giovannetti/effigie

Wir versuchen manchmal es zu sein,
treu der Anweisung,
fügsam der Mahnung, wach
also, aufmerksam auf die vielen Täuschungen,
sehr wachsam.
Die Signale sind leuchtend und dunkel.
Die Papiere klar zu lesen,
aber undeutbar.
Nimmt wahr oder nicht
die Epoche
dieses ans Licht Kommen
ihres verborgenen Teils?-
es fragt sich einer
schärfer und dringender:
und mittlerweile
sind wir fortwährend andere,
fortwährend verändern wir uns,
wir die Zeugen, wir die Täter.

Aus dem Italienischen von Guido Schmidlin

 

Vor einhundert Jahren wurde Mario Luzi in Castello bei Florenz geboren. Er starb hochbetagt 2005 in Florenz. Er gehört zu den Dichtern, die es den Lesern wirklich schwer machen mit ihrer Lyrik. Man liest und liest die Gedichte und glaubt, man findet nie einen Zugang zu ihnen. Zu verschlüsselt sind die Verse, zu unverständlich manche Metaphern, zu unbekannt die vielen Anspielungen, zu entfernt von der Wirklichkeit, wie wir sie Tag für Tag zu erleben und zu sehen glauben. Und dann liest man, Luzi sei zu seinen Lebzeiten einer der populärsten Schriftsteller Italiens gewesen. Geliebt von Katholiken und Kommunisten, von Jung und Alt, Gläubigen und Ungläubigen. Wie geht das alles zusammen?

Einerseits war er ein ebenso kluger wie bescheidener Mensch, der sich auf seinen großen Ruf als Poet, dessen Gedichte in den Schulbüchern von Generationen abgedruckt wurden, niemals etwas einbildete. Aber zurückgezogen in seiner Florentiner Kammer lebte er auch nicht. Wenn es notwendig war, äußerte er sich auch öffentlich klar und deutlich. Berlusconi verglich er immer mit Mussolini. Auf ihn konnte man sich verlassen, wenn es um die Verteidigung der italienischen Zivilgesellschaft ging. 2004 wurde Luzi vom damaligen italienischen Staatspräsidenten Carlo Azeglio Ciampi zum Senator auf Lebenszeit ernannt. Eine politische Auszeichnung, die nur ganz wenigen Italienern zuerkannt wird.

Und trotz dieser großen Zuneigung, die ihm in Italien von allen Seiten (ausgenommen natürlich von Berlusconi e tutti quanti) entgegengebracht wurde, machte Luzi andererseits niemals Zugeständnisse an den ‚Massengeschmack‘, nach dem Gedichte leicht verständlich sein sollten, in denen man schöne Wörter und Wendungen findet, um Gefühle zum Ausdruck zu bringen.

Das hier zitierte Gedicht gehört noch zu den kürzeren und scheinbar etwas leichter aufzunehmenden Texte von Mario Luzi. Liest man aber immer und immer wieder seine Gedichte, dann glaubt man langsam einige Bilder zu sehen, einige Verszeilen entziffern zu können, zu ahnen, was sich hinter ihnen an Weisheit zu verbergen scheint.

„Die Signale sind leuchtend und dunkel./Die Papiere klar zu lesen,/aber undeutbar./ Nimmt wahr oder nicht/ die Epoche/dieses ans Licht Kommen/ihres verborgenen Teils?„

Oder die letzte Zeile in diesem Gedicht „Wir die Zeugen, wir die Täter.“ Sind wir in der Epoche, von der Luzi hier spricht, nicht immer beides „Zeugen und Täter“?

Mir jedenfalls fällt es leicht, in diesem Gedicht meine eigenen Fragen in der Konfrontation mit der Zeit wiederzufinden, in der ich heute lebe. Nur die Kunst eines Malers, eines Musikers, eines Photographen oder eben eines Schriftstellers wie Mario Luzi kann den „verborgene Teil der Epoche“ ans Licht bringen.

Carl Wilhelm Macke

Nachsatz zur Reihe “Weltlyrik”: Wenn man fast täglich im Rahmen der Koordinierung des Netzwerks „Journalisten helfen Journalisten“ (www.journalistenhelfen.org) mit Mord und Totschlag auf allen fünf Kontinenten konfrontiert wird, dann wundert man sich, warum immer wieder auch verfolgte Journalisten in aller Welt neben ihren Recherchen über korrupte und diktatorische Regime Gedichte schreiben und lesen. Gäbe es sie nicht, es würde uns etwas fehlen – etwas Großes, etwas, das uns leben und träumen, kämpfen und trauern, lieben und verzeihen lässt. Aber “Poesie ist aber auch eine große Sprachübung. Ich kann nicht auf sie verzichten. Sie verlangt tiefe sprachliche Konzentration, und das kommt der Prosa zugute” (Der polnische “Weltreporter” Ryszard Kapuscinski). CWM

Das Gedicht ist erschienen in: Mario Luzi: Auf unsichtbarem Grunde. Aus dem Italienischen von Guido Schmidlin. Hanser Verlag, München, 2010. 336 Seiten. 19,90 Euro.

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