Geschrieben am 5. Februar 2014 von für Litmag, LitMag-Lyrik

LitMag-Weltlyrik: Su Shi

Su_shiZukunftspläne

Jeder, der einen Sohn großzieht,
wünscht diesem einen klaren Verstand.
Ich nicht! Schließlich brachte mir
mein wacher Geist ein Leben lang nur Verdruss.
Viel lieber hätte ich daher
einen völlig unbedarften Jungen,
der ein sorgenfreies Dasein am Ende
mit einem Ministerposten krönt.
(um 1080)

Beiläufige Notiz

Einsam und allein
bin ich: ein kranker Greis,
das weiße Haar zerzaust
wie Reif im Wind.
Kräftig ist nur
die Farbe im Gesicht:
zur Freude meines Sohnes,
der mich zum Lachen bringt,
weil er nicht merkt,
dass dieses Rot
vom Trinken rührt.
(entstanden 1099)

Übertragen von Thomas O. Höllmann

 

Vor einigen Wochen erschien in der „Süddeutschen Zeitung“ eine große Reportage von Kai Strittmatter über Guo Jinniu, für den die Poesie ein Anker geworden ist, ohne den er in seinem Alltag als Wanderarbeiter untergegangen wäre. „Die Kultur ist unser kleines Boot auf den Wellen. Und die Poesie ist der stabilisierende Ballast, ohne den das Boot kentern und untergehen würde. Weder Politik noch Kommerz können etwas anfangen mit der Poesie“. Heute arbeitet Jinniu nicht mehr am Fliessband, sondern registriert im Auftrag der Stadt Chenzen Wanderarbeiter. Vor allem aber schreibt er Gedichte, weil er sie schreiben „muß“. Ansonsten ginge das „kleine Boot auf den Wellen“ unter.

Mit seiner Liebe zur Poesie steht Jinniu in einer großen chinesischen Tradition, die jedoch heute in der Epoche eines aggressiven „kommunistischen Kapitalismus“ immer mehr an den äußersten Rand der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit gedrängt wird. Aber im Internet, so weiß Strittmatter seinen deutschen Lesern zu berichten, gibt es immer noch und sogar immer mehr ein Interesse an Gedichten. Im Sommer 2013 seien über 80.000 (!) Gedichte für einen Wettbewerb publiziert worden. Erwartet hatten die Initiatoren des Wettbewerbs vielleicht eintausend Einsendungen.

Es existieren in deutscher Sprache einige Gedichtbände chinesischer Gegenwartsautoren, die aber bislang auch nur ein geringes Leserecho gefunden haben. Vermutlich wird auch die jetzt im C.H. Beck-Verlag erschienene Anthologie mit Gedichten aus alten und ältesten Epochen der chinesischen Kultur nur ein geringes Echo im deutschsprachigen Lesepublikum finden. Aber ist es denn mit Gedichten aus anderen Regionen der Welt und aus anderen, moderneren Zeiten anders?!

Su Shi hat von 1037 bis 1101 gelebt. „Seine Texte setzen sich vielfach mit der sozialen Realität auseinander…und sind getragen von einem heiteren, gelegentlich auch ironischen Unterton“ (so der Herausgeber Thomas O. Höllmann in dem sehr lesenswerten Nachwort zu dieser Anthologie ). Dass das Gedicht mit dem Titel „Zukunftspläne“ vor vielen Jahrhunderten geschrieben sein soll, kann man kaum glauben. Bissiger und ironischer kann man ein Spottgedicht gegen die Minister gestern, heute, morgen nicht schreiben.

Carl Wilhelm Macke

„Windgeflüster“. Chinesische Gedichte über die Vergänglichkeit. Übertragen von Thonas O. Höllmann. C.H. Beck, München 2013. 119 Seiten. 14,95 Euro, eBook 8,99 Euro. Porträt Su Shi: Wikimedia, Quelle.

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