Geschrieben am 20. Mai 2015 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Markus Pohlmeyer: Zuhören können – oder Franz von Assisi in „Büttenwarder“. Ein Essay

Büttenwarder_DVDEin Besuch am Set von Büttenwarder.

Prolog: Als ich 2007 nach Flensburg kam, kannte ich „Neues aus Büttenwarder“ nicht. 2015 wurde ich im April zu den neuen Dreharbeiten eingeladen, saß im Sonnenschein vor dem Dorfkrug, aß zusammen mit dem Filmteam und sprach mit verschiedenen Schauspielern. Wie selbstverständlich, wie unkompliziert, und mit großer Gastlichkeit empfangen! Und sofort verwickelte mich ‚Killerkralle‘-Kuno (im echten Leben spielt er Sven Walser) in eine Diskussion über die postmodernen, popkulturellen Perspektiven bzw. Implikationen und dystopisch-dekonstruktivistischen Dimensionen von Science Fiction im Kontext des Büttenwarder-Kosmos. Peter Heinrich Brix, gespielt von Adsche, kam dazu und meinte, Kuno mache das mit allen Gästen so…

Dass ich eingeladen wurde, daran ist eigentlich Culturmag schuld (J!), dort konnte ich nämlich meinen ersten Aufsatz über Büttenwarder veröffentlichen, der zuvor auf Italienisch erschienen war (Auf dem Cover der Zeitschrift Il Regno wurde Papst Franziskus abgebildet!) und den ich dann später dem NDR schickte.[1]

Büttenwarderiana: Büttenwarder ist Einheit der Gegensätze[2]: zerrissen von den Anfechtungen der Moderne; verzweifelt im geliebten Verfall der Welt; gefangen in einer Region, die trotzdem ein kleines Universum in sich birgt; und viel Verlust: eine Welt ohne Frauen, ohne Hoffnung und natürlich ohne Nennwert (= Geld, Erfolg, Ruhm, sozialer Aufstieg etc.). Aber auch Widerstand: anders sein wollen, gerade im Scheitern. Bewahrung: die Schönheit der Natur! Freundschaft pflegen und Zusammenhalt, obwohl dies bisweilen sehr, sehr schwer fällt. Eine subkulturelle Männergesellschaft, vaterlos; bauernschlau und herzensgut; voller Vorurteile und Herzensgröße; mit ironischem Augenzwinkern gegenüber dem Norden Deutschlands und seinen Schwächen und Stärken; man gibt sich z.B. global, aber das Nachbardorf scheint ein größerer wirtschaftlicher Konkurrent als China. Die Produktion der Serie ist detailverliebt und liebevoll, wohltuend entschleunigt und nachhaltig tiefsinniger, als es auf den ersten Blick scheint (was am Anfang auch mein erster Seh-Eindruck war: mein Gott, wo bist du nur gelandet …) – kurz: vielfach unterschätzt und auf befreiende Weise so was von politisch unkorrekt!

Franziskus von Assisi[3] (gest. 1226), Namensgeber des aktuellen Papstes, war eine bedeutende Reformfigur der Kirchengeschichte (Stichwort Armut): ein authentischer Einspruch gegen den institutionellen Finanz- und Machtapparat. Natürlich wissen wir, wer gesiegt hat und immer siegen wird: Bürgermeister Schönbiehl, der (nette) korrupte Bürgermeister (einer gewissen Volkspartei zugehörig) … oder der machtgeile Günther Griem (z.B. in „Rififi“, Folge 56), noch erfolgreicherer Supersteuerhinterziehungsbürgermeister aus Klingsiehl. Einer der Schauerspieler sagte zu mir, wir könnten im Film deshalb so herzlich über Korruption lachen, weil die Realität weitaus unerträglicher sei.

Büttenwarder_NDR

Adsche, vielfach in seinen emotionalen und intellektuellen Kompetenzen unterschätzt, hört als einziger – ein wiederkehrendes Motiv – den sog. Erlentrillich. Brakelmann zu Adsche: er rede doch nur midnem Vogel. Adsche: … ja mit wem denn sonst, Mensch da sei doch kein anderer in der Dulder Au! Und dann furioser: „Meinst du, ich bin bescheuert?“[4] Mit diesen seinen auditiven Visionen geht er seinem Freunde Brakelmann ganz schön auf den S… (inn). Folge 61 verschärft diese Problematik, weil sich zu dem Vogel nun auch noch ein sprechender Knopfhase gesellt hat. Erster Auftritt: Knopfhase – und der schweigt. Wir Zuschauer können nur aus den Reaktionen und Antworten Adsches rekonstruieren, dass der Hase spricht und was er gesagt haben könnte. Grandios von Adsche gespielt, diese monologischen Dialoge! Der Knopfhase vertritt übrigens eindeutig existentialistische Positionen. Adsche von Büttenwarder schlüpft hier in die Rolle des Franziskus von Assisi, der oft in der Kunstgeschichte dargestellt wurde, wie er Tieren predigte.[5] Aber Adsche predigt nicht, er hört zu![6]

Intermezzo: Kochen mit Büttenwarder. Eine absolute Horrorszene folgt: Brakelmann (Jan Fedder in beängstigender Gelassenheit) habe die ganze Woche nur Ölsardinen gegessen. Man kippe das restliche Öl zusammen, stippe Brot darin und lege dieses dann zum Rösten kurz in die Sonne! Fliegengeräusche werden geschickt zur musikalischen Umrahmung dieser Szene eingespielt.

Adsche kehrt aus dem Wald zurück. Seine Entdeckung wird bekannt – mit eskalatorischen Folgen, abgesehen davon, dass niemand Adsche noch wirklich zuhört. Brakelmann möchte ein ganzes Hasen(zucht)Imperium aufziehen, nachdem er erfahren hat, wie wertvoll dieses Tier ist. Kuno möchte diese Hasen für seinen Reiterhof und die Kinder dort, Gastwirt Shorty für seine Speisekarte. Und Schönbiehl möchte den Hasen für seine eigenen Interessen instrumentalisieren, die er als politische dem entsprechenden Gremium rhetorisch unterschiebt.

Adsche versucht, die Andersheit der zwei Welten dem Hasen zu erklären: bei ihnen (den Menschen) gebe es Nennwert und mehr Nennwert. Und dann metaphorisch: die Hasen würden nur fressen wollen, die Menschen immer mehr fressen. Irgendwo müsse das ja herkommen: „Jetzt kommt das eben von dir!“ Darum habe er diesen Käfig mitgebracht! Adsche fängt auf Druck (= Sachzwang) von Brakelmann ein Hasenpärchen; doch Brakelmann hat aber dafür überhaupt keinen Sinn mehr, da, verstrickt in juristische Feinheiten seines zukünftigen Imperiums, alles ekstatisch auf das Ziel schlechthin zusteuert: „Kapitalerhöhung!“ Und hier passiert der Umschlag der Handlung (Peripetie): die Hasen bleiben frei. Der auszubeutende Hasen-Gegenstand, exemplarisch für die Natur als zu plündernde Ressource, verliert seine konkrete Relevanz in einem selbstreferentiellen politischen und wirtschaftlichen System, gesteuert von Individualinteressen. Adsche spricht immer alleine, isoliert im Wald mit dem Hasen (Utopie des Garten Eden). Seine Freunde im wirtschaftlich-politischen Zentrum von Büttenwarder, dem Dorfkrug, repräsentieren dagegen die andere, künstliche (dystopische) Welt (Kultur wäre hier zu viel gesagt …).

Der italienische Philosoph Gianni Vattimo diagnostizierte in einer Veröffentlichung von 1998 eine „[…] unaufhaltsame Tendenz der Wirtschaft […], sich auf den Boden der Imagination zu begeben und sich von realistischen Bindungen zu befreien […].“[7] In diesem Horror leben wir schon längst, voll normal! Sichselbstverwaltende Verwaltungen und von Machbarkeitsideologien getriebene Bürokratien, die alle Bereiche der Gesellschaft umfassen und erdrosseln; autodestruktive, mit Fiktionen handelnde Aktienmärkte, getrieben von unkontrollierter Gier und Hybris, von ungeahnter (auch ökologischer) Zerstörungskraft in der realen Welt; und in einer total medialisierten, total überwachten Wirklichkeit, da gibt es kein Zurück mehr zu den Sachen, denn die Sachen selbst sind schon längst zu Medien transformiert worden, deren dämonische Logik servile, in die Absurdität der Nennwertsteigerung getriebene Konsumenten pseudodemokratisch und angepasst perpetuieren. Darum – bei allem skurrilem Humor – diese Folge „Knopfhase“ ist wunderbares Fernsehen, das eben die eigene Medialität kritisch hinterfragt und auf das Da-Draußen und seine Würde verweist: eben nicht nur zu existieren, um politisch, finanziell, kulinarisch verspachtelt oder konsumiert zu werden. Um Kuno zu zitieren: „Das röhrt!“

Prolog: Nachdem ich die Einladung zu „Büttenwarder“ erhalten habe, erzählte ich wochenlang jeden Tag, aber auch jeden Tag meiner Mitwelt:
„Erwähnte ich schon, dass ich nach ‚Büttenwarder‘ fahre?“
„Du nach Büttenwarder?“
„Mensch, ich bin doch nicht bescheuert! Wohin denn sonst?“

Markus Pohlmeyer

Markus Pohlmeyer lehrt an der Universität Flensburg (Schwerpunkte: Religionsphilosophie; Theologie und Science Fiction).

[1] Markus Pohlmeyer: l’ebbrezza della modernità. Critica semiseria sull’ apocalisse del moderno alla fine del mondo: esempi locali, caratteristiche globali, in: Il Regno – Attualità 20/2014, 727-728; deutsche Fassung: Apokalypsen der Moderne am Ende der Welt oder: „Neues aus Büttenwarder“ – Lokale Beispiele mit globalem Modellcharakter. Essay und Satire, in: http://culturmag.de/litmag/essay-markus-pohlmeyer-ueber-neues-aus-buettenwarder/85089, Zugriff am 19.12.2014
[2] Frei nach Cusanus: coincidentia oppositorum
[3] Vgl. dazu auch: Franziskus von Assisi: Sämtliche Schriften. Lat./Dt., hg v. D. Berg, Stuttgart 2014.
[4] Alle direkten oder indirekten Zitate entnommen aus: Neues aus Büttenwarder 9, Folge 56-61 © 2014 NDR und © 2015 Studio Hamburg Enterprises GmbH.
[5] Vgl. dazu Lexikon der christlichen Ikonographie, hg. v. W. Braunfels, Bd. 6, Rom – Freiburg – Basel – Wien (1974) 1994, 288.
[6] „Beten heißt nicht, sich selbst reden zu hören, sondern zum Schweigen zu gelangen, und schweigend zu verharren, zu warten, bis der Betende Gott hört.“ S. Kierkegaard, in: Kierkegaard für Gestresste, hg. v. J. de Mylius, übers. v. U. Sonnenberg, Frankfurt am Main – Leipzig 2000, 114.
[7] G. Vattimo: Die Grenzen der Wirklichkeitsauflösung, in: G. Vattimo – W. Welsch (Hrsg.): Medien – Welten Wirklichkeiten, München 1998, 15-26, hier 25.

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