Geschrieben am 28. März 2004 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Mein Hinterhofidyll

Von Thomas Wörtche, 09.09.2002

Manchmal passiert es. Dann halten sie den Rand, die ganzen Quälgeister. Kein Telefon rasselt, kein Handy piept, kein Fax kräkelt, die e-mail bleibt im Cyber stecken. HighTech und Neonröhren verschwinden aus dem Bewusstsein. Draußen ist ein wunderbarer, stiller Septembertag. Klarer blauer Himmel, kein Lüftchen, ein paar Spinnweben im Apfelbaum. Im Hinterhaus klappern ein paar Teller und die Elstern hören auf, sich gröhlend rumzuprügeln. Ob`s daran liegt, dass ich mir – nach Monaten – mal wieder zwei Stunden für Domenico Scarlatti freigeschaufelt habe? Was ich mir eigentlich nicht leisten kann. Reiner Frust der Gedanke. Heute aber nicht.

Erstaunlicherweise sinkt man sehr schnell weg, wenn man nur ein kleines Zipfelchen erwischt hat – in diesem Fall fing’s mit der Frage an: Hat er eigentlich die Triller, die die Sonata K.1 d-moll ausmachen, ganz ausgeschrieben oder nur markiert? Also zu Ralph Kirkpatricks Scarlatti-Biographie gegriffen. Darin festgelesen. Sowas macht sonst sofort schlechtes Gewissen im XXL-Format, denn eigentlich wollte ich ja mit dem netten, unterhaltenden, ganz und gar heiteren Funk-Feature über den Sonaten-Meister Scarlatti schon vor mindesten einem Jahr fertig sein. Reiner Frust, der Gedanke. Heute aber nicht.

Was war eigentlich genau los, so zwischen 1702 und 1710 in Neapel? Da war doch der Spanische Erbfolgekrieg, oder? Ums Königreich beider Sizilien. Wieso weiß ich da eigentlich nix Genaues nicht? Und wieso finde ich auf Anhieb nix Gescheites dazu? Normalerweise Frustfragen. Heute nicht.

K. 1 ist längst zu Ende. In der Bearbeitung für Piano. Bräuchte man aber dafür nicht eigentlich zwei Tastaturen, weil das Stücklein eigentlich für Cembalo geschrieben ist? Gab es nicht auch eine zeitgenössische Bearbeitung für Gitarre? Ich wühle in CDs und altem Vinyl. Mittlerweile läuft die zauberische Sonate K.450. Pogorelich. Momentmal, das hört sich ganz anders an als bei Alexis Weissenberg. Hmm, warum? Und warum steht der zweite CD-Spieler im anderen Zimmer? Normalerweise Frustfragen. Heute nicht.

Denn über das Thema Neapel stoße ich auf einen alten britischen Reisebericht, der mit Nelson und Neapel zu tun hat (Sie wissen schon, die fatale Affaire mit Lady Hamilton) und das führt schnurstracks zu Patrick O`Brian. In dessen Romanen spielt aber eher Boccherini eine Rolle, der doch irgendwie der Nachfolger von Scarlatti am Madrider Hof war. Stimmt doch oder gab’s da noch ein Intermezzo in Lissabon? Und wie hieß damals Nelsons Schiff? War’s schon die „Victory“ oder die alte „Hyperion“? Man müsste mal nachschlagen. Normalweise Frustfragen. Heute nicht. Zumindest bis jetzt nicht. Inzwischen habe ich die alten Vinyl-Einspielungen von Christoph Zacharias gefunden. Schau mal her, die sind schon von 1981. Jungejunge, tempus fugit. Früher war ich auch mal jung. Typischer Frustgedanke. Heute aber nicht.

Im Hinterhof steht die Luft immer noch still. Die Idylle dauert noch ein Stündchen oder so. Naja, mindestens bis Sonntag abend. Und wenn Sie dies lesen, wird sie verflogen sein wie ein leiser Klavierakkord. Und lauter Frustfragen werden auch diese Woche wieder sehr unerfreulich machen.

Thomas Wörtche