Geschrieben am 2. April 2017 von für Litmag, News, Special ESSAY Special, Specials

Michael Hamburger (Essay über den Essay)

Hyacinth [De Europische insecten] , Engraving, hand-colored , 1730 , Merian, Maria Sibylla, 1647-1717


Michael Hamburger
war ein deutsch-britischer Lyriker, Essayist, Literaturkritiker und Übersetzer. 1924 in Berlin geboren, emigrierte er 1933 mit seiner Familie über Edinburgh nach London. Er starb 2007. Über den „Essay über den Essay“ schreibt er 1975, es sei der letzte Text gewesen, den er auf Deutsch geschrieben habe (aber auch die englische Version stammt von ihm). Dank an die Michael Hamburger Trust für die überaus freundliche Genehmigung zur Wiedergabe.

 

 

ESSAY ÜBER DEN ESSAY

Schon das stimmt nicht ganz: ein Essay darf eigentlich nichts behandeln, nichts bestimmen oder definieren. Ein Essay ist ein Spaziergang, ein Lustwandeln, keine Handelsreise. Wenn hier also „über“ steht, kann es nur bedeuten, daß der Spaziergang über das genannte Feld geht – aber ohne jede Absicht, es zu vermessen. Dieses Feld wird nicht umgepflügt, auch nicht bebaut. Es soll Wiese bleiben, wild. Der eine Spaziergänger interessiert sich für die Blumen, ein anderer für die Aussicht, ein dritter sucht Insekten. Die Jagd nach Schmetterlingen ist erlaubt. Alles ist erlaubt – außer den Absichten des Vermessers, des Bauers, des Spekulanten. Auch ist jedem Spaziergänger erlaubt, von einem Feld zu berichten, was er gerade gesehen hat – wenn es auch nur die Vögel waren, die es überflogen, nur die Wolken, die noch weniger dazugehören, nur die Abwandlungen von Vögeln oder Wolken im eigenen Kopf. Wer aber im Auto hinfuhr, im Auto sitzen blieb und dann sagt, er sei dagewesen, ist kein Essayist. Darum ist der Essay eine veraltete Gattung (fast hätte ich ‚Form’ geschrieben, aber der Essay ist keine Form, hat keine Form, er ist ein Spiel, das seine eigenen Regeln schafft).

Der Essay ist ebenso veraltet wie die Kunst des Briefschreibens, wie die Kunst des Gesprächs, wie das Lustwandeln. Seit Montaigne ist der Essay höchst individualistisch, setzt aber zugleich eine Gesellschaft vor- aus, die den Individualismus nicht nur duldet, sondern auch genießt – eine Gesellschaft, die Zeit hat, zudem genug Bildung, um auf Information zu verzichten. Der ganze Geist der Essayistik ist in dem ersten Satz der ersten großen englischen Essaysammlung – der 1597 veröffentlichten von Francis Bacon – enthalten: „What is Truth; said jesting Pilate; And would not stay for an Answer.“ Der scherzende Pilatus, der Fragen stellt, aber auf die Antwort nicht wartet, ist die urbildliche Verkörperung des Essays, der Essayistik und des Essayisten. Über dreihundert Jahre lang bewährte sich der englische Essay, auch nachdem der Ernst des viktorianischen Zeitalters seine eigentümliche Beziehung zur Wahrheit in Frage gestellt hatte. Erst die totalitären Systeme dieses Jahrhunderts machten aus dem absichtslosen Spaziergang ein Verbrechen; seit G.K. Chesterton und Virginia Woolf gilt der englische Essay als eine tote Gattung. Freilich wurden – und werden – noch Prosastücke geschrieben, die sich als Essays geben; aber schon George Orwell war zu verbindlich, zu puritanisch, zu krisenbewußt, um mit reinem Gewissen spazierengehen zu können.

Der Essay ist keine Form, sondern vor allem ein Stil; Von der reinen, absoluten oder autonomen Kunst unterscheidet er sich durch seinen Individualismus. Der Witz des Essays, wie auch seine Berechtigung und sein Stil, liegt in der Persönlichkeit des Autors, weist immer auf sie zurück. Um die reine, unpersönliche Kunst geht es dem Essayisten so wenig wie um die Sache. Da die große Mehrzahl der sogenannten kritischen Essays das Übergewicht auf die Sache legt, also Antworten und Urteile bietet, beweist die Fortdauer dieser Gattung kein Überleben des Essays. Die meisten kritischen Essays sind kurze Abhandlungen. Beim echten Essay ist es gleichgültig, ob sein Titel auf ein literarisches Thema deutet oder nicht, ob auf den Ursprung des Trauerspiels, oder den Ursprung des Schweinebratens.

Da aber der Essay keine Form ist, kann sich der Geist der Essayistik selbst außerhalb der Gattung durchsetzen. Wo das Zutrauen zur Leserschaft fehlte, wurde zum Beispiel aus dem Essayisten öfters ein Aphorist. Lichtenberg, Friedrich Schlegel und Friedrich Nietzsche waren lakonische, zum Teil verhinderte Essayisten. Sogar ins Gedicht drang die Essayistik ein: in pseudo-epische Gedichte wie Byrons Don Juan und Heines Atta Troll, deren Witz immer wieder auf die Persönlichkeit des Autors zurückweist, deren Handlung immer wieder von der lustwandelnden Willkür des Erzählers unterbrochen wird. Unzertrennlich waren Erzählung und Essayistik in den Prosastücken Robert Walsers, der nicht zufällig ein Hauptwerk Der Spaziergang überschrieb. Der Geist der Essayistik war es, der den Erzähler Walser zur selbstzerstörerischen Parodie trieb: „In Thüringen, etwa in Eisenach, lebte ein sogenannter Käferorologe, der wieder einmal eine Nichte besaß. Wann werd‘ ich mit Nichten und so weiter fertig? Vielleicht nie; dann weh‘ mir! Schwer litt das Mädchen im Nachbarhause unter gelehrter Obhut …“ Echt essayistisch sind auch manche Abschweifungen in Musils Der Mann ohne Eigenschaften, weil Musil im Grunde ein Suchender, ein Mann ohne Absichten war und Fragen stellte, auf die er keine Antwort wußte. Echt essayistisch sind noch die Ficciones von Jorge Luis Borges. Echt essayistisch sind viele der kürzeren Schriften von Ernst Bloch, von Walter Benjamin und von Th. W. Adorno.

Über die Leiche des Essays hinweg läuft unaufhaltsam der Geist der Essayistik, wird einmal hier, einmal dort gesehen, erscheint in Romanen, Erzählungen, Gedichten oder Feuilletons, manchmal auch wieder in dem so hoch ummauerten, streng bewachten Parkgelände der Philosophie, dem er vor Jahrhunderten entschlüpfte, um im wilden Feld zu wandern. Nie gesehen aber wird er dort, wo das wilde Feld auch als Erinnerung oder Möglichkeit aus dem Bewußtsein der Menschen verbannt wurde, wo sich die Mauern verabsolutiert haben und sogar das Gehen nur noch ein Kreislauf aus Zwang und Routine ist. An die überfüllten Straßen der Großstädte hat er sich gewöhnt, kaum an Fabriken, Kasernen, Büros, gar nicht an Gefängnishöfe und Vernichtungslager. Wer ständig an diese denken muß, kann die Ziellosigkeit und Unverbindlichkeit der Essayistik nicht dulden, nennt sie schamlos, egoistisch und frech. Aber irgendwo läuft der Geist der Essayistik weiter; und niemand weiß, wo er auftauchen wird. Vielleicht wieder im Essay?


Dieser Text erschien zuerst im Akzente Magazin, 1965.

Die englische Fassung findet sich hier:
http://timothyquigley.net/vcs/hamburger-essay.pdf

 

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