Geschrieben am 7. Dezember 2012 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Michael Zellers literarische Reise in die Ukraine

Literarische Nachrichten aus der Ukraine

– Die Ukraine, dieser breite Flächenstaat zwischen Polen und Russland, in dem sich die Einflusssphären von lateinischem Westen und orthodoxem Osten mischen, trägt sein Schicksal ja bereits im Namen: „Land der Grenze“. Eine Grenze von enormer räumlicher Ausdehnung allerdings. Michael Zeller war dort, in Charkiw, und hat sich Stadt, Land und Literaturszene angesehen.

Je weiter man in den Osten unseres Kontinents vordringt, umso spürbarer entzerrt sich die Enge menschlichen Zusammenlebens. Die Menschen, die hier ihre Städte anlegten, besonders jenseits des Dnipro (Dnepr), in altem Kosakenland – diese Gründer hatten Platz. Verschwendungsfroh schöpften sie aus dem Vollen. Wenn man durch die Straßen von Charkiw geht, einer Stadt von anderthalb Millionen Einwohnern, 50 Kilometer von der russischen Grenze entfernt: Vor 350 Jahren für ein paar Pferdekutschen in die Steppe geschnitten, wirken die mehrspurigen Betonbänder heute, als seien sie für den automobilen Verkehr kommender Jahrhunderte berechnet gewesen. Eine futuristisch inspirierte Voraus-Projektion – oder die schiere Lust am Überfluss?

Und diese Bordsteine erst! Siebenmeilenstiefel wünschte man sich, um ihrer stolzen Höhe gewachsen zu sein. Bei jedem Schritt hinauf oder herab muss das weiter westlich geeichte Geh-Werkzeug sich vor-sehen. Sonst bleibt es auf halber Höhe hängen und man rudert in der Luft ums Gleichgewicht. Besonders hart bestraft wird Unachtsamkeit bei Regen, wenn binnen Minuten zwischen Trottoir und Fahrdamm breite Wasserlachen entstehen. Da hilft auch Springen nichts. Die muss man umlaufen. Weit.

Ob bei Sonne oder im Regen: Dem Himmel ist immer reichlich Raum gelassen über diesen Straßen. So mancher klassizistische Palast aus dem neunzehnten Jahrhundert hat sich hier erhalten, breitet sich ins feingliedrig langgestreckte Flache. Ebenerdig, allenfalls ein Geschoß darauf – mitten im Herzen einer Millionenstadt. Heute mag darin eine Bierschwemme dampfen, oder giftblonde Verkäuferinnen stehen abwesenden Blicks auf ellenhohem Bleistiftstahl zwischen Bergen von Jeans und Baumwollhemdchen. Noch fühlt sich offenbar kein Immobilienhai herausgefordert, hier ein paar weitere Etagen draufzupacken.

Die Straßen dieser Städte wirken so gar nicht durchgerechnet, auf Rentabilität getrimmt. Die Sehnsucht nach Weite muss hier nicht auf Plakatwänden mit Zigarettenwerbung geködert werden („Test the East“). Hier ist sie wildwüchsig gebaute Wirklichkeit. Der Charme der Stadtgründung hält sich immer noch, von Flüchtigkeit, Provisorium, von Durchzug und Wanderlust, jener Unbedenklichkeit, mit der eine Handvoll Kosaken sich hier niederließen, im „Wilden Feld“, wie der brachliegende Landstrich östlich des Dnipro genannt war. Ihr Hetman rammte seine Lanze in den Boden, aber nicht, um den Platz für tausend Jahre abzustecken. Man blieb an diesem Ort, versuchsweise, wollte den nächsten Winter überstehen, wenn’s gut ging, vielleicht auch zwei.

In den ukrainischen Städten wird es Bild: Das Licht Europas, seine Idee von mondialer Weite. Es kam seit je aus dem Osten. In diesen Straßen spürt man es, schauend, gehend, stolpernd, wie die Seele sich weitet, wie sich etwas in einem hebt, bis auf den heutigen Tag. Dieses beinah vergessene Glück von Weite.

Serhij Zhadan trifft den Ton der Generation zwischen Kommunismus und Kapitalismus

Seit 2007 sind in rascher Folge auf dem deutschen Markt (bei Suhrkamp) vier Erzählbände von Serhij Zhadan erschienen, alle um die 200 Seiten lang. Mit hohem Tempo, manchmal atemlos hingeworfen, mit dem ganzen Temperament von Jugend, sind darin die Veränderungen festgehalten, die sich in seinem Land seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Gründung des Staates Ukraine um 1990 ereignen. 2013 wird sein fünfter Prosaband auf Deutsch erscheinen, „Die Erfindung des Jazz im Donbass“. In der Ukraine ist der Roman 2010 unter dem Titel „Woroschilowgrad“ erschienen, dem fiktiven Namen für Starobilsk, der Stadt von Zhadans Kindheit, zwischen Charkiw und Donezk gelegen, einen Steinwurf von der russischen Grenze.

„Depeche Mode“, sein erster Roman, mit dreißig Jahren geschrieben, reicht in die allerersten Tage der neuen Ukraine zurück. Erzählt sind die Erlebnisse von ein paar jungen Burschen, noch keine Zwanzig. Sie lungern in Charkiw herum, ohne Arbeit, ohne einen Groschen in der Tasche. Eigentlich suchen sie ja ihren Kumpel Zündkerze, der sich in einem Pionierlager verkrochen haben soll, in den Wäldern irgendwo. Sein Stiefvater hat sich erschossen, mit dem eigenen Gewehr, und das sollte er doch wissen.

Was aber tun, den ganzen lieben Tag lang, und die Nächte? Die Regeln, in denen diese Jugendlichen großgeworden sind, gelten nicht mehr. In ihren Familien so wenig wie in ihrer Stadt. Die sowjetische Industriestadt heißt nicht mehr Charkow, sondern Charkiw, und ist jetzt Teil des Landes Ukraine geworden. Fünfzig Kilometer jenseits gilt jetzt eine Grenze, zu einem Land namens Russland.

Mit der Nähe zu Russland lassen sich wenigstens Geschäfte machen, meinen die drei Jungen: Drüben Wodka kaufen, zwei, drei Kisten, so viel sie in der Eisenbahn transportieren können, und hier an den Bahnhöfen teuer verticken. Eine todsichere Sache. Wenn sie nicht unterwegs selbst Durst bekämen auf ihre frische Ware und Flasche um Flasche in ihren eigenen Hälsen verschwinden ließen. Besoffen, ausgeraubt von anderen Schmugglern und mit blutigen Nasen, landen sie zu Hause wieder bei Null. Die Großmutter, mit dem wertvollen Invalidenausweis vom letzten Krieg, der immer noch viele Türen öffnet, hilft ihnen wieder mal aus dem Gröbsten heraus. Sie machen kleine Brüche, sitzen nachts stundenlang im Regen auf dem Dach einer Lagerhalle, bis sie einsteigen können. Doch in dem schweren Karton, den sie zu dritt dann endlich abschleppen, befindet sich die Büste von Molotow, mit Schnauzbart.

Bei dem Versuch, diese Ikone einer zertrümmerten Epoche zu versilbern, klappern sie ihre Stadt ab und geraten in alle möglichen Zonen einer Gesellschaft, die keinen Rand mehr kennt und keine Mitte. Bei Marusja, der Tochter eines sowjetischen Generals aus dem Kaukasus, finden sie immerhin Wodka. Und dann sitzen sie in der eleganten Stadtwohnung beisammen und dröhnen sich voll. Das Mädchen Marusja, „an Molotow geschmiegt, zwei unglückliche, zugekiffte Wesen – Marusja in löchrigen Jeans und einem Rolling-Stones-T-Shirt, und Molotow, ZK-Mitglied, alter Hedonist und Cocktail-Liebhaber.“

Weiter, mit der Büste des Sowjet-Bonzen. Sie geraten in einen Gottesdienst von Hochwürden Johnson-und-Johnson, Publikumsmagnet aus Amerika (Westküste), Führer der Kirche Jesu (vereinigt), im schneeweißen Hemd, eine goldene Rolex am Handgelenk. Der braucht auch keinen Molotow. In der Roma-Siedlung ihrer Stadt versuchen sie dem Dealer Jurik (mit dem Weißen Star im linken Auge) Stoff abzuluchsen, weil ihnen der Wodka aus den Ohren kommt. Vollgepumpt „mit Tabak und Shit, Fusel und Spiritus“, finden sie ihren Kumpel Kakao, den „Donbass-Intellektuellen, in der Prachtwohnung des schwulen Journalisten Goscha, Chefredakteur unserer hippsten Zeitung“. Auch der hat leider keine Verwendung für die Molotow-Büste.

„Das ist das größte Geheimnis unserer Zivilisation, die Gesellschaft frisst sich selbst“, sinniert einer von ihnen. „Sie wird immer fetter und versinkt unter dem Gewicht des Silikons, mit dem sie sich vollstopft.“

Überhaupt wuchert in den Köpfen der Neunzehnjährigen allerlei Theoretisches, reichlich unterfüttert mit postsozialistischem Gedankenmüll. Zwischen „Morgensuff und Abendkotze“ philosophieren die versprengten Jugendlichen über die „Theorie des permanenten Piep-Schnurzismus“, wie er von den Genossen des Donezker Gebietskomitees entwickelt worden sein soll: „paradiesische Melodien für Invaliden und Geistesschwache“.

Als sie am Ende ihres irrlichternden Streunens endlich den gesuchten Freund „Zündkerze“ in den Wäldern ausfindig gemacht haben, verzichten sie, ihm die Nachricht vom Selbstmord des Stiefvaters auszurichten. Den interessiert nichts mehr, was draußen geschieht. Er scheint sein Ziel gefunden zu haben. Er will ein Sägewerk bauen.

„Die Taiga abholzen. Schau nur die vielen Bäume. Genug für ein ganzes Leben.“

Für einen ukrainischen Leser, zumal im Osten des Landes, hat Serhij Zhadan mit diesen aberwitzigen Geschichten, zumal bei jungen Lesern, den Ton getroffen: der Generation zwischen Kommunismus und Kapitalismus. Jahrgang 1974, dürfte seine Resonanz inzwischen die des vierzehn Jahre älteren Juri Andruchowytsch (aus dem westukrainischen Iwano-Frankiwsk) hinter sich gelassen haben. Beide eint, was ihnen so wichtig ist wie ihren Lesern: Sie schreiben ihre Bücher auf Ukrainisch.

Im Literaturmuseum der Stadt

Gleich am ersten Morgen mache ich in meinem Hotel einen kleinen Sprachtest. Es ist das „Intourist“ aus sowjetischen Tagen, am breiten Lenin-Proskekt gelegen. Jetzt heißt es „National“. Den jungen Saaldiener im Foyer frage ich, was „Guten Morgen“ heiße. Er schaut mich groß an.

„Dobre utra“, sagt er, auf Russisch.

Aus dem Hintergrund ruft vom Schalter eine Frauenstimme herüber: „Dobrohu ranku, dobrohu ranku!“ Das ist Ukrainisch.

Der Angestellte steht jetzt noch verwirrter da, wirkt überfordert von der Situation. Ich könne auch „Hello“ sagen, meint er.

„Dobrohu ranku!“ lässt die Stimme aus dem Hintergrund nicht locker.

Ich habe verstanden und mache mich auf den Weg ins Literaturmuseum der Stadt. Der Altbau im Zentrum ist ein Hort der ukrainischen Literatur. Er hat eine beißend böse Geschichte hinter sich, in den Breiten des ehedem kommunistischen Herrschaftsgebiets allerdings keine Seltenheit. Sie ist selbst schon wieder literaturwürdig.

1932 ist das Museum gegründet worden, als Charkiw noch Hauptstadt der Ukraine innerhalb der sich formierenden Sowjetunion ist, als Sammelstelle aller ukrainischen Literatur seit dem 18.Jahrhundert. Die Eröffnung fällt in die Zeit der stalinistischen Säuberungsprozesse des NKVD. Die frisch aufbereiteten Dokumente des Hauses können gleich vor Gericht als Beweismaterial gegen unliebsame Autoren genutzt werden. Angeklagt sind Schriftsteller aus der sozialistischen Aufbruchszeit zwischen 1920 und 1930, die inzwischen hierzulande als „Exekutierte Renaissance“ bezeichnet wird. Diese schlimme Epoche, reich an den Wänden mit Schwarz-Weiß-Fotos der Zeit dokumentiert, gehört zu einem Sammlungsschwerpunkt des Hauses heute.

Die Leiterin Irina begrüßt auf Russisch. Dann übernimmt eine junge Wissenschaftlerin die Führung. Sie hat die aktuelle Ausstellung über Hryhorij (Gregor) Skoworoda eingerichtet, den wichtigsten Philosophen des Landes aus dem 19.Jahrhundert. In vor-digitaler liebenswürdiger Handarbeit sind Schrifttafeln und Vitrinen in drei, vier hohen Räumen zu sehen, mit geringen Mitteln hergestellt. Die junge Frau entschuldigt sich bei Igor, dem Übersetzer, dass sie auf Ukrainisch spreche. Der zieht die Brauen in die Höhe. Dem Besucher aus dem Westen ist das sowieso einerlei.

Am Ende der Führung nimmt Igor mich beiseite. Seine Augen leuchten: „Sie hat ein wunderbar reines Ukrainisch gesprochen!“

Die Sprachenproblematik der Ukraine

Für einen Außenstehenden hat diese Sprachenproblematik der Ukraine durchaus etwas Verstörendes (sofern er sie überhaupt wahrnimmt). Obwohl sie in die unscheinbarsten Situationen des Alltags hineinbricht, bin ich niemals auf eine schlüssige Erklärung gestoßen, gar eine Prognose, auch bei den schreibenden Kollegen nicht. Es werden die widersprüchlichsten Beispiele angeführt, aus der Geschichte des Landes (je nach der Gegend, aus der der Gesprächspartner stammt), gefühlvolle Erinnerungen an die Großmutter, mit der zusammen die wunderschönen ukrainischen Volkslieder gesungen wurden, Reminiszenzen an Schul- und Universitätszeit. Ich spüre: Da ist etwas ungeheuer Wichtiges, aber den klaren begrifflichen Zugriff vermisse ich jedes Mal. Der Sprachenstreit löst sich bei dem Einzelnen auf in einen Schwebezustand des Fühlens und Meinens, dem ich mit all meinem Fragen (für mich) niemals auf den Grund gekommen bin. Bis bei mir die Erkenntnis durchbrach: Genau dieses Schwebende macht die Problematik aus, die dieses „Land der Grenze“ seit Jahrhunderten, durch die groben Mühlen der jeweiligen Machtpolitik getrieben, in Atem hält und weiter halten wird.

Wie anders sollte denn auch ein einzelner Mensch in seiner Zeit je damit umgehen? Ein schlüssiger Lösungsvorschlag, auf den Prinzipen von Vernunft gegründet, könnte sich da nur lächerlich machen. Das endlos verschlungene Wurzelwerk der Geschichte ist auszuhalten. Und nicht nur in der Ukraine …

Das Gosprom-Gebäude am Freiheitsplatz & das schwierige Verhältnis zu Russland

Vor dem Gosprom-Gebäude, einer Inkunabel der modernen Architektur, zwischen 1925 und 1928 hochgezogen als erste Stahlbetonkonstruktion der jungen Sowjetunion, erstreckt sich das gewaltige Rechteck des „Freiheitsplatzes“ mit seiner Lenin-Statue. Im Juni 2012, in den Tagen der Fußball-Europameisterschaft, die auch in Charkiw Station machte, im Stadion „Metallist“, war der Platz als „Fan-Meile“ ganz in Orange getaucht, die Farbe der hier aufspielenden Holländer. Mehr als ein Bürger der Stadt wird sich dabei an den Spätherbst 2004 erinnert haben, an die „Orangene Revolution“.

Auch damals war hier, unter den Augen des mächtigen Lenin, das Zentrum der hoffnungsfrohen Erneuerungsbewegung gewesen, mit Informationsständen, Transparenten, Fahnen, euphorisierten jungen Menschen. Eine der Protagonisten der „Orangenen Revolution“, Julia Timoschenko, wird bis heute, fünf Autominuten von hier, in einem Krankenhaus festgehalten. Auf mein ständiges Nachfragen über die politische Einschätzung dieser Frau bekomme ich immer die gleiche Antwort: Ein Redeschwall ohne Inhalt. Allenfalls ist herauszuhören, dass keiner sie vermisst. Man ist wieder vorsichtiger geworden gegenüber neugierigen Ausländern. Schwer fällt das den Menschen hier nicht. Wortreiches Verschweigen war schließlich in sowjetischen Tagen zu hoher Kunstfertigkeit entwickelt. Das hält vor für Generationen.

Friedensplatz, Foto: Wikipedia, Shmuliko

Gesprächiger werden meine Bekannten, wenn es um das Vergangene geht, lange Zurückliegendes. Die deutsche Wehrmacht, erzählt mir Igor, als sie im Zweiten Weltkrieg die Stadt besetzt hielt, bis 1943, habe versucht, den Gosprom-Bau zu sprengen. Aber alle ihre Versuche („mit deutscher Gründlichkeit“, lächelt er), seien gescheitert. Denn die Bauarbeiter hatten seinerzeit den Beton mit ihren Füßen festgetreten. Darum hielt er allen Sprengladungen stand. Das sind die Geschichten, die man hier erzählt bekommt, nicht nur von den Älteren. Der Mythos des ukrainischen Widerstands – und Überlebenswillens ist bei den Menschen hier in jedem Alter lebendig und macht sie stolz. Und stolz sind sie auch auf diesen hochmodernen Bau aus den späten zwanziger Jahren, vollkommen zu Recht. Den Architekten war damit ein Bau von zeitloser Schönheit gelungen. Ein flüchtiger Betrachter heute könnte ihn für einen gigantischen Bürokomplex unserer Tage halten. So ziert er auch die bemalten Schmuckteller aus Holz, die hier gern als Gastgeschenke verteilt oder in Andenkenläden angeboten werden. Dass die Architekten und Ingenieure aus Leningrad stammten – wen kümmert es.

Diese Mischung aus Überempfindlichkeit und großzügigem Wegsehen in diesem Land macht mich immer wieder sprachlos. Auch nach mehreren Besuchen habe ich dazu keinen Schlüssel gefunden. Mittlerweile bin ich fast sicher: Es gibt gar keinen.

Diese Furcht vor der politischen und kulturellen Dominanz des großen Nachbarn im Osten: Der Gedanke einer vormodern russisch-orthodox dominierten Gemeinschaft aller Slawen – Russen, Weißrussen und Ukrainer – sei in Russland bis heute wirkmächtig geblieben, behauptet der ukrainische Schriftsteller Mykola Rjabtschuk, und er vergleicht diese „quasi-sakrale messianische Idee“ mit der islamischen „Umma“ des Mittelalters. Nach Rjabtschuk betreibt der derzeitige Präsident Viktor Janukovitsch, der aus dem Donbass stammt, dem industriellen Ballungszentrum mit seinem hohen Anteil an russischer Bevölkerung, für die Ukraine gezielt die „Rücksowjetisierung“ und Russifizierung des symbolischen Raumes. Das Schulwesen, die Hochschulen, Radio und Fernsehen und damit der gesamte öffentliche Diskurs sollten wieder uneingeschränkt russisch sein

Diese Idiosynkrasien scheinen mir grundlegend zu sein für das „Land auf der Grenze“. Mit ihnen müssen die Ukrainer leben, und ihre Nachbarn auch, nicht nur die im Osten. Gerade wir aus den westlichen Regionen müssen da noch das eine oder andere zur Kenntnis nehmen (wollen). Literatur ist dafür nicht das schlechteste Medium.

Zhadan, Foto: Macie3k, CC 2.0 Wikipedia

Zhadans genaue Gesellschaftsbeschreibung der neuen Ukraine

Im nächsten Geschichtenpanorama Serhij Zhadans, „Hymne der demokratischen Jugend“ (ukrainisch 2006, deutsch 2009), sind die Protagonisten zehn Jahre älter geworden – und ihre Gesellschaft. Mit ihren gerade dreißig Lebensjahren machen sie ihre ersten Berufserfahrungen in einer kapitalistisch gewordenen Welt. Die frischen „bisnesmeni“ gründen ihre Unternehmen. Mit großem Erfindungsreichtum parodiert Zhadan die aberwitzigsten Geschäftsideen seiner gleichaltrigen Landsleute, wie sie die kapitalistische Wunderwelt nutzen wollen, um die schnelle Grywnja zu machen: In einem ehemaligen Grill-Imbiß wird ein Schwulenclub errichtet (Originalton für die „schwulen Socken“). Doch bereits am Eröffnungsabend geht das Etablissement bei einer Schlägerei im Vollrausch zu Bruch.

Auch der Schmuggel von inneren Organen über die EG-Grenze oder die Verfilmung der Bibel in Gebärdensprache enden im Desaster. Mit der Beschreibung, wie die Oschwanz-Brüder ein Krematorium auf die Beine stellen wollen (es muss natürlich „House of the Deads“ heißen), gelingt dem Erzähler, grotesk verzerrt, wohl die genaueste Gesellschaftsbeschreibung der neuen Ukraine. Die Stadtverwaltung wird einbezogen, mittels reichlich Schmiergeld, um für ihr Krematorium den Ausweis der Gemeinnützigkeit zu erschwindeln. Auch die Kirche wird ins Boot geholt. Sie soll die Räume einsegnen (Vater Lukitsch kommt dazu im roten BMW vorgefahren, den er bei seinem Gebet keinen Augenblick aus den Augen lässt).

Natürlich ist das ganze Projekt eingebaut in die Phraseologie modernen Marketings. Im Geschäftskatalog wird ein „flexibles Rabattsystem für Stammkunden“ angeboten, neben anderen “rituellen Accessoires“: „In unserer gemütlichen Kapelle auf europäischem Niveau können Sie immer ein paar unvergessliche Stunden verbringen.“ Man muss sich in Charkiw nur ein paar der Geschäftskomplexe anschauen, pünktlich zur Fußball-Europameisterschaft in neureichem Groß-Protz hochgezogen, um zu sehen, wie nah der Autor mit seiner „Hymne der demokratischen Jugend“ an der aktuellen Wirklichkeit seines Landes ist.

Larissa, die Kulturverwalterin von Charkiw

Larissa, in ihren Vierzigern, ist Angestellte der Stadtverwaltung von Charkiw, zuständig für Kultur. Von ihrem Dienstzimmerchen schaut sie auf den riesigen Freiheitsplatz herab, der immer leer wirkt, auch wenn viele Menschen darauf sind. Sogar den Lenin auf seinem Sockel kann sie sehen. Mit einer Hingabe, die jeden Acht-Stunden-Takt außer Acht lässt, verfolgt sie die Projekte, die sie zu betreuen hat. Die Entlohnung dafür ist so gering, dass es nicht zum Leben reicht, und außerdem wird sie noch unregelmäßig ausgezahlt. Mehr als die Miete springt kaum heraus dabei.

„Das Leben ist schwer für uns – sehr schwer“, sagt Larissa und hebt ihre Schultern. „So ist das nun mal.“ Mehrere Begegnungen, lange Gespräche, über Jahre, hat es gebraucht, bis so viel Vertrauen zwischen uns hergestellt ist, dass die Scham der Armut in den Hintergrund treten kann, die Scheu nationaler Vorsicht, die doch in jedem von uns steckt, tiefer als wir es meinen.

Sie lebt, sagt sie, ganz wesentlich vom Garten ihrer Eltern, zwei, drei Autostunden südlich der Stadt. Die Eltern, im Rentenalter, haben sich nach einem Arbeitsleben auf ihre Datscha zurückgezogen und holen sich aus der Erde, was sie zum Leben brauchen. Das reicht für sie, und das reicht für ihre Tochter mit. Regelmäßig bringt ihr der Vater Kartoffeln nach Charkiw, Gemüse, Obst. Und Blumen – selbstverständlich. „Blumen gehören doch zum Leben!“ Honig, Marmeladen, selbst Wein und Wodka. Alles selbstgemacht, von eigener Hände Arbeit. Und Larissa teilt gerne aus davon, an ihre Gäste, die Freunde. Es kommt mir vor, als hätte ich nie einen weicheren Wodka getrunken, einen fruchtigeren Wein.

Doch der Garten gibt nicht nur, er fordert auch. In ihren Ferien hilft Larissa den Eltern bei der Arbeit draußen. Auch eine Einladung nach Deutschland muss sie einmal absagen, weil er in den späten Sommer fällt – Erntezeit.

Nach einer Lesung, zu der sie mich begleitet hat, kommen wir zurück. Sie öffnet die Wohnungstür und jubelt auf: „Mein Vater ist da!“

Auf dem Sofa sitzt ein alter Mann, klein und stämmig. Von seinem Händedruck kann ich lange zehren. Nur die leise Spur eines Lächelns um den Mund. Dieselbe Kraft der Hand auch in seinen Augen. Klar sind sie, hell, wie alle hier, und voller Ruhe. Ein stiller Mensch. Nicht nur zu dem Fremden, auch zur Tochter sagt er wenig.

Er setzt sich wieder, die kräftigen Hände auf den Knien, und schaut uns an. Nicht neugierig, ausforschend. Er nimmt uns wahr. So hat er auch dagesessen, vor dem Strauß mitgebrachter Astern, als er auf seine Tochter wartete. Dagesessen und vor sich geschaut. Kein Fernsehgerät läuft, kein Radio, kein Buch liegt aufgeschlagen. Er hat auch nicht geschlafen. Saß einfach da und wartete, wartete auf Larissa. Bis sie da war.

Sie umarmt noch einmal den kleinen runden Mann, wie einen Geliebten so heftig. Und ihre Augen glänzen.

„Ach, mein Vater …“, sagt sie, den Tränen nah. „Dass ich meine Eltern habe, das ist Glück“, und schüttelt dabei den Kopf, als fasse sie es nicht.

Ein neues literarisches Milieu, mit einem blutjungen Publikum

Gerade für sein überwiegend junges Publikum (in Charkiw gibt es 300.000 Studenten, an mehreren Hochschulen) ist es von entscheidender Bedeutung, daß Serhij Zhadan seine Texte auf Ukrainisch schreibt. Wie ernst es ihm damit ist: Inzwischen hat er auch seinen Namen ukrainisiert. Bei unserer ersten gemeinsamen Lesung, 1998 im Literaturmuseum von Kiew, stand noch „Sergij“ auf dem Programm – wie wichtig manchmal ein einziger Buchstabe sein kann.

Damals, 1998, hatte es vor einem ältlichen, noch weitgehend sowjetisch geprägten Publikum, eine erregte Diskussion gegeben, weil die deutschen Autoren so gut wie alle Verse ohne Reim vortrugen. Die ukrainischen Autoren rezitierten, ohne Ausnahme, gereimte Gedichte, auswendig gesprochen, mit gehobener Stimme und geschlossenen Auges. Mittlerweile schreibt Serhij Zhadan seine Lyrik ebenfalls längst in freier Rhythmik (auch auf Deutsch veröffentlicht. Sein Gedicht „Hotel Business“, das er in Berlin geschrieben hat, wurde bereits 2004 im „Merkur“ zitiert). Das heißt allerdings nicht, dass er nicht hin und wieder auch noch gereimte Gedichte schreibt. Dazu sitzt einem ukrainischen Schriftseller der Dichter Taras Schewtschenko zu tief im Blut, auch heute, trotz aller Öffnung zu den westlichen Literaturströmungen, die in den neunziger Jahren für das hiesige Publikum noch exotisch klangen und auf Widerstand stießen.

In den letzten Jahren aber hat sich auch in der ukrainischen Literatur das Blatt gewendet, natürlich zuerst bei den jüngeren Autoren. Längst hat sich hier ein neues literarisches Milieu herausgebildet, mit einem blutjungen Publikum. Nicht nur Zhadan, auch Juri Andruchowytsch oder Ivan Prochaska, aus Lemberg, schreiben ihre Bücher auf Ukrainisch, und sie sind alle drei mehrfach ins Deutsche übersetzt – wie natürlich auch ins Russische). (Eine Ausnahme macht der auch in Deutschland oft gelesene Andrej Kurkow, aus Kiew, aber im damaligen Leningrad geboren, der seine Bücher weiter auf Russisch verfasst.)

Unterhalb dieser prominenten Leuchtsterne gibt es eine breite Schicht literarisch schreibender Menschen, gerade unter den Jungen, die an den Urvater ukrainischer Literatur, Taras Schewtschenko, anschließen (1814-1841). Er war der erste, der für seine Lieder, zum größten Teil in zaristischen Gefängnissen und Lagern verfasst, die Sprache seiner Heimat benutzte – anders als Mykola Hohol, aus Poltawa, der als Nikolaj Gogol auf Russisch veröffentlichte, in der Sprache des politisch und kulturell dominierenden Nachbarn.

Für einen deutschen Leser, dem das Ringen dieses Landes um seine sprachliche Identität weitgehend fremd bleibt, liegt der Reiz von Zhadans Prosa aus einer immer noch fernen Region Europas in seiner rotzfrechen Sprache. Gegenüber der politisch durchreglementierten Vokabelwelt unserer Breiten, in der der kleine ägyptischstämmige Ismail aus Iserlohn zu einem „Jugendlichen aus muslimisch geprägten Sozialkontexten“ herunterbotanisiert wird, liest sich die unkorrekte Direktheit von Serhij Zhadan durchaus befreiend. Ich habe oft meine Freude daran gehabt, seine ungehobelten Kraftausdrücke, für mich in unseren keimfreien Sozialarbeiterjargon zu übersetzen.

Von einiger Wichtigkeit für die Zukunft in einem noch zu schaffenden kulturellen Europa scheint es mir, das sich die führenden Literaten der Ukraine heute an der deutschen Sprache ausrichten. Sowohl Andrychowytsch wie Zhadan sprechen hervorragend Deutsch, und mit ihnen viele, die heute noch keinen Namen haben. Diese beiden häufig übersetzten Autoren sind zudem oft unterwegs in unserem Sprachraum, in Deutschland, Österreich, in der Schweiz. Damit sind sie die besten Botschafter eines Landes, das es bei uns noch zu entdecken gilt – mit großem Gewinn.

Spannende Autoren sind die besten Botschafter eines Landes

Auf der Rückreise nach Deutschland nähert sich der Zug der ukrainisch-polnischen Grenze. Ein Zöllner reißt die Tür meines Abteils auf, ich bin allein. Die meisten Reisenden sind vorher ausgestiegen. Er schaut mich eine Weile an, sagt kein Wort.

„Alte Bücher? Ikonen?“ fragt er irgendwann.

Ich lache ihn an, zeige auf den kleinen Handkoffer. „Ich Lesungen in der Ukraine“, kratze ich meine (russischen) Vokabeln zusammen.

Vollkommen ausdruckslos die hellen Augen in seinem runden Gesicht. Sie verraten mir nichts. Eilig hat es der Zöllner nicht, hier im Niemandsland.

„Das frage ich nur“, sagt er endlich, auf Deutsch. Dann rammt er die Tür zu zwischen uns. Verschwunden. Kehrt nicht wieder.

War das eine Art Entschuldigung? Ich habe Muße genug, über diese vier Worte zu fabulieren, zumal es draußen, in diesem Ödland, wirklich nichts zu sehen gibt.

„Das frage ich nur“, wiederhole ich und setze für mich seine Rede fort. „Das frage ich nur. Aber ich meine es nicht. Es ist meine Pflicht, Ihnen diese Frage zu stellen. Sie müßten den Unterschied doch kennen, Sie Literat, zwischen Sagen und Meinen ….“.

Mir gefällt diese Möglichkeit von Nähe, über die Fremdheit von Sprachen und Kulturen hinweg. Vielleicht ist dieser Zöllner sogar ein Leser. Nach meinen Erfahrungen in der Ukraine, dem „Land der Grenze“, ein durchaus realistischer Gedanke.

Ein Abschied jedenfalls, wie er im Buche steht. Und Lust macht, wiederzukommen.

Michael Zeller

Michael Zeller hat Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays verfasst. Sein letzter Roman „Falschspieler“ erschien 2008 zuerst unter dem Pseudonym „Jutta Roth“ als angebliches Debüt einer 1967 geborenen Autorin. Zur Homepage des Autors geht es hier. Copyright des Textes: Michael Zeller.

Tags : , , ,