1 Kunstpostkarte, 1 Woche, 1 Kolumne, 1 Jahr lang: Ab Juni erscheint bei CULTurMAG wöchentlich für ein Jahr Michael Zellers SEH-REISE in zweiundfünfzig Ausfahrten, ein „Tagebuch in Bildern”: Betrachtungen zu Kunst und Leben, von den ägyptischen Pharaonen über die griechisch-römische Antike und das Mittelalter bis in die unmittelbare Gegenwart. Heute: Ernst Barlach: Russische Bettlerin. (Alle Folgen hier).
Siebzehnte Ausfahrt
Das plastische Bildnis eines Menschen, das die Schönheit seines (unseres) Körpers feiert und steigert, indem sie alles Unwesentliche, bloß Individuelle auslässt. Die Umrisslinie einer Person vom Kopf bis zu den Füßen verhüllt, auch ihre Geschlechtlichkeit bleibt offen. Mund und Nase des tiefgesenkten Gesichts unter dem Tuch nur zu ahnen. Lediglich die weit vorgestreckte linke Hand, die Füße zeigen sich nackt.
Halb sitzt, halb liegt sie, die Person, ganz auf Profil gearbeitet. Vorgestreckt an langem Arm die hingehaltene offene Hand, die erst auf den Füßen Halt findet. Hier gibt jemand sich selbst aus der Hand. In einer Gegenbewegung der Oberkörper der Person: eine gerundete Linie, vom Scheitel bis zum Sitz, eine Kurve der Demut, flach, geduckt. Hier gibt sich jemand selbst aus der Hand. Das Haupt tief gesenkt (rund unterm Gewand wie ein Pfeifenkopf), dass es fast auf das Knie zu liegen kommt. Gerundet wie eine Frucht, dieser Mensch. Nur die nackte, die offene Hand ragt darüber hinaus. Ihre Finger reißen, ganz still, von innen die stilisierte Geschlossenheit des Menschenkörpers auf, im Gestus des Heischens, des Bittens.
Dennoch kann sie sich, trotz ihres stummen Pathos‘, kaum behaupten gegenüber der ästhetischen Vollkommenheit der Umrisslinie. Die Oberfläche der Plastik – ob Marmor oder Holz, kann ich auf meiner Fotokarte in Schwarz-Weiß nicht entscheiden – ist poliert, dass sie glänzt. Man möchte mit der Hand über ihre schmeichlerische Glätte fahren.
Der Bildhauer hat seiner Plastik von 1907 den Titel „Russische Bettlerin“ gegeben. Die Armut ist ausgelagert aus Deutschland, nach Russland, wie damals im westlichen Europa häufig, zehn Jahre vor der bolschewistischen Revolution. Warum fällt es mir heute so schwer, der Armut dieser Person zu glauben? Gar zu stilisiert, zu glatt, zu glänzend trägt sie sich vor sich her – wie eine theatralische Geste. Diese Armut ist zu schön, um wahr zu scheinen. Ich habe den eleganten Schwung ihres Abbildes während der Woche, die es in meiner Küche hing, zu sehr genossen, um auch nur für eine Sekunde Hunger zu spüren, Kälte, Erniedrigung.
Die Bildkarte der „Russischen Bettlerin“ von Ernst Barlach ist, gegen meine Gewohnheit sonst, datiert, auf den 8. Juni 1972. Auf den Tag vor bald vierzig Jahren habe ich sie in Lübeck gesehen. Damals studierte ich Literatur an der Universität Bonn und steckte mitten in meiner Doktorarbeit – über Thomas Mann. Es war höchste Zeit geworden, mich endlich in sein Lübeck zu begeben und dort die Luft seiner Kindheit und frühen Jugend zu atmen, die Örtlichkeiten von „Buddenbrooks“, seinem ersten Roman, mit eigenen Augen in natura zu sehen.
Unterkunft fand ich in der Jugendherberge, und wenn ich heute an die Tage in Lübeck zurückdenke: Es ist nicht Barlachs russische Bettlerin – am lebendigsten ist das Bild von D. geblieben, ein stilles Mädchen aus Gelsenkirchen, mit sehr heller Haut, das ich dort kennenlernte. Die Nähe zwischen Gelsenkirchen und Bonn war uns günstig. Es entwickelte sich eine heftige Liebesbeziehung zwischen uns, in gegenseitigen Besuchen. Der Leidenschaft war keine längere Frist gegönnt. Leidenschaft und Dauer wohnen auf verschiedenen Sternen. Sie berühren sich für eine kurze Weile und lösen sich bald im Kosmos wieder auf, um weiter auf ihren eigenen Bahnen zu ziehen. Vielleicht sind deshalb diese Begegnungen das reinste Glück, das für den Menschen im Leben abfällt.
Ein Bogen zurück zu Ernst Barlach will der Erinnerung nicht gelingen.
Michael Zeller
Ernst Barlach: Russische Bettlerin, 1907. Behnhaus, Lübeck.
Michael Zeller hat Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays verfasst. Sein letzter Roman „Falschspieler“ erschien 2008 zuerst unter dem Pseudonym „Jutta Roth“ als angebliches Debüt einer 1967 geborenen Autorin. Zur Homepage des Autors geht es hier. Copyright des Textes: Michael Zeller.