Geschrieben am 10. April 2013 von für Litmag, Zellers Seh-Reise

Michael Zellers Seh-Reise (36): Rochusfigur

1 Kunstpostkarte, 1 Woche, 1 Kolumne, 1 Jahr lang: Ab Juni erscheint bei CULTurMAG wöchentlich für ein Jahr Michael Zellers SEH-REISE in zweiundfünfzig Ausfahrten, ein „Tagebuch in Bildern”: Betrachtungen zu Kunst und Leben, von den ägyptischen Pharaonen über die griechisch-römische Antike und das Mittelalter bis in die unmittelbare Gegenwart. Heute: Eine Rochusfigur. (Alle Folgen hier).

Rochus

Sechsunddreißigste Ausfahrt

Rochus – mein Rochus.

Wie viele Abbildungen habe ich gesammelt von dem Pestheiligen, zu allen Epochen, aus den meisten europäischen Ländern. Einige illustrieren die Schrift, die ich 1989 herausgebracht habe: „ROCHUS. Die Pest und ihr Patron“ Doch auch heute noch, zwanzig Jahre danach, lasse ich mir keinen Rochus entgehen, wo immer er die Hand auf seine todbringende Beule legt.

Diese besonders schöne Rochus-Figur fand ich in New York, in einem meiner liebsten Museen, den „Cloisters“, in Manhattan oben, auf den Hügeln über dem Hudson, wo erlesenes europäisches Mittelalter den Menschen der Gegenwart gezeigt wird, als eine ferne, fremde Lebenswelt. Die Plastik stammt aus der Normandie. Zu Anfang des 16.Jahrunderts ist sie geschnitzt und farbig gefasst worden, als eine neue Pestwelle über das „Abendland“ hinwegfegte, von Schottland quer über den Kontinent bis nach Russland und herab auf den Balkan.

Im Gewand eines Jakobspilgers zeigt die Holzplastik alle Attribute seiner Leidensgossen mit Namen „Rochus“ vor. Er ist der Reisende von weither, ein Wanderer: Sein breitkrempiger Hut mit den gekreuzten Schlüsseln, der Stab zum Ausschreiten in der Rechten (hier nicht mehr erhalten), die Wanderschuhe. Im Lederbeutel am Gürtel stecken seine wenigen Habseligkeiten. Die Linke, eine feingezeichnete Gelehrtenhand, liegt beinah vergessen auf der Pestbeule am Oberschenkel. Dorthin wurde sie von den Bildnern des Rochus, ob in Gemälde oder Plastik, gegen den medizinischen Befund aus einsichtigen Gründen verlegt (die Beulen brachen weiter oben an der Leiste aus). Hinter ihm apportiert der Hund dem kranken Pilger ein Brot: mehr Nahrung blieb dem Pestbefallenen nicht, der sich ja von den Menschen fernhalten musste, um sie nicht anzustecken. Der Hund war die einzige Verbindung des Totgeweihten mit den Gesunden.

Soweit entspricht die Arbeit des normannischen Holzschnitzers der festgeschriebenen Heiligenlegende des Rochus, wie sie der Venezianer Francesco Diedo im Wort gegründet hat: Rochus, in Montpellier als Sohn des Stadtfürsten geboren, bricht zwanzigjährig als Pilger auf, allein, nach Italien. Alle Städte dort sind von der Pest befallen, bis runter nach Rom. Rochus bleibt, wo immer er hinkommt, und pflegt die ausgestoßenen Kranken. Bis er selbst von der Seuche erfasst wird. Doch er kommt durch und kehrt in seine Heimat zurück, nach Montpellier. Keiner erkennt ihn mehr. Er wird als Spion verdächtigt und landet im Gefängnis. Erst als er in seiner Zelle stirbt, mit zweiunddreißig Jahren, spricht sich herum, wer er gewesen sei. Sofort, so will es die Legende, wird Rochus als der wunderheilende Retter vor der Pest verehrt. Rasch verbreitet sich sein Kult, über den gesamten Kontinent. Die Not der Menschen ist groß, Hilfe nirgendwo zu sehen.

In dem elegant geschnittenen Reiserock, kostbar in Rot und Gold gefasst, zeigt der New Yorker Rochus sich als ein Mann von fürstlichem Stand, so vornehm wie selten sonst. Auch das Motiv leichten Schreitens, geradeaus, auf den Betrachter zu – die Holzplastik muss ebenerdig angebracht gewesen sein – , ist von dem spätgotischen Holzschnitter aus Frankreich ausgesprochen delikat behandelt. Sanft in der Hüfte abgeknickt, kommt die Bewegung langsamen Gehens aus dem Oberkörper dieses feingliedrigen schlanken Mannes. Ein fürstlicher Vertreter der Zunft der Pestheiligen. Eine solche Noblesse habe ich so selten gesehen bei einem Rochus.

Sein Kopf mit dem Vollbart unter hohen Wangen, das asketisch schmale Gesicht mit der langen graden Nase ähnelt stark der Rochusgestalt, mit der ich ausgewachsen bin und die mich bis heute begleitet. Die beiden Köpfe sind sich so ähnlich, als seien sie aus einem Stamm geschnitzt. Wie diese Plastik in unsere karge Mansarde geraten ist, in der wir direkt nach dem Krieg Zuflucht fanden, blieb mir verborgen. Es hat jedenfalls Zeiten gegeben, da ich sie mit ihren achtzig Zentimetern kaum überragt haben kann. Jetzt bewacht sie seit Jahrzehnten – auch jetzt – mein Schreiben.

Ein schönes vollplastisches Stück, leider vollkommen abgebeizt, aus Lindenholz. Die Wangenknochen meines Rochus liegen, ähnlich seinem normannischen Bruder, hoch über dem Vollbart in einem ausgearbeiteten Gesicht. Der Schmerz um die leicht geöffneten Lippen hat mich als Kind nie in Ruhe gelassen. Es hat mir gegraut vor dem Anblick, aber ich habe es immer auch gesucht, das süße Gift. Es muss mir etwas Fremdes vom Leben gezeigt haben, das mich fesselte, gerade weil es über mein Begreifen ging. So wie die Wunde auf seinem Oberschenkel, aus der dick der Eiter quoll und immer noch quillt, seit Jahrhunderten. Einen Ernst nahm ich wahr in dieser Figur, eine Sorge, ein böses Geheimnis auch. Obwohl ich von seiner Legende nichts wusste, wie keiner in der Familie.

Der Name Rochus klang dunkel und abgründig genug.

Erst dem Erwachsenen war es vorbehalten, dem Schriftsteller, sich auf die Spuren dieses Kindheitsrätsel zu setzen. Als in den späten achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts ein Klassenkamerad von mir an AIDS gestorben war, schrieb ich den Roman „Der Wiedergänger“, in dem die Geschichte der Pest im europäischen Mittelalter ein tragender Handlungsstrang ist. Ungesucht stieß ich dabei auf den Heiligen Rochus, seine Legende, seinen Kult, als der einzigen Hoffnung der Menschen damals, sich gegen die Seuche zu wehren, und geriet dabei tief in die eigene Kindheit hinein. Der Weg ist noch nicht zu Ende.

Und ich treffe sie überall wieder auf meinen Reisen. Nicht nur in Europa, auch in New York.

Michael Zeller

Rochus, aus der Normandie, nach 1500. Metropolitan Museum (Cloisters), New York.

Michael Zeller hat Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays verfasst. Sein letzter Roman „Falschspieler“ erschien 2008 zuerst unter dem Pseudonym „Jutta Roth“ als angebliches Debüt einer 1967 geborenen Autorin. Zur Homepage des Autors geht es hier. Copyright des Textes: Michael Zeller.

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