1 Kunstpostkarte, 1 Woche, 1 Kolumne, 1 Jahr lang: Ab Juni erscheint bei CULTurMAG wöchentlich für ein Jahr Michael Zellers SEH-REISE in zweiundfünfzig Ausfahrten, ein „Tagebuch in Bildern”: Betrachtungen zu Kunst und Leben, von den ägyptischen Pharaonen über die griechisch-römische Antike und das Mittelalter bis in die unmittelbare Gegenwart. Heute: Edgar Ende: Büßerinnen. (Alle Folgen hier).
Achtunddreißigste Ausfahrt
Dieses leuchtend rote Quadrat ist es gewesen, frontal in den Vordergrund gesetzt, das meinen Küchenblick für eine Woche auf sich gezogen hat. Es drängt sich aus dem Bildzusammenhang, ein Solitär, so selbstbewusst für sich, als brauche es das gemalte Drumherum gar nicht. Die Geschichte, die da erzählt wird, sei nur ein Alibi, um sein ganz und gar ungebrochenes Sein zu zeigen: Quadrat in Rot!
Fast wollte das Auge mir einreden, es seien zwei Bilder in dem einen: Das Quadrat und der Rest.
Und dabei ist es eine aufregende Geschichte, die Edgar Ende in seinem späten Bild anlegt hat und die ich gern für mich weitererzählt habe, jeden Tag eine andere Version. Ein gutes Ende nimmt keine.
Diese jungen Frauen mit den langen nackten Köpfen und Hälsen aus Holz sind Büßerinnen, wie der Titel es festlegt. Zahllos aufgereiht in einem Bogen, der sich in den verpesteten Horizont hinein verliert, knien sie Seite an Seite, die Hände brav auf den Block gelegt, als warteten sie auf den Schnitter, der ihnen den Kopf abschlägt. Holz würde splittern, Blut flösse keines. Oder schlafen sie lediglich, trotz des krachenden Gewehrs im Rücken, eines altmodischen Geräts aus vergessenen Kriegen? Hören sie es denn überhaupt – ohne Ohren? Hinreißend ihr grünes Kleid – fußlang und eng geschnitten, auf Figur. Mit den roten Pumps an den Füßen sind sie elegante, durchaus attraktive Büßerinnen, die eher auf eine Abendgesellschaft gehören als auf das Schafott. Wofür büßen sie, was haben sie verbrochen?
Der entgrenzte Raum, in dem die jungen Frauen knien, hat das böse Glühen einer Herdplatte. Blankgeputztes Ödland, nur ein paar Steine hingestreut, doch ordentlich, gezielt, als seien sie abgezählt. Es ist überhaupt alles steril reinlich, eine ordnende Hand hat das Szenario arrangiert. Hineingebrochen in die glühende Ebene ein zweites Quadrat vom gleichen Rot des Blockendes, perspektivisch sein Echo. Daraus ragt der schmale lange Lauf dieser urzeitlichen Flinte. Gerade hat er einen Schuss abgefeuert, über die Köpfe der Büßerinnen hinweg, und entlässt dabei rundes Gewölk, kompakt und dicht, als wolle es sich niemals auflösen.
Um das akkurat aus dem Erdinneren herausgeschnittene Loch breitete sich Schatten, der sich mit dem finsteren Himmel vereint, schwefeliger Dunst aus Grün und Braun und Grau. Auf der Grenze zum Horizont kommt noch ein giftiges Gelb dazu, wie fernes Wetterleuchten. Wer möchte diese verpestete Luft hier atmen müssen? Und auch das stählerne Blau, mit dem der Himmel sich in den oberen Bildrand hinein öffnet, trägt Drohendes in sich.
Der Maler Edgar Ende hat wirklich alles von seiner Palette gekratzt, dass diese Welt der Büßerinnen sich als ein apokalyptisches Gelände zeigt, wo auch nicht mehr ein Funke Hoffnung übrig bleibt. Alles ist hergerichtet auf das Trostloseste. So könnte die Erde aussehen, wenn der Mensch sie verlassen hat, nach dem finalen Urknall der Vernichtung. Und die Büßerinnen, in ihrer eleganten Abendgarderobe – wenn sie einfach alles nur verschliefen und irgendwann erwachten und verwundert ihre Holzköpfe schüttelten, blind und gehörlos?
Denn das Rot des Quadrates vorne, frontal ins Bild gesetzt als Blickfang – eine Woche lang sah ich seine Vitalität und Kraft. Als ließe sich daraus Leben erwecken, ein neues, anderes. Das Alphabet der Farben hat eine Logik, die sich dem Denken widersetzt.
Michael Zeller
Edgar Ende: Büßerinnen, 1958.
Michael Zeller hat Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays verfasst. Sein letzter Roman „Falschspieler“ erschien 2008 zuerst unter dem Pseudonym „Jutta Roth“ als angebliches Debüt einer 1967 geborenen Autorin. Zur Homepage des Autors geht es hier. Copyright des Textes: Michael Zeller.