Kunstpostkarte, 1 Woche, 1 Kolumne, 1 Jahr lang: Ab Juni erscheint bei CULTurMAG wöchentlich für ein Jahr Michael Zellers SEH-REISE in zweiundfünfzig Ausfahrten, ein „Tagebuch in Bildern”: Betrachtungen zu Kunst und Leben, von den ägyptischen Pharaonen über die griechisch-römische Antike und das Mittelalter bis in die unmittelbare Gegenwart. Heute: Antiker Sarkophag in der Kirche Maria Sopra Minerva. (Alle Folgen hier).
Sechsundvierzigste Ausfahrt
Von der Schwarz-Weiß-Fotografie geht oft ein größerer Ernst aus als von ihrer bunten jüngeren Schwester. Die Beschränkung auf die Nicht-Farbe Grau, in all ihren Valeurs, zieht den Blick in die Tiefe hinein, in das Widerspiel von Hell und Dunkel. Die Fröhlichkeit von Farben gefällt rasch, oft obenhin, und gibt sich mit dem ersten Augenschein zufrieden.
Diese Ansichtskarte verleugnet nicht, dass das Objekt aus den düsteren Winkeln einer Kirche stammt, nicht aus dem Glanz lichtdurchfluteter Dome. Eine Seitenkapelle, fensterlos, in der die Sarkophage mit den Verstorbenen stehen, meistens seit Jahrhunderten. Name, Bedeutung, Funktion des einstmals Bedeutenden sind hinabgesunken in ein uneinholbares Vergessen. Nachtfinstere Flecken auf der Karte sind auch vom Blitzlicht nicht zu durchdringen. Hart strukturieren schwarze Kanten den abgebildeten Raum.
Ein antiker Sarkophag, seine Schauseite. Auf der Grabplatte ausgestreckt der Verstorbene. Man sieht es sofort: Diese beiden Teilen passen nicht zusammen. Da liegt eine Menge Zeit dazwischen. Genau genommen sind es zweitausend Jahre, die sich über die Anfertigung des Sarges in Griechenland und seiner Belegung im Mittelalter spannen, und auch das ist bereits wieder fünfhundert Jahre her. Zweitausendfünfhundert Jahre, erdgeschichtlich ein Fingerschnippen, sind kaum zu fassen von dem Zeitmaß, das uns vorgegeben ist durch unsere eigene begrenzte Lebensdauer. Reiche, Völker, Kulturen, Religionen kamen nach oben in diesem Äon, regierten den Erdkreis für eine Weile, die ewig schien, und gingen wieder dahin, ein Erblühen und Welken und Sterben. Diese Triumphgebärde, die darin liegen mag, dass das Christentum den griechischen Sarkophag für einen der Ihren benutzte, indem sie einen geweihten Mann der Kirche in dieses Behältnis legte, das für gottferne Heiden angefertigt und bestimmt war, hat längst sich verbraucht und ist zu einem Anachronismus geworden.
Was bleibt, die die Kunstfertigkeit des Menschen, die über zweitausendfünfhundert Jahre hinweg zu bewundern ist, die Taten göttlicher Handwerker. Der antike Olymp steht mittlerweile ebenso leer wie der christliche Himmel. Geblieben ist der Kampfesmut des Menschen, der sich mit der wilden Natur anlegt, wie hier der panhellenische Held Herakles, der mit dem Nemeischen Löwen kämpft und ihn niederringt. Lebendig die Anspannung seiner Muskulatur, von den Zehen bis in den Unterarm, der Leib gespannt als eine Sehne aus Kraft. Im Idealbild des männlichen Kämpfers siegt der Mensch über die ungleich größere, aber ungewitzte Gewalt der tierischen Kreatur. So wollte der Mensch der Antike sich sehen, und so träumt er sich gern bis heute fort.
Doch der Einzelne unterliegt der Zeit, in einem lächerlich kurzen Takt. Seine Kraft erlischt, seine Kämpfe und Pläne zerfließen in einen baldigen Tod, kommen darin zur Ruhe. Die zwei entscheidenden Epochen des Menschen, der (siegreich) Kämpfende unten und der lange (ewig) sich Ausruhende oben, sind hier in einem Bild konzentriert, von zwei Kunsthandwerkern festgehalten in einem Material, dessen Haltbarkeit der unseren spottet: Stein. Eingebildete Ewigkeit. Mitgenommen vor einem halben Menschenleben auf einem handgroßen Stückchen Papier. Das ist der Stoff, der unserer Körperlichkeit am nächsten kommt. Unseren Illusionen und ihrer Wirklichkeit, von Hell und Dunkel, das sich vereint in Grau.
Michael Zeller
Antiker Sarkophag, in der Kirche Maria Sopra Minerva, Rom.
Michael Zeller hat Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays verfasst. Sein letzter Roman „Falschspieler“ erschien 2008 zuerst unter dem Pseudonym „Jutta Roth“ als angebliches Debüt einer 1967 geborenen Autorin. Zur Homepage des Autors geht es hier. Copyright des Textes: Michael Zeller.