Geschrieben am 9. April 2014 von für Kolumnen und Themen, Litmag, Zellers Seh-Reise

Michael Zellers Seh-Reise (62): Nikifor: Zwei Kirchenräume

1 Kunstpostkarte, 1 Woche, 1 Kolumne: Michael Zellers SEH-REISE ist zurück! Michael Zeller besitzt einen großen Stapel von Kunstkarten, die er bei seinen Galerie- und Museumsbesuchen angesammelt hat. Jede Woche fischt er eine Karte heraus und hängt sie sich in die Wohnung, wo der Blick immer wieder an ihr hängen bleibt. Was darauf zu sehen ist, welche Beziehung sich zwischen Werk und Autor entwickelt, darüber berichtet Michael Zeller wöchentlich in CULTurMAG. Heute: Nikifor: „Zwei Kirchenräume”.

Nikifor

Die heilsame Quelle

Zwei Räume übereinander, Kirchenräume. In beiden finden religiöse Handlungen statt, mit reichlich Priestern und Gläubigen.

Nur auf den allerersten Blick wirken die beiden Bildszenarien ähnlich. Doch bei näherem Hinschauen ist der Betrachter verunsichert: Wie können zwei Räume von so großer Ähnlichkeit so unterschiedlich sein?

Der untere wirkt wesentlich profaner mit seinen geraden Wänden und Fenstern, der nackten Glühbirne von der Decke herab. Vielleicht auch, weil er stärker in die Tiefe geht, verliert dieser Raum mit seinen vielen Menschen selbst an Gewicht. Eine Phalanx von Personen, quer über das ganze Bild gedrängt, Schulter an Schulter. In ihrem Zentrum steht prominent der Geistliche hinter dem Altar, eine imposante Krone auf dem Kopf, frontal gegeben, wie die um ihn Stehenden auch. Segnend hebt er seine Rechte über jemanden, der vor ihm kniet. (Die Schrift an der Decke weist den Geistlichen zweimal als Bischof aus.)

Rechts von ihm die Frauen, links die Männer, alle festlich gekleidet. So wie sie nach ihrem Lebensalter aufgereiht sind, sollte es sich um eine Familie handeln: Vater und Mutter herausgehoben am Altar, die Kinder in abnehmender Größe nach außen gestaffelt. Über den Köpfen sitzt ihnen ein Kreuzchen, bei jeder der Frauen, auch über den beiden ältesten Söhnen. Auf den barocken Votivbildern ist das ein Zeichen, dass die Abgebildeten bereits verstorben sind, doch nach christlichem Glauben bleiben sie natürlich auch als Tote in die Fürbitte um göttlichen Segen eingeschlossen.

Eine ganz andere Stimmung geht von der kirchlichen Szenerie darüber aus. Hier atmen Weite und Helle. Vor allem der ockergelbe Farbton an der gewölbten Decke gibt dem Raum eine angenehme Wirkung und eine Feierlichkeit, die unten fehlt. Der blasse Raum dort wirkt dagegen nüchtern wie eine Amtsstube.

Nur oben fühlt der Betrachter sich in einem sakralen Raum – er lädt ein ins Offene. Sicher liegt das auch an seiner größeren Pracht, mit Rundbögen und einem Kerzenleuchter, vor allem aber an den Priestern mit ihren reichen farbigen Gewändern. Rechts erkennen wir den Bischof von unten wieder (diesmal mit seinem Stab), umgeben von fast ebenso prächtig ausstaffierten Gehilfen. Locker füllen sie den herausgehobenen Raum unter der goldgelben Kuppel und lassen ihn wirken. Die in Linie stehenden Gläubigen übersieht man beinahe im Dunkel des Bildrands unten. Das Licht leuchtet von oben.

Wie raffiniert dieser Maler Farbe und Raum eingesetzt hat, bei gleichem Thema, mit Wasserfarben und auf kleinem Format, allenfalls so groß wie ein Schulheft!

Nikifor heißt der Maler. Geboren worden sei er „um 1895“, und einen Nachnamen habe er gar nicht gekannt. So erzählen sie es sich in seiner Heimat, einem Ort in den polnischen Beskiden, an der Grenze zu Slowakei und der Ukraine (nach heutiger Grenzziehung). Denn seine Mutter war taubstumm und schlug sich, alleinstehend mit ihrem Kind, kümmerlich als Tagelöhnerin durch. Zeitlebens blieb Nikifor sprachbehindert und Analphabet. Das Malen lernte er in der Kirche. Nur dort begegneten ihm Bilder. Andere sah er nicht. Aber die sah er gut. Jemand schenkte ihm Wasserfarben, zu mehr Besitz brachte er es nie. Selbst das Papier, das er bemalte, waren Abfälle. Deshalb sind seine Formate immer klein, und eine Menge dieser Wasserfarben-Zettel ist verschlissen und verloren gegangen.

Zehntausende von Blättern müssen es gewesen sein, die Nikifor im Lauf seines fast siebzigjährigen Lebens angefertigt hat. Jeden Tag, bei Wind und Wetter, zog er mit einem Holzköfferchen durch die Straßen seiner Stadt Krynica (eine eigene Wohnung konnte er sich erst spät leisten) und malte, was sich ihm dort bot, Straßen, Parks, Gebäude, Menschen, gern auch sich selbst, und Kirchen eben – immer wieder Kirchen. Den Ort, an dem er seine Freude entdeckte und seine Bestimmung fand. Die Mitbürger verspotteten den mausarmen Herumtreiber mit seinem Mal-Tick.

Bis – es war kurz vor dem Zweiten Weltkrieg – ein „richtiger“ Maler aus der Großstadt Lemberg/Lwów (das damals noch polnisch war) durch Krynica kam, diese Berge von kleinen schmuddeligen Papieren sah – und hingerissen war, was dieser sprachbehinderte Dörfler da fabriziert hatte. Der Lemberger Maler nahm ein paar Blätter mit nach Paris zu seiner eigenen Ausstellung, und die mondäne Kunstwelt merkte auf. Dann kam der Krieg, und es dauerte bis in die späten fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts, ehe der Pariser Samen keimen konnte. Jetzt ging es Schlag auf Schlag, und der Arme-Leute-Maler aus den fernen Bergen konnte zehn Jahre lang seinen großen internationalen Erfolg noch selbst erleben:

Ausstellungen in den Metropolen Westeuropas und in Amerika. Bücher über ihn, Hunderte von Artikeln in mehreren Sprachen, Dokumentarfilme. Der verspottete Vagabund, der zeitlebens nur schwarz mit der Eisenbahn über die Dörfer seiner Gegend gefahren war, konnte sich 1967, ein Jahr vor dem Tod, zu seiner großen Werkschau in Warschau im eigenen Auto chauffieren lassen.

1998 organisierte das Goethe-Institut Krakau eine Lesereise für mich durch Südpolen. Dabei kam ich auch durch Krynica und fand in der kleinen ländlichen Badestadt (Krynica heißt auf Polnisch „Heilquelle“) das Nikifor-Museum, das gerade frisch eingerichtet worden war. Und zwei Jahre später, als bei der Frankfurter Buchmesse Polen das Schwerpunkt-Thema war, traf ich auch in Deutschland seine Arbeiten wieder, im „Portikus“, diesem legendären Ein-Raum-Museum am Ufer des Mains.

Werfen Sie noch einmal einen Blick auf Nikifors kleines Aquarell von den beiden Kirchenräumen. Wo, schätzen Sie, sind wohl mehr Personen untergebracht? Oben sind es zwanzig, unten nur dreizehn. Hätten Sie das für möglich gehalten?
Michael Zeller

Nikifor: Zwei Kirchenräume. Aquarell, o.J.

Michael Zeller, Schriftsteller mit einem umfangreichen, mehrfach ausgezeichneten literarischen Werk (zuletzt, 2011, Andreas Gryphius-Preis). 2013 sind von ihm erschienen die Gedichte wie es „anfängt : wie es endet” und der Prosaband „ABHAUEN! Protokoll einer Flucht” bei CulturBooks. Zur Homepage des Autors geht es hier. Copyright des Textes: Michael Zeller.

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