Geschrieben am 7. Mai 2014 von für Kolumnen und Themen, Litmag, Zellers Seh-Reise

Michael Zellers Seh-Reise (65): Das Cabinet des Dr. Caligari

1 Kunstpostkarte, 1 Woche, 1 Kolumne: Michael Zellers SEH-REISE ist zurück! Michael Zeller besitzt einen großen Stapel von Kunstkarten, die er bei seinen Galerie- und Museumsbesuchen angesammelt hat. Jede Woche fischt er eine Karte heraus und hängt sie sich in die Wohnung, wo der Blick immer wieder an ihr hängen bleibt. Was darauf zu sehen ist, welche Beziehung sich zwischen Werk und Autor entwickelt, darüber berichtet Michael Zeller wöchentlich in CULTurMAG. Heute: „Das Cabinet des Dr. Caligari”.

CaligariDie Bretterwelt von Versailles

Keine Ahnung, wann und wo mir diese Karte in die Hände gefallen ist, vor Jahren oder Jahrzehnten. Auch das Abgebildete hilft mir nicht weiter, ich bin auf die Rückseite angewiesen. „Das Cabinet des Dr. Caligari“ steht da zu lesen, „1919, Regie: Robert Wiene / Conrad Veit, Lil Dagover“.

Die Szene aus einem Film, einem deutschen Stummfilm, unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkriegs. Der Titel ist mir natürlich bekannt, aber ob ich den Film jemals gesehen habe, bezweifle ich. Auch die beiden Schauspieler Lil Dagover und Conrad Veit sagen mir etwas, doch kaum aus eigener Anschauung. Es war die Schwärmerei von Mutter gewesen, von ihnen und der großen Zeit des deutschen Kinos. Am Filmhimmel von uns Kindern strahlten damals hellere, buntere Sterne: Ruth Leuwerik, O. W. Fischer, Adrian Hoven, Eva Bartok. Sie illuminierten unseren schmalen Alltag nach einem weiteren Krieg.

Doch auch später, als mir meine kindliche Selbstgewissheit abhandengekommen war, hat sich Mutters Begeisterung für die Helden des Stummfilms niemals auf mich übertragen. Und jetzt sollte also ein Szenenfoto aus dem „Cabinet des Dr. Caligari“ eine Woche lang in meinem Küchen-Cabinet hängen …

Expressionismus! Das war das erste Signal, und damit stand ich auf vertrauterem Boden als bei der mütterlichen Begeisterung von einst. Wenn auch die ganze Farbigkeit fehlt, eine der großen Stärken dieses Malstils – die Wucht jener expressiven Linienführung fällt sofort ins Auge: Die windschiefen Laternen, hinten und vorn. Das Blattwerk zu beiden Seiten, von metallischer Aggressivität, das den schmalen Weg noch enger macht um die zwei Figuren im Vordergrund – die Not der beiden ist mit wenigen heftigen Strichen da. Sofort reißt es den Betrachter mitten hinein in ihre seelische und körperliche Bedrängtheit. Ausgestreckt am Boden liegend die Frau im schneeweißen Gewand der Unschuld. Über sie gekniet, mit blutigen Händen, der Mann, ganz in Schwarz: Kleidung, Haar, die geschminkten Augenhöhlen. Eine Gewalttat, ein Mord gar – oder ist er der Retter, der zu spät gekommen ist?

Schroff schreibt sich der Kontrast von Täter/Retter quer durch sein Gesicht: die eine Hälfte im Dunkel, überhell ausgeleuchtet die andere. Eine schwer zu überbietende Engführung von Schwarz und Weiß, Gut und Böse. Und von weit hinten aus der Kulisse drängen die Verfolger heran, eine Treppe hoch, Männer und Frauen, mit vorgestrecktem Arm, um ihre Eile zu unterstreichen. Sie steigen aus einer Tiefe, die offenbar ein Kirchenraum ist. Zur Linken erkennt man eine Flucht von gotischen und von runden Bögen. Darüber dann der Weg, mit den Straßenlaternen und dem Gesträuch.

Ein vollkommen imaginärer Raum, in dem nichts zusammen passt, der jede architektonische Ordnung außer Kraft setzt. Ein Alptraum-Raum, ja ein geträumtes Gelände. Allein aus Helle und aus Dunkel gefügt. So viel innere und äußere Dramatik auf einem Bild – oder in der Einstellung eines Films. Aus rohen Bohlen gezimmert, mit Stoffplanen verhängt, Wände aus Karton – die flüchtige Welt des Kintopp. Man glaubt den Kleister zu riechen, die letzten Hammerschläge der Dekorateure noch zu hören, wie sie die Gegenwelt zimmern zu unserer alltäglichen Erfahrung, mit ihren Hohlräumen des Dämonischen, eine Welt aus Furcht und Grauen, von Wahn und Irrsinn.

Dabei bedienen sich die Filmer der Formensprache des Expressionismus‘, wie sie vor dem Ersten Weltkrieg entwickelt worden war, und übertragen sie in ihr seinerzeit neues Medium. Die Gemälde der Marc und Macke, der Nolde, Kirchner oder Pechstein: Das sind die Bildbestände gewesen, die die Filmemacher des „Dr. Caligari“ vor Augen hatten und aus denen sie schöpften, mit zehnjähriger Verspätung. Dazwischen lag jener große Krieg, der das tragende Gerüst der Gesellschaft erschüttert hatte wie nie etwas davor. Das war die historische Stunde, aus den Trümmern des Vergangenen versuchsweise eine Welt aus Brettern zu bauen, ein Provisorium der schwarzen Träume und der Dämonie. Die machtstrotzenden Gebäude der Gründerzeit hatten ausgedient, sie lagen am Boden. Die Alpträume eines Georg Heym, Jakob von Hoddis, Georg Trakl der Vorkriegszeit wurden zu den Bausteinen einer neuen Wirklichkeit.

Das freilich war ein äußerst fragiler Stoff. Da konnte so mancher irre Dr. Caligari seine wüsten Träume ausleben. Und das taten sie dann auch. „Von Caligari zu Hitler“ – so fasst Siegfried Kracauer nachträglich jene Jahre in ein schlagendes Wort.

Michael Zeller

„Das Cabinet des Dr. Caligari“. Stummfilm von 1919. Regie Robert Wiene

Michael Zeller, Schriftsteller mit einem umfangreichen, mehrfach ausgezeichneten literarischen Werk (zuletzt, 2011, Andreas Gryphius-Preis). 2013 sind von ihm erschienen die Gedichte wie es „anfängt : wie es endet” und der Prosaband „ABHAUEN! Protokoll einer Flucht” bei CulturBooks. Zur Homepage des Autors geht es hier. Copyright des Textes: Michael Zeller.

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