Geschrieben am 3. September 2014 von für Kolumnen und Themen, Litmag, Zellers Seh-Reise

Michael Zellers Seh-Reise (75): Jan Vermeer

1 Kunstpostkarte, 1 Woche, 1 Kolumne: Michael Zellers SEH-REISE ist zurück! Michael Zeller besitzt einen großen Stapel von Kunstkarten, die er bei seinen Galerie- und Museumsbesuchen angesammelt hat. Jede Woche fischt er eine Karte heraus und hängt sie sich in die Wohnung, wo der Blick immer wieder an ihr hängen bleibt. Was darauf zu sehen ist, welche Beziehung sich zwischen Werk und Autor entwickelt, darüber berichtet Michael Zeller wöchentlich in CULTurMAG. Heute: „Brieflesendes Mädchen am Fenster” von Jan Vermeer.

Vermeer

Von Engen und Weiten

Wie winzig früher die Zimmer der Menschen in Europa waren, selbst der Wohlhabenden und Reichen, Kammern eher, mit eng geschnittenen Fensterchen, oft genug auch noch lichtschluckend verglast. Dazu farbstarke Tapeten an den Wänden und dunkles, schweres Mobiliar bis in den letzten Winkel hinein.

Unglaublich düster muss es gewesen sein in diesen Behausungen, mit einem völlig anderen Raumgefühl für die, die sich darin aufhielten, als wir es heute für selbstverständlich halten. Würden wir in solchen Wohnungen die Luft zum Atmen finden?

Weit aufgerissen hat die junge Frau das Butzenscheibenfenster hinter dem dicken dunkelroten Store, damit sie Licht bekommt zu lesen. Als wolle sie der Sonne den Brief zeigen, sie mitlesen lassen, so hält sie ihr das beschriebene Papier entgegen. Will sie mit ihr die Freude teilen – oder ihren Schmerz? Das Gesicht der Lesenden, in Seitensicht, verrät dem Betrachter nichts über den Inhalt des Gelesenen. Vollkommen gesammelt gibt sich die junge Dame. Sie zeigt damit, wie mit der reichen Frisur und dem kostbaren Gewand, die Haltung vor, in der sie als wohlhabende Bürgerstochter erzogen worden ist. Ruhe und Gelassenheit nach außen sind auch dann zu wahren, wenn die Seele laut aufschreien möchte, vor Glück, im Entsetzen.

So diskret das Zeitalter des Barocks mit den Gefühlen der Menschen umgeht, so unmissverständlich deutlich setzt es die Sprache der Symbole ein. Die Obstschale auf dem Tisch, der die junge Frau vor der Außenwelt (dem Betrachter) fernhält und schützt, lässt keinen Zweifel an dem Inhalt des Briefes. Was das Mädchen mit ihrer Haltung verbirgt, verrät uns der Maler: In der schönen Eindeutigkeit dieser schwellenden Früchte offenbart er die Liebe, um die es in der brieflichen Botschaft geht, die saftige Liebe zwischen Mann und Frau. Sonst könnte da ja auch die Bibel liegen.

Aus der Tatsache, dass das knittrig gewordene Schreiben auf oftmaliges Lesen verweist, folgere ich: Hier erzählt ein Liebhaber seiner Angebeteten von den zurückliegenden Freuden einer Nacht und kündigt baldiges Wiederkommen an. Jetzt, lesend, steckt die junge Frau das noch weg mit der Selbstbeherrschung ihres Standes. Dann aber wird sich ihre wohlerzogene Verhaltenheit in ein glühendes Stammeln ohne viel Worte lösen.

Mit welcher malerischen Delikatesse Jan Vermeer diese stumme Geschichte erzählt, intensiv und doch offen nach mehreren Seiten (ein anderer Betrachter mag eine andere Version darin lesen), das ist in den Büchern der Kunstgeschichte oft genug und einstimmig gerühmt worden. Obwohl ich Quervergleiche zwischen den Künsten nicht sehr mag: Bei jedem Hinschauen unter der Woche auf das „Brieflesende Mädchen am Fenster“ war der Satz da, er ließ sich nicht unterdrücken: Dieser Vermeer malt seine Bilder, wie Bach komponiert hat. In dem dichten Gewebe der Blickbezüge ist kein Ton gesetzt, der nicht mehrfach motiviert wäre. Nirgends auch nur die Spur eines losen Fadens. Das ist beglückend – und hat manchmal doch auch etwas Beengendes.

An die erste Begegnung mit diesem Vermeer in Dresden kann ich mich gut erinnern. Es war zwischen 1966 bis 1969, als der SPD-Politiker Herbert Wehner Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen war, in der Großen Koalition unter Kanzler Kiesinger. Wehner, gebürtiger Dresdner, setzte es durch, dass westdeutsche Studenten für wenig Geld während der Leipziger Messe in die „DDR“ fahren konnten. So kam ich zum ersten Mal nach Ostdeutschland. Die Leipziger Messe interessierte mich wenig. Was ich kennenlernen wollte, waren Weimar und Dresden. Das war natürlich verboten, unsere Reiseerlaubnis galt ausschließlich für Leipzig, und die klammen Gefühle, mit denen ich in den übervollen Bummelzügen zwischen DDR-Menschen saß und in jedem von ihnen einen witterte, der mich als Westler enttarnen und anzeigen könnte, sind noch lebendig in mir.

Angst macht wach und schärft den Blick. In dieser Anspannung stand ich dann auch im kriegsgrauen Gemäuer des Zwingers und bewunderte Raffaels Sixtinische Madonna oder eben Vermeers Briefleserin. Flau im Magen, die blassen Wärterinnen in ihren blaugrauen Plastikkitteln immer im Weitwinkel, gingen mir die Augen über angesichts der Schätze, die hier zu sehen waren. Zum ersten Mal berührte mich da die Ahnung, was Deutschland einmal gewesen war. Dass es das einmal wieder werden könnte: dazu fehlten dem im Kalten Krieg erzogenen Jüngling Phantasie, Weitblick und Courage.

Michael Zeller

Jan Vermeer: Brieflesendes Mädchen am Fenster. Öl auf Leinwand. 83 x 64,5 cm. Gemäldegalerie Dresden

Michael Zeller, Schriftsteller mit einem umfangreichen, mehrfach ausgezeichneten literarischen Werk (zuletzt, 2011, Andreas Gryphius-Preis). 2013 sind von ihm erschienen die Gedichte wie es „anfängt : wie es endet” und der Prosaband „ABHAUEN! Protokoll einer Flucht” bei CulturBooks. Im Hersbt 2014 kommt seine Erzählung „BruderTod” heraus. Zur Homepage des Autors geht es hier. Copyright des Textes: Michael Zeller.

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