Geschrieben am 19. Januar 2009 von für Litmag, Vermischtes

Monika Bulaj im Porträt

Eine polnische Nomadin

Die Arbeiten der Fotografin und Schriftstellerin Monika Bulaj geben uns Anstöße, wieder das suchende, geduldige Sehen zu lernen. Ein Porträt von Carl Wilhelm Macke

„Es ist wichtig, daß du dir die Fähigkeit des Erlebens bewahrst, daß es Dinge gibt, die dich in Erstaunen versetzen, dich erschüttern können. Es ist wichtig, daß dich nicht die schreckliche Krankheit der Gleichgültigkeit erfaßt.“ In dem von klugen Meditationen, Reflexionen, von genauen Beobachtungen und selbstkritischen Tagebuchaufzeichnungen nur so überquellenden und von Martin Pollack ins Deutsche übersetzten Buch von Ryszard Kapuściński Die Welt im Notizbuch habe ich diese Aufforderung gefunden, eine Art 1. Gebot für jede journalistische Arbeit. Will man die Fotografin, die Schriftstellerin, die Nomadin Monika Bulaj porträtieren, darf der Name dieses großen polnischen Weltreporters nicht fehlen. Sie selbst erwähnt ihn oft und wenn man ihre Bilder sieht, spürt man auch immer wieder, wie sehr sie von der Weltsicht ihres polnischen Landsmanns geprägt worden ist. Jeder Künstler, jeder Fotograf versucht, seinen eigenen Ausdruck, seine unverwechselbare Handschrift, seinen Blick auf die Welt zu finden. Und dabei können Freunde, Lehrer, Vorbilder helfen. Kapuściński ist ein wichtiger, aber nicht der einzige Lehrer von Monika Bulaj. Man müsste auch andere Namen nennen. Als Fotografen gehören zum Beispiel der Brasilianer Sebastiano Salgando, der Italiener Luigi Ghirri und besonders auch die Spanierin Cristina Garcia Rodero dazu. Vorbilder für ihr Schreiben sind neben Ryszard Kapuściński u. a. der Schweizer Nicolas Bouvier mit seinem grandiosen Reisetagebuch Die Erfahrung der Welt, Zbigniew Herbert, der die während der kommunistischen Jahre so geschlossenen Fenster Polens zur Welt hin geöffnet hat, und der italienische Journalisten-Nomade Paolo Rumiz, mit dem zusammen sie auch einige große Reisen quer durch Europa und bis nach Jerusalem unternommen hat. Zwei Bücher sind hier hervorzuheben: Gerusalemme perduta (2005) und das nicht genug zu lobende Italien-Buch von Rumiz La leggenda dei monti naviganti (2007), zu denen Monika Bulaj jeweils viele Fotografien beigetragen hat. Dass dieses Buch noch keinen deutschsprachigen Verlag gefunden hat, gehört zu den vielen Mysterien deutsch-italienischer Kulturbeziehungen, in denen immer noch kräftig gegenseitige Klischees gepflegt werden.

Kapuściński aber spielt vielleicht eine ganz besondere Rolle nicht nur als ihr polnischer Landsmann, sondern weil er ihr wie kein zweiter die Möglichkeiten und auch die Grenzen sowohl des Schreibens wie des Fotografierens gezeigt hat. Von ihm hat sie vielleicht auch diese unbändige Neugierde auf die Welt und auf fremde Menschen gelernt. Gegen die, wie Kapuściński schrieb, „schreckliche Krankheit der Gleichgültigkeit“ scheint Monika Bulaj vollkommen immun, beneidenswert immun zu sein. Und von Kapuściński hat sie vielleicht jene zurückhaltende Demut und den Respekt vor dem Anderen übernommen, ohne die man nie das Vertrauen der Menschen gewinnen könnte, über die man schreibt oder, wie im Falle von Monika Bulaj, an die man manchmal sehr nahe mit der Kamera herankommen möchte. Und man müsse, hat sie einmal in einem Gespräch gesagt, als Fotograf wie als „Travel Writer“, als nomadisierender Schriftsteller ganz einfach Freude an seiner Arbeit und an der Begegnung mit den Fremden haben.

Die große Leere des Kommunismus

Geboren wurde Monika Bulaj in Warschau, erlebte die Schulzeit noch unter dem Kommunismus, studierte aber in Warschau, als die Berliner Mauer schon gefallen war. „Ich besaß hinter mir die große polnische Kultur, aber auch die große Leere der kommunistischen Gegenwart um mich herum.“ Dass Fotografien mit Motiven aus der Welt des Judentums und der vollkommen an den Rand Europas gedrängten Kultur der Sinti und Roma in dem Werk von Monika Bulaj eine so große Rolle spielen, ist auch durch ihre polnische oder, etwas allgemeiner formuliert, ihre osteuropäische Herkunft mit beeinflusst. Als Kind, später dann in der schulischen wie universitären Ausbildung hat sie den starken polnischen Antisemitismus erlebt, den kommunistischen ebenso wie den von Teilen der Katholischen Kirche. Hier entstand auch ihre besondere Neugierde auf eine Kultur, die die Nazis ausrotten und die in den kommunistischen Jahren Polens verdrängt, oft auch offen bekämpft worden ist. Und heute ist es der in fast allen Ländern Ost-, aber auch Westeuropas sich ausbreitende Rassismus gegen die Roma, der sie zu ihren Fotorecherchen in Roma-Siedlungen Sloweniens, der Slowakei oder in Italien motiviert hat.

In Italien lebt sie seit 1993, zuerst in Bergamo, jetzt in Triest. Ihre ersten Fotoreisen, immer verbunden mit starken anthropologischen Interessen, gehen auf die Mitte der 80er-Jahre zurück. Zwanzig Jahre war sie für ihr Projekt „Genti di Dio“ unterwegs und wenn man die Bilder in dem gleichnamigen Band (2008) anschaut, ahnt man auch, mit welchen Beschwernissen diese Exkursionen in oft weit abseits vom „Mainstream“ der Verkehrsverbindungen gelegenen Dörfern und Gemeinden verbunden waren. Parallel zu diesem großen Projekt entstanden Fotoarbeiten über Leprakranke im Sudan („The blessed“), über Tsunami-Opfer in Indien und die verarmte Vorstadtbevölkerung in Nairobi und Adis Abeba. In der Ausstellung „Aure“, also der im Deutschen schwierigen pluralen Verwendung von Aura, sind Bilder von russischen Pilgern, volksreligiösen Karfreitagskulten in Süditalien, dem Voodoo auf Haiti und dem San-Lazzaro-Kult auf Kuba zu sehen. Einen langen Dokumentarfilm mit dem Titel „I Figlie di Noe“ („Kinder Noahs“) hat sie über ein abseits von jeder medialen Aufmerksamkeit gelegenes Dorf im Kaukasus gedreht. Sechs Bücher liegen inzwischen vor, von denen sie einige in enger Zusammenarbeit mit dem italienischen Journalisten Paolo Rumiz von der Tageszeitung „La Repubblica“ herausgegeben hat. Dass sie auch als Schauspielerin gearbeitet hat und mit einer Ballettgruppe „on the road“ gewesen ist, sollte hier zumindest erwähnt werden.

Große Geduld und schnelles Handeln


In meiner ersten Kontaktaufnahme mit ihr führte sie eine Liste von Ländern auf, in denen sie in den letzten Jahren fotografiert hatte: Belarus, Albanien, Ukraine, Polen, Slowakei, Rumänien, Bulgarien, Serbien, Mazedonien, Türkei, Griechenland, Syrien, Äthiopien, Israel, Italien, Rumänien, Aserbeidschan, Libyen, Marokko, Iran. Ein Länderpanorama, das mich sitzkonservativen Mitteleuropäer nur staunen lässt. Und dann zeigte sie zu jedem der genannten Länder eine Unmenge an Fotografien, deren bloße Anzahl ebenso beeindruckend ist wie ihre Qualität, die Aussage oder, wenn man so will, die Botschaft der fotografischen Arbeit. Aber es ist nicht wichtig, auf die Quantität des Werkes von Monika Bulaj an dieser Stelle hinzuweisen. Viel bedeutender und für das Verständnis ihrer Arbeit entscheidender ist es, das Credo hervorzuheben, das ihre fotografischen Exkursionen an die Ränder unserer Aufmerksamkeit antreibt. In einem Gespräch hat Monika Bulaj einmal ihr Verständnis fotografischen Arbeitens so beschrieben: „Mir gefallen neue Situationen. Ich möchte ihnen immer die maximale Aufmerksamkeit schenken, den maximalen Respekt, meine Demut und Freude. So kann die Fotografie auch eine spirituelle Erfahrung werden. Eine gute Fotografin zu sein, hängt nicht von dem technischen Equipment ab, das man auf seinen Recherchen mit sich herumschleppt. Viel wichtiger ist der Blick, eine große Geduld und dann aber auch ein extrem schnelles Handeln.“

Die Aufzählung der Länder und Regionen, die Monika Bulaj in den vergangenen Jahren bereist hat und in denen sie ihre Bilder aufgenommen hat, zeigt schon, wie wenig sesshaft sie ist, wenngleich sie ja bereits seit einigen Jahren in Italien gemeldet ist. Eine Polin, Italienerin, Europäerin? Aber was ist damit in den heutigen globalisierten Zeiten und konfrontiert mit der Weltneugier einer Monika Bulaj gewonnen, wenn man versucht, ihr ein klar konturiertes Herkunftsetikett zu verpassen? Die Polen, hat Zbigniew Herbert einmal geschrieben, seien ein im Grunde doch „rühriges Volk und schon durch ihre Geschichte übertrieben zum Nomadisieren ermuntert“. In diesem Sinne kann man Monika Bulaj vielleicht das Etikett einer „nomadisierenden Polin“ anheften, vor allem aber ist sie eine grenzüberschreitende Nomadin mit Kamera und Notizbuch.

Lichtsüchtige Fotografin


Vielleicht trifft auf sie aber auch zu, was der Theologe Karl Rahner in seinen Betrachtungen über „alltägliche Dinge“ verfasst hat: Christen seien „Wanderer zwischen zwei Welten, Menschen im Übergang, bewegt und sich bewegend und so erfahrend, daß man nicht immer dort ankommt, wohin der Gang geplant war … Wir gehen, wir müssen suchen“. In diesem Rahner-Zitat findet man das Spannende, das Faszinierende, vielleicht auch das Provozierende an den Arbeiten der Fotografin und Schriftstellerin Monika Bulaj wie unter einem Brennglas wieder. Sie scheint unentwegt zu gehen, fast sogar „gehen zu müssen“, immer ist sie auf der Suche und findet dabei auch mit ihrer Kamera bewundernswert oft den richtigen Ort und Moment für ein starkes, den Betrachter bewegendes Bild. Da ist nichts Abgeschlossenes, nichts Statisches, nichts Vollendetes in ihren Bildern. Das Licht, die Suche nach Licht und der Konturenverlust im Halbschatten, das Unscharfe rund um eine erleuchtete Kerze spielen eine große Rolle in ihren Arbeiten. Als ich mit ihr einmal durch München ging, schien sie weniger von der Architektur der Häuser oder der Anlage der Straßen fasziniert zu sein als von dem für diese Stadt typischen Licht. Monika Bulaj ist eine geradezu „lichtsüchtige Fotografin“.

Monika Bulaj

„Wie desillusionierend wenige Menschen“, hat Alfred Stieglitz, einer der großen Lehrer der modernen Fotografie Anfang des vergangenen Jahrhunderts geschrieben, „verfügen über eine eigene Vision der Dinge, wie wenige von ihnen wissen wirklich zu sehen und wie inhaltsleer sind viele Photographien“. Heute, ein gutes Jahrhundert später und in einer Zeit, in der es vollkommen gleichgültig geworden scheint, wen oder was man mit seinen Mini-Digitalkameras wie oft und warum knipst, ist es vielleicht wieder wichtig, sich weniger über die neuesten Entwicklungen auf dem Photomarkt zu unterhalten, sondern ganz einfach das Sehen zu lernen. Die Arbeiten der Photonomadin Monika Bulaj geben uns vielleicht Anstöße, wieder das detailgenaue Wahrnehmen, das den Anderen respektierende, das suchende, geduldige Sehen und das ‚erschütternde Erstaunen’ zu lernen, von dem Kapuściński sprach. In Monika Bulaj hat er eine seinem Werk sehr verbundene und trotzdem von eigenen Visionen angetriebene Erbin gefunden.

Carl-Wilhelm Macke