Von Würde und Scham
– Zwei Ausstellungen in Linz und Wien beschäftigen sich momentan mit unbekleideten Männern. Christina Mohr hat sich den Katalog zur Ausstellung „Nackte Männer. Von 1800 bis heute“ angesehen.
Während der weibliche Akt in der Bildenden Kunst fast immer erotisch konnotiert ist, meist sogar als Sinnbild der Erotik allgemein dient, ist die Rolle des nackten Mannes keineswegs so klar umrissen. Historische Bildnisse nackter Männerkörper stehen für Sieg und Überlegenheit, aber auch für Schutzlosigkeit, Ausgeliefertsein und Verletzlichkeit. Der nackte Mann ist antiker Athlet (Kouros), christlicher Märtyrer oder mythischer Satyr, Zweifler oder Denker (siehe Rodin); eindeutig sexualisierte Darstellungen entstehen erst im ausgehenden 19. Jahrhundert und erreichen in der zeitgenössischen Fotografie ihren vorläufigen Höhepunkt (pun intended). Natürlich müssen in diesem Zusammenhang eine Menge Fragen gestellt werden, z.B.: wer malt für wen und wer steht/liegt Modell? Wer ist das gedachte Publikum und wer vertritt und verteidigt den Zeitgeist?

Pierre & Gilles, „Vive la France“, 2006 © Privatsammlung, Courtesy Galerie Jérôme de Noirmont
Abbildungen nackter Frauen – ob zu künstlerischen oder Werbezwecken – sind schon lange kein Aufreger mehr, Männer ohne Feigenblatt sind auch heutzutage vorwiegend nur in Spezialpublikationen zu sehen. Vor elf Jahren wurde das Plakat zu einer Pierre et Gilles-Ausstellung in Weimar nachträglich ausgewechselt: „Le Petit Jardinier“, der mit seinem besten Stück die Blumen gießt, war den BesucherInnen der Goethe-Stadt offenbar nicht zuzumuten. Das französische Künstlerpaar sorgt auch 2012 noch verlässlich für Erregung öffentlichen Ärgernisses: ihr Foto von drei bis auf Stutzen und Schuhe nackten Fußballer, die für die Ausstellung „nackte männer von 1800 bis heute“ im Wiener Museum Leopold werben, wurde bereits überklebt, übermalt oder abgerissen.
Es mag Zufall sein oder nicht, dass sich derzeit gleich zwei österreichische Museen mit unbekleideten Männern beschäftigen: neben der Wiener Schau präsentiert das Linzer Ausstellungshaus Lentos bis Mitte Februar 2013 „Der nackte Mann“. Die Liste der gezeigten KünstlerInnen weist einige Überschneidungen auf, es werden Werke von David Hockney über Lucien Freud, Edvard Munch, Gilbert & George, Pierre et Gilles, Niki de Saint Phalle, Louise Bourgeois bis Robert Mapplethorpe gezeigt. Das Museum Leopold kann dank der hauseigenen Sammlung besonders viele Gemälde Egon Schieles zeigen, Lentos in Linz konzentriert sich auf die Fotografie der Moderne.

Thomas Ruff, „nudes vg 02“, Ed. 3/5, 2000 © Privatsammlung Cofalka, Österreich/Mit freundlicher Unterstützung von agpro – austrian gay professionals / Private collection Cofalka, Austria © VBK, Wien 2012
In Wien geht man weit in der Historie zurück: der Ausstellung und dem begleitenden, umfassenden und prächtig bebilderten Katalog ist ein Prolog der Museumsleiterin Elisabeth Leopold vorangestellt, der anhand von fünf Plastiken wie dem berühmten „Diskuswerfer“ (5. Jh. v. Chr.) die lange Tradition des künstlerischen Topos „nackter Mann“ untersucht. Die eigentliche Ausstellung setzt mit der Aufklärung im späten 18. Jahrhundert ein und gliedert sich in drei Schwerpunkte: Aufklärung/Klassizismus, neue Ansätze der Klassischen Moderne ab 1900, radikale Brüche und veränderte Sichtweisen nach 1945.
Man amüsiert sich über frühe Aktfotografie des späten 19. Jahrhunderts, es schaudert die BetrachterInnen vor den perfektionierten Übermensch-Skulpturen Arno Brekers und man verfolgt gebannt die kurze Geschichte des Wiener Porträt- und Landschaftsmalers und Klimt-Schülers Richard Gerstl, der schockierende Selbstbildnisse malte und sich wegen einer skandalösen Liebesbeziehung mit der Gattin Arnold Schönbergs im Alter von nur 25 Jahren das Leben nahm. Man sieht Kraftkerle und Hühnerbrüste, sterbende Kämpfer und saufende Bacchanten, übersteigert protzendes Gemächt – und lächerlich baumelnde Beutelchen, die die vermeintlichen Helden an ihre Verletz- und Kastrierbarkeit gemahnen.
Christina Mohr
Natter/Leopold (Hg.): Nackte Männer. Von 1800 bis heute. Katalogbuch zur Ausstellung im Leopold Museum in Wien vom 19.10.2012-28.1.2013. Hirmer Verlag 2012. 350 Seiten. 39,90 Euro.
Ausstellung Nackte Männer von 1800 bis heute (vom 19.10.2012 – 28.1.2013) in Wien im Leopoldmuseum.
Ausstellung Der nackte Mann vom 26.10.2012 – 17.2.2013 im Lentos Kunstmuseum Linz.
Bild ganz oben: François-Léon Benouville, „Achills Zorn“, 1847 © Musée Fabre de Montpellier