Geschrieben am 29. Mai 2013 von für Litmag, Neuer Wort Schatz III

Neuer Wort Schatz 3: Ulrike Almut Sandig

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Ulrike Almut Sandig

alle Anderen blieben verschwunden

Vorgestellt von Fabian Thomas

 

alle Anderen blieben verschwunden

„schreib auf, was wir hatten.“ wir hatten
ein zwei Gedichte, drei bis vier Wochen
die hohen Gebäude als unser Urwald
tief drinnen wir beide im farbigen Licht
einer Straßenbeleuchtung, zwischen
den Baumstämmen aus Glas und Metall.
Sonne kam nicht vor, so lang ich mit dir
ging, so lang hielt sich Regen über uns auf.
so lang schwamm uns alles davon: dein
Geld, meine Schuhe, die Zeit und mein
Wunsch nach Tieren in einem total verregneten Zoo:
ein Einhorn im Tiefschlaf, reglose Bären
ein triefender Pfau. hoch über uns flogen
die Füchse im Schwarm, wir hörten sie kaum.
denn wir, immerhin, wir waren zu zweit.
alle Anderen blieben verschwunden.

 

Das Ich, das Du und die Sehnsucht dazwischen

Ich habe Ulrike Almut Sandigs Gedichte das erste Mal irgendwann 2008 auf der Seite des Poetenladens gehört – ja, gehört, denn dort konnte (und kann man immer noch) einen kurzen Auszug aus dem Album „der tag, an dem alma kamillen kaufte“, das sie zusammen mit Marlen Pelny aufgenommen hat, hören. Dann war es relativ schnell um mich geschehen. Beim Leipziger Buchmessenbesuch 2009 erwarb ich in Peter Hinkes Connewitzer Verlagsbuchhandlung im Schuhmachergäßchen Ulrikes „streumen“, das ich in einem Hostelzimmer voller Cosplayer aufschlug, und im Jahr darauf lud ich sie zur Auftaktveranstaltung einer neuen Lesereihe nach München ein, wo sie aus ihrem Erzählband „Flamingos“ las.

Inzwischen gibt es eine neue CD und einen neuen Gedichtband, allesamt dem Wechsel der Autorin zu Schöffling & Co. zu verdanken, und aus eben jenem Band „Dickicht“ stammt mein Lieblingsgedicht für diesen Beitrag. Es ist gewissermaßen ein Gedicht-Gedicht, ein Gedicht auf zweiter Stufe, und es spielt zwischen der ersten und letzten Strophe eines der Paradethemen in „Dickicht“, „streumen“, eigentlich in allen von Ulrikes Gedichten durch: den Versuch, über sich selbst zu sprechen, eine Verbindung zu einem Gegenüber herzustellen und diese Synthese des Wir zur Sprache zu bringen.

Aber noch einmal zurück zum Anfang: Das qua Imperativ aufgerufene lyrische Ich – „schreib auf, was wir hatten.“ – setzt sich in Bewegung und beginnt zu schreiben. Es ruft eine Zeit in Erinnerung, drei bis vier Wochen, ersatzweise die Zeitspanne von ein, zwei Gedichten. Dann setzt die Erinnerung ein: Ein behütetes Leben, sheltered life, hört man Erlend Øye im Hintergrund singen. Baumstämme aus Glas und Metall, wenig Sonne: Gut, verregneter Großstadtdschungel, das kennt man, das ist vertrautes Terrain. Dann aber eine Überraschung, es mag Idiosynkrasie, es mag eine Laune sein, das lyrische Ich will in den Zoo. Und hier ist man natürlich sofort im richtigen Setting. Keine Flamingos zwar, ein eher verträumtes Ensemble von Tieren steht dort begossen herum, die Stimmung hat irgendwie etwas von Dornröschenschlaf (mit Einhorn!). Mithin ein produktiver Schlaf: Vor diesem Hintergrund entsteht nämlich für das lyrische Ich die Vorstellung der Zweisamkeit sozusagen aus einer Minusrechnung erst neu: Das, was nicht da ist, definiert erst – uns.

Eine genauere Beobachtung verdienen an dieser Stelle die gerade noch so in Hörweite fliegenden Füchse, die ganz en passant einen Hinweis darauf aussenden, dass sich das lyrische Ich auf der Südhalbkugel, in Australien befindet. Folgerichtig steht dieses Gedicht in der Konstruktion von „Dickicht“ im zweiten Kapitel, das mit Süden überschrieben ist, und ist somit Teil einer durchaus romantisch imaginierten emotionalen Geografie, die auch „streumen“ bereits anklingen ließ: „Der Aufenthaltsort des Glücks liegt immer im Süden.“ Diese Vorstellung von, besser gesagt Faszination am Süden unterzieht Ulrike Almut Sandig in „Dickicht“ allerdings einer kritischen Revision: Der Band zerfällt in die zwei Hälften, die innere Kompassnadel zeigt auch „auf Norden, obwohl du nicht weißt, was dort liegt“ (so das Eröffnungsgedicht) und spiegelt auf diese Weise in sich ein Konzept, das auch im hier besprochenen Gedicht-Gedicht wieder auftaucht: Das Ich, das Du und die Sehnsucht dazwischen.

Fabian Thomas

In Fortsetzung der Neuer Wort Schatz Reihe von Gisela Trahms lesen Sie hier von nun an Neuer Wort Schatz 3, jede Woche eine Gedichtrezeption. Die Beiträge werden zusammengestellt von Carolin Callies und Yevgeniy Breyger.

Zur ersten Staffel von NWS geht‘s hier, zur zweiten Staffel hier, die aktuellen Texte finden Sie hier. Foto Marquardt: Katja Zimmermann..

Das Gedicht ist erschienen in: Ulrike Almut Sandig: Dickicht. Frankfurt: Verlag Schöffling & Co. 2011. 100 Seiten. 16,95 Euro. Foto Sandig: Privat.

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