Geschrieben am 18. Januar 2010 von für Litmag, Neuer Wort Schatz II

Neuer Wort Schatz II (17): Jan Skudlarek

Straßennamen

Jan Skudlarek

ausgang, zurück

Vorgestellt von Angela Sanmann

ausgang, zurück

grauberliner fensternächte, spaziergänge
in fleischwarmer luft & sporadisch
               auch landminen
im zinndunkel sie wachsen
     auf s-bahn-gleisen
          wie primeln & primzahlen, die
          es brüderlich zu teilen gilt.

schwer tragen wir an den macheten, mit denen sätze
            (ehemals endoparasiten)
zu verdaulichen happen gehackt werden
für so manches gegenüber
    & ab und zu bleibt wer zurück, ein sterbenswort;

     unsere seufzer sind ruinen
          in denen ein blindgewünschtes kind haust.

beim spazieren der sekundenschlaf;
     er löst sich von den dächern
     & die schuhe versinken bis zum hals
          in seinem schlick – zurück

in meiner wohnung liegen wir
          aufeinander im kies
bett, geben uns straßennamen
                 beim vögeln.

„spaziergänge in fleischwarmer luft & sporadisch / auch landminen“: Keine verträumten Großstadtflaneure streifen hier durch die nächtliche Berliner Luft, sondern hellhörige Gedanken-Gänger, ständig auf der Hut vor unvorhersehbaren Zwischenfällen. Der Spießrutenlauf, den Jan Skudlarek für sie entwirft, führt sie an die Abgründe und Untiefen ihrer eigenen Sprache. Und endet in der ‚Auslaufzone’ des heimischen Liebeslagers.

Die Szenerie dieser „grauberliner fensternächte“ ist in eine absurd anmutende Wirklichkeit eingebettet, in der die Regeln der Logik von den Regeln des sprachlichen Gleichklangs außer Kraft gesetzt werden: Im Ohr wird Botanisches und Mathematisches („primeln & primzahlen“) miteinander kurzgeschlossen und dadurch ihre Unteilbarkeit in Frage gestellt. Danach braucht man sich auch nicht mehr über die Macheten zu wundern, mit denen das lyrische Wir, ein sich entliebendes Liebespaar, ausgestattet ist. Schlägt sich dieses nun durch Berlins Straßen- und Schienennetze, so gebraucht es die Buschmesser weniger zum Überleben im Großstadtdschungel als zum Zerstückeln der eigenen Wörter und Sätze, um nicht an ihnen zu ersticken: „schwer tragen wir an den macheten, mit denen sätze (…) zu verdaulichen happen gehackt werden / für so manches gegenüber / & ab und zu bleibt wer zurück, ein sterbenswort“.

Skudlareks Leser wird Zeuge einer gewalttätigen Sprachtransformation: Gelten sprachliche Äußerungen zunächst als aggressive Schmarotzer („Endoparasiten“), die den Sprecher von innen heraus aufzehren und so jede Form der Verständigung verunmöglichen, so erleiden sie, einmal artikuliert, ein ähnliches Schicksal: Von Macheten kleingehackt, bleibt von ihnen nichts anderes übrig als das auf den Gedichttitel verweisende „sterbenswort“ „zurück“. Kursiv hervorgehoben, signalisiert das Wort das Ende des Spaziergangs, aber auch eine Wende im Zwiegespräch der Liebenden. Darüberhinaus impliziert es noch eine weitere, wiederum doppeldeutige Lesart, die ihm im Vers eine Art Scharnierfunktion zuweist. Einerseits lässt es sich lesen als „ab und zu bleibt wer zurück“: Das Gespräch zwischen den Liebenden bricht ab und lässt einen der beiden Dialogpartner ohne Antwort zurück. Oder man liest den Vers wie folgt: „zurück, ein sterbenswort“. In der menschlichen Sprache lässt sich nichts als die Schwundstufe ihrer selbst erkennen, ein sterbendes, ein absterbendes Gebilde.

Im nächsten Vers wird dieses sprachliche Residuum dann von „Seufzern“ abgelöst, die sich als unverstellter, nicht mehr sprachlich vermittelter Ausdruck der Resignation deuten lassen: „unsere seufzer sind ruinen / in denen ein blindgewünschtes kind haust“. Was mag das sein, ein blindgewünschtes Kind? Eines, das auf einen blinden, also unbedachten Wunsch der Eltern hin geboren wurde? Oder vielmehr ein Kind, das vor lauter (unerfüllten) Wünschen sein Augenlicht verloren hat? Dann würde die hier aufgerufene Figur des Kindes ihre ursprüngliche Funktion als Hoffnungsträger ad absurdum führen und ließe sich stattdessen als Verkörperung der absoluten, weil perspektivlosen Verzweiflung verstehen. Zwischen Pathos und narrativ anmutendem Parlando entspinnt Skudlareks Gedicht seine abgründige Reflexion über die eigene Sprache als einer zugleich zerstörenden und zerstörten – dies macht seine besondere Spannung und Originalität aus.

Die Ausweglosigkeit in der Kommunikationsfalle findet sich auch im Motiv des Sekundenschlafes in der vorletzten Strophe wieder, der die Spaziergänger überfällt und als unaufhaltsame Abwärtsbewegung inszeniert wird – von den Dächern hinab zu den Schuhen, die bis zum Rand in den Ablagerungen des Schlafes versinken. Dieses retardierende Moment zögert die Konfrontation zwischen den Liebenden nur noch einen weiteren Augenblick lang hinaus. Denn, nach Hause zurückgekehrt, finden sie sich, fremd und hilflos auf- und übereinanderliegend, im heimischen (Kies-)Bett wieder: “in meiner wohnung liegen wir/ aufeinander im kies/ bett, geben uns straßennamen/ beim vögeln”.

Auf der Zielgeraden des kommunikativen Spießrutenlaufes erweist sich dieses Lager als letzte Ausfahrt, quasi als ganz persönliche Notfallspur, auf die sich ausweichen lässt, wenn Worte nicht mehr helfen oder sogar alles nur noch schlimmer machen. Aus der erotisch aufgeladenen „fleischwarmen“ Luft des zweiten Verses ist bereits alle Hitze gewichen – es bleiben nichts als die kühlen, harten Kiesel, in denen man sich kaum mehr zu rühren, geschweige denn zu lieben vermag. Eine vertraute (Körper)-Sprache wird an diesem Ort nicht mehr stattfinden, der Liebesdialog weicht den Erinnerungsfetzen an die Großstadt: Statt zärtlicher Kose- oder weniger zärtlicher Tiernamen gibt man sich hier Straßennamen beim Vögeln; die eigene Sprache arbeitet sich an Zitaten und sprichwörtlichen Wendungen ab, filtert und stellt sie verfremdet wieder in den Raum. Hat sich das Zwiegespräch der Liebenden beim „ausgang“ ins nächtliche Berlin schrittweise selbst abgeschafft, so bleibt vom Liebesakt nicht viel mehr als seine sprachliche Verschiebung in die Tierwelt. Mit einem ironischen Augenzwinkern spiegelt sich hier die Verzweiflung über die heillos einsame Zweisamkeit beim „vögeln“. Sind sich die Liebenden zwar rein körperlich sehr nah, geradezu unüberwindlich nah, so finden sie in ihrer Sprachlosigkeit nicht mehr zueinander. Und doch ist es die Sprache selbst, die hier, im letzten Satz, eine Volte schlägt und die Aporie des von ihr eigens provozierten Unverstandenseins in einer grotesk-humorvollen Pointe über sich hinaushebt.

Angela Sanmann

Gedichte mit kritischer Neugier und Genuss zu lesen – das ist das Ziel der Reihe Neuer Wort Schatz II, die jede Woche einen zeitgenössischen Text vorstellt. Zusammengestellt wird sie von GISELA TRAHMS und DANIEL GRAF.

Zu Neuer Wort Schatz II (18): Ulrike Brügger

Zu Neuer Wort Schatz II (16): Jürgen Brôcan

Zur ersten Staffel von NWS geht‘s hier

Das Gedicht ist erschienen in:
Neue Rundschau 2009/4
S.Fischer Verlag. 192 Seiten. 12,00 Euro.