unverschämt
Monika Rinck
DIE, DIE ALLES HAT
Vorgestellt von Carsten Schwedes
DIE, DIE ALLES HAT
stift? du hast stift. ja, stift ich hab. l’amour und gott
ich hab und armbanduhr und windgewölb ich hab
und fenster auf. rast die schleusentaube, aufgespannte
taubenschlacht, die fencheltee, die schwarze platte
ausgemacht, die wohnungsbrand, aye, aye, verzehrt
mich nicht, die hose runter, wehrt sich nicht, wieso?
die ein- und ausbau, sich zu bessern oder schaden,
dann demselben, auf dessen besserung man aus ist,
wieder schaden, der schlüsselbund, der schlüssel
für die tür am haus verliert sich oder schließt sie nicht,
im neunzehnhunderter gefickt, hier visitenkarte,
meld dich nicht. der flüchtling überlebt das nicht,
an den flüchtling kann ich aber grad nicht denken,
eher dass taxifahrer kommt jetzt nicht, tote katzen,
das nicht meine autobahn, hab ja nicht mal führerschein,
wie, wo, was? verträgt es nicht, wer? sie! europa meint,
das merkt man nicht, eben, eben neuerlich ganz säuerlich.
helikopter nur für mich. grenzgebiet, ich weiß jetzt nicht.
der ausfall moderiert sich nicht, schlafengehn zu früh
für mich. die, die hier, die schämt, die schämt sich nicht.
„stift? du hast stift. ja, stift ich hab.“ Na, dann kann’s ja losgehen mit der Inventur. Kam bei Eich, in der lyrischen Bestandsaufnahme der Nachkriegszeit, die Bleistiftmine erst gegen Ende vor, wirkt der Stift bei Rinck nachgerade archaisch-genügsam im Kontext des im Titel evozierten Überflusses. Das Prinzip der Vollständigkeit des Inventars kann unter solchen Umständen natürlich gleich mit drangegeben werden, wäre doch für „alles“ nicht mal in Mallarmés Livre genügend Platz.
Bescheiden wir uns zunächst also mit dem Stift, dessen sich das Ich im lakonischen Dialog zu Beginn erst einmal versichern muss. Bescheiden ist auch die Sprache, ganz im Stil des späten Jandl, wobei das unmittelbar folgende Wort „l’amour“ zusätzlich dessen „chanson“ anklingen lässt, diesen kleinen Gesang zwischen den Sprachen mit munterem Artikelwechsel. Die weiblichen Artikel vor „fencheltee“ oder „wohnungsbrand“ lassen ebenfalls an dieses Gedicht denken. Was nun folgt, ist keine bloβe Etüde über den Bedeutungswandel des Wortes „haben“ im Wechsel zwischen Voll- und Modalverb, vielmehr ruft Monika Rinck mit „l’amour“ und Gott gleich zwei ganz groβe Themen auf, die wegführen vom unmittelbar Fassbaren ins Abstrakte. Man fragt sich, wie eine Person die Liebe oder Gott haben kann.
Allmählich wandelt sich die Bestandsliste und geht in eine Ereignisliste über: Auf die modische Armbanduhr und das poetische „windgewölb“ folgt das geöffnete Fenster samt (herein-)rasender Schleusentaube. Die folgenden Satzfragmente werden zu Bausteinen, aus denen sich das Gehirn ein Handlungsgebäude mehr schlecht als recht errichtet, etwa wie folgt: Nach dem Teekochen hatte sie die Herdplatte zwar ausgemacht, trotzdem kam es zum Wohnungsbrand, bei dem sie jedoch keinen Schaden nahm. Die so notdürftig zusammengereimte Erzählung kippt dann wieder in eine Liebes- oder Sexgeschichte, die ebenfalls vage bleibt, allerdings das Feuer im Zimmer metaphorisch auflodern lässt. (Wer wehrt sich hier nicht? Handelt es sich immer um den gleichen Partner?)
Im Gegensatz zu der Fragment bleibenden Handlung fügen sich die schnellen Schnitte in ein rhythmisches Kontinuum, das den Leser mitreißt und dessen Sog reiche Binnenreime noch verstärken. Unterbrochen wird dieser kurzatmige Sprachstrom nur durch zwei längere Einschübe: „dann demselben, auf dessen besserung man aus ist, / wieder schaden“ und „an den flüchtling kann ich aber grad nicht denken“. Sie teilen das Gedicht in drei Abschnitte: Aus der Wohnung geht’s zum One-Car-Stand, immerhin der gehobenen Klasse mit Oldtimer und Visitenkarte, um schließlich auf der Autobahn oder im Hubschrauber einen noch weiteren Raum zu durchqueren. Wie zuvor auf der kleineren Ebene verbinden sich auch die drei großen Abschnitte nicht zu einem allumfassenden Sinnzusammenhang; über ihren Bezug zueinander lässt sich nur spekulieren.
Bei aller Bruchstückhaftigkeit entsteht trotzdem keine Frustration aufgrund fehlender Kohärenz, denn sporadisch eingestreute Wörter mit hohem Wallungswert (meist Substantive, das Gedicht kommt fast ohne Adjektive aus) bieten assoziative Nahrung für den reizhungrigen Leser. „die hose runter“ und „im neuzehnhunderter gefickt“ deuten ins pralle Sexualleben, ein politisches Wortfeld dagegen eröffnen die Substantive „flüchtling“, „europa“ und „grenzgebiet“. Dass Europa hier personifiziert und zur einzigen eindeutig identifizierbaren Sprecherin wird, verleiht der gesellschaftlichen Dimension des Gedichts zusätzliches Gewicht. Europa erscheint als „die, die alles hat“, das Nebeneinander von Flüchtlingsdrama und Leichtlebigkeit aber nicht verträgt.
Jedoch funktionieren die von Monika Rinck gewählten Wörter auf mehreren Sinnebenen; so steht der Flüchtling eben auch im Kontext der – wie auch immer sich gestaltenden – Zweierbeziehung. Der nicht fixierte (und nicht fixierbare?) Handlungsrahmen eröffnet einen weiten Assoziationsraum.
So bleibt letztlich auch das Bild der Frau, die „alles hat“, ohne scharfe Konturen. Selbst der verbale Zeigefinger, das mehrfach wiederholte „die“ in der letzten Zeile, nutzt da wenig. Im Sprung in die dritte Person wird freilich nicht nur der Anschluss an den Gedichttitel hergestellt, sondern auch ein Sprung aus der Figuren- zurück auf die Kommentarebene vollzogen. Die, die alles hat, schämt sich auch nicht. Keine moralische Wertung der turbulenten Ereignisse, vielmehr das Konstatieren einer Einstellung. Oder ist da doch noch etwas anderes? Wie fing noch gleich das Gedicht an? Mit dem Wort „stift“? Da steht das Fenster einer Deutung auf Metaebene weit offen …
Carsten Schwedes
Gedichte mit kritischer Neugier und Genuss zu lesen – das ist das Ziel der Reihe Neuer Wort Schatz II, die jede Woche einen zeitgenössischen Text vorstellt. Zusammengestellt wird sie von GISELA TRAHMS und DANIEL GRAF.
Zu Neuer Wort Schatz II (26): Luise Boege
Zu Neuer Wort Schatz II (24): Thomas Böhme
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Monika Rinck: Helle Verwirrung. Rincks Ding- und Tierleben. Gedichte/Texte und Zeichnungen. kookbooks 2009, Reihe Lyrik. Herausgegeben von Daniela Seel, Band 14. 53 Zeichnungen von Monika Rinck. 2 Buchblöcke im Schuber. 200 Seiten. 24.90 Euro. Bild © Timm Kölln
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