daneben
Thomas Kunst
Wenn Gott in meinem Tagebuch…
Vorgestellt von Jan Kuhlbrodt
Wenn Gott in meinem Tagebuch…
WENN GOTT IN MEINEM TAGEBUCH AUF SEINE
Gedichte stößt, dann würde er mich schonen.
Ich dürfte eine Weile bei ihm wohnen,
In einem Werk am Fluß, wo Wolken keine
Funktionen hätten, nur so blöde treiben
Nach Malerei aussehen und nach Därmen.
Ich würde jetzt mit dir vom Saufen schwärmen
Und davon, daß wir ziemlich friedlich bleiben.
Der erste Arztbesuch in meinem Leben,
Der wäre erst viel später, nach dem Sterben.
Ich würde auch nach Wochen noch nicht stinken.
Die Lichter auf der Welt sind voll daneben.
Die Kinder sollen meine Asche färben.
Es war nur ein Versehen, nichts zu trinken.
(für Jörg Fauser)
Thomas Kunst hat im letzten Jahr einen Band Sonette vorgelegt. Keine formalen Salti. Keine inhaltlichen Grenzüberschreitungen. Keine Revolution in der Form, und gerade deshalb ein Salto Mortale. Flic Flac gestreckt eingedreht, rückwärts über die Stange und stehen. Mann o Mann.
Das Sonett sei geleistet, schreibt Thomas Kling, es ist mir zitiert worden und jedesmal, wenn ich denke, ich sollte ein Sonett schreiben, fällt mir zum Glück dieser Satz ein und dass Kling recht haben mag. Dann pfeife ich auf Jamben, die acht plus sechs Verse und gehe ein Bier trinken oder mit meinen Töchtern auf den Spielplatz, nehme mir einen Band Petrarca mit und die Auswahl deutscher Sonette, die natürlich „Reines Ebenmaß der Gegensätze“ heißt und die so schön ist, weil die Kling-Sonette von Voß drin sind. Also Sonette, die schon zweihundert Jahre vor Kling behaupten, dass das Sonett geleistet sei, und es fast auch beweisen. Dann kommt Becher und man fragt gar nicht mehr nach einem Beweis.
Aber ein Satz wie der von Kling muss einen Haken haben. Denn „die Lichter auf der Welt sind voll daneben“, alles, was unmittelbar einleuchtet, muss also schief sein. Und was heißt eigentlich ‚geleistet‘? Dass niemand je noch eines leisten könne? Oder dass Sonette schreiben etwas ist, das dem Abzeichnen von Gipsabgüssen in der Kunstakademie gleichkommt? Eine Etüde für Studenten, an der sie scheitern müssen, weil die Meisterschaft unwiederbringlich in der Vergangenheit liegt?
Wohl ist es so, zumindest wenn ich meine eigenen geheimen Leistungen im Fach Sonett betrachte. Die setzen der Form nicht zu, nur mir.
Unmöglich zu schreiben: „Wenn Gott in meinen Tagebüchern/ auf seine Gedichte stößt,…“ Aber Kunst schreibt das hin, und dafür liebe ich ihn. Und dann ist auch das Sonett ganz neu. Denn was Gott denkt, ist einzigartig und war nie vorher, zumindest noch nicht so. Jedenfalls stelle ich es mir so vor, denn im Anfang war ja das Wort. Und es wird in jenem Moment, da er es denkt. Wenn er Eidechse sagt, wird Eidechse, wenn er Sonett denkt, wird Sonett. Und zwar jeweils zum ersten Mal.
Nun will ich Thomas Kunst nicht zu Gott erklären; das wäre erstens Blasphemie und würde zweitens dem Autor den Reiz seines Menschseins verwischen und alles, was damit zusammenhängt: die Melancholie, das cholerische Aufbrausen, das Verstummen, den Pfiff. Denn Thomas Kunst schöpft aus Erfahrung. Seine Traurigkeiten sind nicht angedichtet, sondern durchlebt. Man zeige mir eine Zeile in seinem Werk, die böse klingt, es aber nicht ist. Das muss man erst einmal aushalten. Auch den Tod und die Erfahrung der Abwesenheit eines Vertrauten. Thomas Kunst ist nicht Gott, macht sich aber zu seinem Agenten und schreibt dessen Sonette als die eigenen, und er widmet dieses eine dem vor zwanzig Jahren verstorbenen Kollegen Jörg Fauser. „Ich würde jetzt mit dir vom Saufen schwärmen“
Gottes Tod ist vorübergehend, Fausers aber definitiv. Und was da offen bleibt nach dem Sterben und konjunktivisch, scheint das zu sein, was dem Toten zu einer dauernden Anwesenheit verhilft. Weil der Tod eben genauso undefinierbar ist wie die Wolken und ebenso da. Und weil das Leben nie geleistet sein wird.
Gerade das Sonett scheint mir die Form, in der das spürbar wird, weil es als Form sich selbst überlebt hat und also gar nicht mehr geschrieben werden dürfte und dennoch, auch heute noch, existiert. In diesem Widerspruch gleicht es dem Tod, weil etwas offen bleibt und weiterwirkt, gegen alle sogenannten endgültigen Tatsachen.
Deshalb nehme ich mir Kunsts Sonettenband Estemaga jetzt auch mit in die Kneipe oder auf den Spielplatz, wegen der scheinbar antiquierten Form seiner Texte, die mich die Dinge neu sehen lässt und die Verlustangst lindert, die mit der Schönheit der Welt in unmittelbaren Zusammenhang steht. Ja, so pathetisch bin ich zuweilen beim Lesen von Sonetten, und das ist gut so.
Jan Kuhlbrodt
Gedichte mit Neugier und Genuss zu lesen – das ist das Ziel der Reihe Neuer Wort Schatz II, die jede Woche einen zeitgenössischen Text vorstellt. Zusammengestellt wird sie von GISELA TRAHMS und DANIEL GRAF.
Zu Neuer Wort Schatz II (7): Timo Berger
Zu Neuer Wort Schatz II (5): Elke Erb
Zur ersten Staffel von NWS geht‘s hier

Das Gedicht ist erschienen in:
Thomas Kunst
Estemaga
Edition Rugerup 2008
Thomas Kunst im Poetenladen.