Erzählkunst, die bleibt: Peter Kurzecks Buch ohne Text
Am 9. März werden in Köln die Deutschen Hörbuch – Preise verliehen. Oscar – Atmosphäre wird allerdings nicht aufkommen: die sieben Preisträger, gewählt von einer Fach-Jury aus einer shortlist von 21 Titeln, stehen längst fest. Das erstaunlichste und bezauberndste Hörbuch des Jahres 2007, „Ein Sommer, der bleibt“, ist freilich nicht einmal in dieser zu finden. Taube Ohren der Juroren? Von Gisela Trahms
Was Ein Sommer, der bleibt einzigartig macht, verrät der Untertitel: „Peter Kurzeck erzählt das Dorf seiner Kindheit“. Das ist wörtlich zu nehmen: Peter Kurzeck, preisgekrönter Autor der kleinen Auflagen, liest keinen vorbereiteten Text, sondern spricht frei, erzählt. Eine Alltagskunst, wie es scheint, wir alle erzählen ja, aber wünschen meist rasch, das Erzählen der anderen möge aufhören. Dass einer uns in Bann schlägt mit seinen Geschichten, und gar mit Geschichten, die inhaltlich wenig Sensationelles zu bieten haben – da kann man Jahre warten, bis das einmal passiert. In Wirklichkeit ist das Erzählen ist eine so hohe Kunst, dass eben die meisten Leute (und Autoren besonders) lieber schreiben und das Geschriebene nachsprechen oder, noch besser, von einem professionellen Sprecher vorlesen lassen. Das Risiko der spontanen Formulierungen, des Fadenverlierens und sich Versprechens einzugehen, ist schon ein Tanz auf sehr hohem Seil. Peter Kurzeck gelingt er glänzend.
Er erzählt also „das Dorf seiner Kindheit“, und zwar im Mosaikverfahren. Aus vielen Einzelsteinchen entsteht ein offenes, bewegtes Bild. Staufenberg in Hessen heißt das Dorf, in das der dreijährige Kurzeck mit Mutter und Schwester nach der Flucht aus Böhmen kommt (der Vater ist noch in Kriegsgefangenschaft). Er ist ein Flüchtlingskind und bleibt es auch, aber Wehleidiges, Anklagendes, Sentimentales findet man hier nicht, genauso wenig wie Verklärendes, und schon das ist eine Rarität. Die einzelnen Episoden, jede mit einem Titel versehen („Die Kirche von innen auffressen“), stehen unverbunden nebeneinander, es wechseln Geschichten, Beschreibungen, Erinnerungen an besondere Ereignisse mit Erzählungen, die den Alltag zum Inhalt haben, das immer Wiederholte, also das Leben, wie es sich abspult, beispielsweise: „Das Licht im Dorf und die Vielfalt der Welt“. Und erzählt wird nicht von oder über, sondern so, dass aus den Episoden das Dorf und die versunkene Welt der frühen Nachkriegsjahre erstehen, die inzwischen exotischer sind als Borneos Urwald.
Peter Kurzeck hat alles, was ein Erzähler braucht
Man kann damals als Kind überall hingehen, überall spielen, weil es so gut wie keine Autos gibt, weil jeder jeden kennt. Man hat kein Geld, aber man geht weite Wege, zum Schwimmen in der Lahn etwa, oder im Winter, wenn man doch ein wenig Geld hat, zum Nachbardorf ins Kino, wo man nicht nur den Film bestaunen kann, sondern auch das kleine Mädchen aus wohlhabender Familie, das einen richtigen Mantel trägt. Dabei bedient sich Kurzeck filmischer Techniken: Detailaufnahmen (man höre einmal, wie er das Glas eines Fahrradrücklichts beschreibt!) wechseln mit Panoramen gleichsam aus dem Hubschrauber (wenn er ‚von oben‘ zusieht, wie aus allen Richtungen die Kinder über die Feldwege wandern, dem Kino entgegen).
Peter Kurzeck hat alles, was ein Erzähler braucht: eine warme, angenehme Stimme; eine Sprechweise, in der die Gegenden der Herkunft anklingen (die Art, wie er das Wort Chaussee ausspricht, wird man nie mehr vergessen), die klare Sicht, die die Komik entdeckt, aber auch die Grausamkeit, und den Überblick: Da er weiß, was er erzählen will, lässt er auch die spontanen Abschweifungen zu, die Geschichten am Wegrand, ohne sich in ihnen zu verlieren. Wiederholungen stören nicht, sie erhöhen eher das Wohlbehagen: auch der Zuhörer kennt sich schon aus und ahnt, was kommt. Und alle paar Minuten trifft einen eine weise oder zielgenaue Formulierung mitten ins Herz.
Vier Kassetten enthält das Hörbuch, die sich zu 290 Minuten addieren. Dass uns einer ansinnt, ihm zuhörend über fast fünf Stunden in seine Kindheit zu folgen und also fünf Stunden des eigenen Lebens zu schenken, scheint ein starkes Stück. Um es gleich zu sagen: Es ist ein starkes Stück, für das man dem supposé-Verlag dankbar sein muss, ein Stück Literatur, bereichernd und wunderbar.
Gisela Trahms